Simon Breitfuss Kammerlander: Er ist Ski-Profi, er ist langsam - und gibt nicht auf
Jamaika hatte eine Bobmannschaft, Bolivien hat einen Skirennläufer. Bei der WM in Schweden ist Simon Breitfuss Kammerlander fast chancenlos. Doch er kämpft.
Neulich hatte einer Angst um ihn. In Kitzbühel war das, auf der Streif, beim gefährlichsten Abfahrtsrennen der Welt. Da kam dieser Mann und riet ihm, auf den Start zu verzichten, es sei zu riskant für einen wie ihn. Ja spinnt denn der, hat er sich gedacht. Am nächsten Tag stand er im Starthaus. Schob an, raste den Steilhang hinab, über den legendären Sprung, den die Kitzbüheler Mausefalle nennen und der schon Skifahrer ins Koma katapultierte. Er fuhr über den Seidlalmsprung, die Hausbergkante und durch die vereiste Traverse. Er gab alles und bremste erst im Ziel. Blickte auf die Anzeigetafel.
48. Platz, stand dort. Letzter. Elf Sekunden Rückstand auf den Sieger.
Simon Breitfuss Kammerlander ist Bolivianer. Lange Geschichte. Wichtiger: Er ist Skirennfahrer, fährt in der Eliteklasse seines Sports, dem Weltcup, gegen Stars wie Marcel Hirscher, Felix Neureuther und Aksel Lund Svindal. 13-mal stand er in dieser Saison am Start. Neunmal erreichte er die Ziellinie nicht, dreimal wurde er Letzter, einmal Drittletzter. „So schnell verliert der nicht die Lust“, sagt sein Vater.
Er hat es noch nie geschafft
Vier Tage nach der Abfahrt von Kitzbühel liegt Breitfuss Kammerlander – 1,85 Meter groß, 85 Kilogramm schwer, die langen Haare auf dem Kopf zu einer Palme gebunden – auf einem Hotelbett in Mandling, einem Dorf im Salzburger Land. Um ihn stehen Skier, Skischuhe, auf dem Boden verteilt liegen Sportshirts, Trinkflaschen, Skiwachspackungen. Es riecht nach dem Schweiß schwerer Arbeit. Hier wohnt ein Athlet.
Ein paar Kilometer weiter steigt morgen Abend der Nachtslalom von Schladming. 45 000 Zuschauer werden erwartet, Pyrotechnik, „Hulapalu“ von Andreas Gabalier wird aus den Boxen schallen, der österreichische Bundespräsident kommt. Breitfuss Kammerlander hat Startnummer 75. Hinter ihm starten noch ein Argentinier, ein Däne, ein Pole, ein Luxemburger und ein Mann aus Osttimor. Wenn alles kommt, wie es häufig kommt, sieht Breitfuss Kammerlander morgen das Ziel gar nicht oder landet auf einem der hinteren Plätze. Wahrscheinlich darf er nicht einmal im zweiten Durchgang antreten. Dort fahren nur die 30 besten Läufer aus dem ersten. Er hat es noch nie geschafft, sich für den zweiten zu qualifizieren. „Ich fühl’ mich gut“, sagt Breitfuss Kammerlander und setzt sich im Bett auf.
Woher kommt der Mut?
Mut ist, den Möglichkeiten mehr Glauben zu schenken als dem Erlebten. Erlebt hat Simon Breitfuss Kammerlander im Ski-Weltcup vor allem Niederlagen. Die Möglichkeit, dass er gewinnt, ist klein. Woher kommt der Mut?
Simon ist zwei, da stellt sein Vater Rainer ihn zum ersten Mal auf die Bretter. In St. Leonhard im Pitztal, das liegt in Tirol. Bald startet er bei seinen ersten Skirennen, arbeitet sich hoch, mit 16 fährt er international, dritte Liga. Sein Trainer ist sein Vater. Simon fährt schnell, das schon, ein talentierter Junge, aber kein Ausnahmekönner. In Österreich, wo das nationale Glücksbarometer empfindlich auf den Ausgang von Skirennen reagiert, und daher Hunderte Kinder eines Jahrgangs sich den Traum teilen, Profi zu werden, reicht es nicht. Er verliert das Skifahren aus den Augen, schließt die Schule ab und bewirbt sich für ein Sportstudium in La Paz, Bolivien.
Dort passiert etwas Merkwürdiges.
In Österreich hatte er keine Chance
420 Mal im Jahr finden in La Paz Straßenfeste statt. „Es ist fast schwieriger, nicht bei einer Fiesta zu landen“, sagt Breitfuss Kammerlander. Bei seiner ersten begegnet er einem Mann, der ihn anspricht, weil er fremd aussieht. Sie unterhalten sich, der Mann sagt, er sei vom bolivianischen Skiverband. „Und ich bin der Simon und fahr gern Ski“, sagt der Simon.
