Roman "Nora Webster" von Colm Tóibín: Musik für meine Mutter
Die Selbstbehauptung einer Frau in der irischen Provinz der späten Sechziger: Colm Tóibíns Roman „Nora Webster“ erzählt von dem Leben seiner Mutter.
Viele Romane münden in ein dramatisches Finale. Colm Tóibín macht es andersherum. Bevor seiner beginnt, hat das Drama bereits stattgefunden: Nora Websters Mann ist tot, die Mittvierzigerin bleibt mit vier Kindern zurück. Auf knapp 400 Seiten werden die Nachwirkungen der Familienkatastrophe erzählt.
Ort der Handlung dieses Romans mit autobiografischem Hintergrund ist das provinzielle Irland der Sechziger, das Städtchen Enniscorthy. Der 1955 geborene Colm Tóibín, einer der renommiertesten Schriftsteller Irlands, ist hier aufgewachsen. Eine Witwe wird zum Beobachtungsfall für die moralisch rigide Kleinstadtgesellschaft: Trauert sie gehörig? Kann sie die vier Kinder allein erziehen? Ständig wird sie mit „Mitgefühl“ konfrontiert: „Es hatte etwas Hungriges, wie sie ihre Hand hielten oder ihr in die Augen sahen.“ Wer nun vermutet, dass dieser Roman auf die alte Klage über die stickige, kontrollsüchtige katholische Provinz hinauslaufe – so eindimensional erzählt Tóibín zum Glück nicht.
Seine eindringliche Darstellung des irischen Kleinstadtlebens ist zugleich eine erzählerische Liebeserklärung an die Welt, der er entstammt und zu der er in seinen Werken oft zurückkehrt. Auch dass Nora wieder Arbeit findet, verdankt sich den Kleinstadtverhältnissen. Man erinnert sich an sie. In diesem Fall: die Besitzer der Firma, für die sie gearbeitet hatte, bevor die Kinder geboren wurden. Die Aussicht, nun wieder ins Büro mit seinen Tratschereien und Rivalitäten zurückzumüssen, bedrückt sie allerdings: „Ihre Jahre der Freiheit waren vorbei, so einfach war das.“
Die Suche nach kleinen Freiräumen
Nora Webster ist keine Lichtgestalt der Emanzipation. Vielmehr geht Tóibín hinter den feministischen Diskurs und die Emanzipationsbegrifflichkeit zurück und kann gerade deshalb umso einfühlsamer die Selbstbehauptung einer Frau in der irischen Provinz der späten Sechziger schildern. Das Kennzeichnende und Faszinierende an der Nora-Webster-Figur ist ihre Suche nach kleinen Freiräumen. Für sich sein – danach verlangt es sie.
Melodramatik verweigert Tóibín. Der Alltag verzehrt Noras Lebensenergie; von Männern träumt sie nicht einmal. Als es doch zu einer einschneidenden Begegnung kommt, ist es eine ältliche Musiklehrerin, die Nora Gesangsstunden gibt und die Liebe zur klassischen Musik in ihr weckt. Bald ist Nora Mitglied einer kleinen Grammofon-Gesellschaft von versprengten Bildungsbürgern, die sich zum Hören neuer Klassikplatten treffen. Man könnte sich bei dieser Vinyl-Gemeinde an Loriot-Szenen erinnert fühlen, wären die musikalischen Fachsimpeleien nicht rührend ernst beschrieben. Hier rückt die Außenwelt von Nora weg, nicht nur die Arbeit, sondern auch Familie und Kinder – all das „war irgendwie weniger substanziell als die klaren Töne des Cellos, die aus den Boxen kamen“.
Es brodelt in Nordirland
„Weniger substanziell“ – dieser Schwund wirkt sich auch auf die Art aus, wie Noras Umgang mit den Kindern geschildert wird. Sie sind präsent, werden aber kaum zu eigenständigen Figuren, mit Ausnahme des Sohnes Donal, der am meisten unter dem Tod des Vaters leidet. Sein Stottern hat aber offenbar ebenso viel damit zu tun, dass Nora ihn und seinen Bruder in jenen Monaten, als der Vater qualvoll starb, bei einer Tante auf dem Land unterbrachte – und sich nie bei ihnen meldete. In seiner Erzählung „Eins minus eins“ hat Tóibín beschrieben, wie er als Zehnjähriger mit seinem jüngeren Bruder längere Zeit bei einer Tante wohnen musste. Sein Vater war todkrank – und die Mutter verhielt sich wie Nora Webster. Diese Kälte sorgte dafür, dass sich der Sohn von ihr entfremdete und verschlossener wurde. Er entwickelte sich zu einem scharfen Beobachter von Müttern. „Väter und Söhne“ ist ein Klassiker, eine viel erprobte Thematik. In Tóibíns Werken aber geht es um Mütter und Söhne, und es sind Urszenen der Verlassenheit, die der Autor in der Grundkonstellation seines Erzählens durchspielt.
Unterdessen brodelt es in Nordirland. Die Fernsehbilder von englischen Polizisten, die irische Demonstranten niederknüppeln oder -schießen, beschäftigen auch die Menschen in der Provinz. Allerorten wird um 1970 der Aufstand gegen Autoritäten geprobt. Nora tritt in die Gewerkschaft ein; zuverlässig reagiert ihr Chef mit einem Wutausbruch. Und sie protestiert gegen Lehrerwillkür. Als ihr Sohn Conor in der Schule herabgestuft wird, schreibt sie einen geharnischten Brief und droht mit Schulblockade und Witwenflüchen, was im katholischen Milieu Eindruck macht.
Besonders die zweite Hälfte des Romans ist eindringlich
Auf hintergründige Art ist „Nora Webster“ aber auch ein Liebesroman. Die Ehe mit Maurice muss überdurchschnittlich gut gewesen sein. Das vermittelt der Roman, auch ohne Szenen einer gelungenen Ehe in längeren Rückblicken. Der Abwesende soll erzählerisch abwesend bleiben und nicht als Romanfigur auf einer anderen Zeitebene gleichsam reanimiert werden. So erscheint die Lücke, die der Tod gerissen hat, massiver. Erst am Ende hat Maurice einen kleinen, surrealen Auftritt.
Womöglich ist es der autobiografische Hintergrund bei diesem Porträt der eigenen Mutter, der dem großen Erzähler Colm Tóibín bisweilen ein wenig die Zügel aus der Hand gleiten lässt. Der Roman leidet vor allem in der ersten Hälfte unter einigen Längen und schwächeren Passagen. Dann aber – und je mehr Nora ihren Trauerschock überwindet und zur handelnden Figur wird – setzt sich die Qualität von Tóibíns eindringlicher Erzählweise durch. „Nora Webster“ ist ein weiteres Beispiel für seine große Kunst der Frauendarstellung.
Colm Tóibín: Nora Webster. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2016, 383 S., 26 Euro