Nach EU-Referendum: Unmut in Nordirland nach Brexit wächst
Überstimmt: Nordirland will in der EU bleiben. Nun wächst nach dem Brexit-Votum der Unmut und die Furcht.
Im Sommer 1986 wanderte der irische Schriftsteller Colm Tóibín die Grenze zwischen Irland und Nordirland entlang, von Derry nach Newry. Eine Grenze, die noch bis 1998 militärisch gesichert wurde. Sein Reportagenband nannte er „Bad Blood“ – Böses Blut.
In den letzten 20 Jahren hat sich kaum irgendwo in Europa eine solche Einigung vollzogen wie hier. An der Südgrenze, wo Tóibín noch beidseitiges Misstrauen beschrieb, ist heute das nordirische Newry mit dem irischen Dundalk zu einer Konglomeration zusammengewachsen.
Nach der Brexit-Entscheidung herrscht besonders hier großer Unmut. Vor allem im Remain-Camp, den EU-Befürwortern, werden Stimmen laut, die befürchten, dass die „harte“ Grenze von damals wiederkommen könnte – mit Grenzposten, Zollkontrollen, Schranken. Wenn Großbritannien die EU formell verlässt, könnte die EU solche Kontrollen wieder einführen, aus Sicherheitsgründen oder für den Zoll, der den Handel zwischen einem Mitgliedstaat und einem Nichtmitglied kontrollieren müsste.
Brexit hat - kurzfristig - keine Auswirkungen
Theresa Villiers, britische Ministerin für Nordirland, sagt, das sei „nonsense“. Schon vor der EU habe es ein Abkommen zur Personenfreizügigkeit zwischen den beiden Ländern gegeben, die Common Travel Area. Auch der irische Premier Enda Kenny sagt, dass es zumindest kurzfristig keine Einschränkungen im Personen-, Waren- oder Dienstleistungsverkehr zwischen den Staaten geben solle. „Irland wird in den UK-EU-Verhandlungen darauf hinarbeiten, die Common Travel Area beizubehalten“, betont er. Irland werde sich außerdem dafür einsetzen, Zölle minimal zu halten.
Es geht aber in Nordirland um viel mehr als nur um Zölle oder Grenzen. Das Land hat sich seit den unruhigen Jahren der „Troubles“ erholt und mit Europa einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt. 55,8 Prozent der Nordiren haben Remain gewählt, über die Konfessionsgrenzen hinweg. „Sowohl Republikaner und Unionisten, Katholiken, Protestanten und Konfessionslose waren mehrheitlich für Remain“, sagt der Sinn-Féin-Abgeordnete Declan Kearney. Nur die Schotten sind deutlicher Pro-EU.
Die Erste Ministerin Nordirlands, die Unionistin Arlene Foster, bringt das in ein politisches Dilemma. „Wir haben für den Brexit geworben“, sagt sie. „Ich bin stolz, dass das Volk die Entscheidung getroffen hat.“ Sie steht nun zwischen ihrer Partei, die Pro-Brexit ist, und ihrer Bevölkerung, die Pro-Remain gewählt hat. „Cameron tritt zurück, weil er kein Land führen konnte, das den Austritt wählte“, sagt Steven Agney, nordirischer Grünen-Chef. „Kann Foster Nordirland repräsentieren, wenn es für den Verbleib gestimmt hat?“
Agrarsubventionen aus der EU würden wegfallen
Für Nordirland und seinen großen Nachbarn wird der Brexit aber mehr als nur politische Konsequenzen haben. Martin McGuiness, der nordirische Vizeminister, befürchtet „sehr tiefgreifende“ Konsequenzen. „Uns aus Europa herauszuzerren, wird zum Nachteil aller unserer Bürger sein. Schlecht für die Wirtschaft, den Handel, Investitionen und die Gesellschaft als Ganzes.“
Mehr als die Hälfte der Importe und Exporte Nordirlands gehen in die EU, Hauptexportgüter sind Produkte der chemisch-medizinischen Wirtschaft und Agrarprodukte. Erstere müssten sich nach einem Brexit für einen Export in die EU an deren Normen halten, ohne sie mitgestalten zu können. Vor allem könnte aber Letzteres stark unter dem Brexit leiden. Rund 320 Millionen Euro Agrarsubventionen erhält Nordirland pro Jahr von der EU. Die Leave-Kampagne hat bereits versprochen, einen britischen Agrarsubventionsmechanimus einzurichten, der die EU-Gelder ersetzen soll.
Große Anfrage nach irischen Pässen
Was der Austritt für Grenzgänger bedeutet, wird sich erst mit den Verhandlungen zeigen. 83000 Menschen aus anderen EU-Ländern leben in Nordirland, die Hälfte davon Iren. In Irland leben fast 300.000 Briten. Und das Interesse steigt. Das nordirische Ministerium für Auswärtiges sowie die nordirische Post berichten nach dem Brexit-Votum über „ungewöhnlich viele“ Nachfragen nach den Voraussetzungen für einen irischen Pass. Auch Google teilte mit, es gebe deutlich mehr Suchanfragen zu „How to get an Irish Passport“ aus Großbritannien.
Für Vizeminister McGuiness ist jetzt ohnehin der perfekte Zeitpunkt, den Norden und Süden wiederzuvereinigen. Am Freitag forderte er ein Referendum zur Zusammenführung der beiden Staaten.