In La Paz treffen sich durch Zufall Angebot und Nachfrage. Der Verband sucht einen Skiläufer. Breitfuss Kammerlander sucht eine Eintrittskarte zu Weltcupskirennen. In Österreich hatte er keine Chance, in Bolivien gibt es außer ihm niemanden. Einziges Problem: Er ist kein Bolivianer.
Er bleibt im Land, klettert manchmal auf den 5390 Meter hohen Charquini in den Anden. Es gibt zwar keinen Skilift in Bolivien, aber der Schnee dort oben bildet eine schöne Kruste, auf der Breitfuss Kammerlander ein paar Schwünge fährt. Mit professionellem Skitraining hat das wenig zu tun, das geht nur in Argentinien oder Chile. Zukünftig hält er sich lieber fit, studiert – und wartet. Nach drei Jahren bekommt er die Staatsbürgerschaft. Weil es in Bolivien üblich ist, zwei Nachnamen zu haben, den des Vaters und den der Mutter, hängt er das Kammerlander hinter das Breitfuss. Der Prozess, bis er eine Startlizenz vom Internationalen Skiverband bekommt, dauert weitere drei Jahre. Im Jahr sechs nach der Fiesta in La Paz darf sich Simon Breitfuss Kammerlander bolivianischer Skirennläufer nennen. Er ist da bereits 24. Andere geben in diesem Alter auf, weil sie keine Hoffnung mehr haben. Er beginnt jetzt.
Seine ersten Skirennen fährt er in Argentinien
Im Hotelzimmer in Mandling, 18 Stunden bis zum Start des Slaloms, sucht er nach einer Erklärung für seine Leidenschaft. „Das ist so meine Art: Wenn ich sag’, jetzt mach’ ich das, dann mach’ ich das.“
Seine ersten Skirennen fährt er damals in Argentinien. Er kauft sich einen alten Lada Niva und legt 15 000 Kilometer in fünf Wochen zurück, von Wettkampf zu Wettkampf. Mitten in der Atacama-Wüste wechselt er das Öl, auf dem Beifahrersitz auch damals sein Vater. Die ersten Wettkämpfe in Europa fährt er in Norwegen, in Hemsedal. Er erreicht das Ziel als 80. beim Riesenslalom, bei einem Schwung schmerzt das Knie. Der Arzt sagt ihm, er habe sich den Meniskus umgestülpt. Als es gerade losgehen soll, muss Breitfuss Kammerlander erst mal wieder Pause machen. Ein Jahr später tritt er bei seinem ersten Weltcup in Sölden an. Er wird Viertletzter.
Fünf Stunden bis zum Start in Schladming. Breitfuss Kammerlander hat gut geschlafen, Vater Rainer hat die Skier gewachst und geschliffen, jetzt stehen sie beide am Trainingshang, Simon will zwei Probefahrten absolvieren. Er trägt seinen grüngelben Rennanzug, den er selbst entworfen hat, dazu den grünen Helm und seine Slalomskier von Völkl. Die machten ihm in den bisherigen Wettkämpfen ein bisschen zu schaffen. Weil er die Marke erst seit diesem Jahr fährt, hat er die perfekte Abstimmung zwischen Ski und Schuh noch nicht gefunden. „Das Setup passte nicht zu 100 Prozent“, sagt Rainer. Er hat die Idee, die Kanten noch schärfer zu schleifen, der Ski beißt jetzt schon in den Schnee, wenn Simon nur leicht kantet, das sorgt für Grip, also für mehr Halt. Das fehlende Detail?
Wie sollen sie mit den Besten mithalten?
Um bei Skirennen Erfolg zu haben, müssen viele Faktoren stimmen. Talent spielt eine große Rolle, Technik, Fitness, Ausrüstung, Ernährung, Tagesform, Psyche des Athleten. Skisport verzeiht keine Fehler, die Uhr läuft. Wer ganz vorn landen will, muss alle externen Störquellen eliminieren. Darum reisen Profis wie der Österreicher Marcel Hirscher mit einem ganzen Team an, einer kümmert sich um den Winkel der Stahlkanten an den Skiern, ein anderer um die richtige Härte der Skischuhe. Hirscher fliegt im Privatjet zu Skirennen, um sich lange Autofahrten zu sparen und ausgeschlafener zu sein, er wohnt in den besten Hotels, hat einen Koch und einen eigenen Physiotherapeuten.
Simon hat vor allem Papa Rainer, der Kanten schleift, Videos dreht von seinen Fahrten, analysiert, Sponsoren auftreibt, das Auto fährt und seinen Sohn vor den Rennen motiviert. Zusammen sind sie in der ersten Saison mit dem Wohnmobil von Land zu Land gereist, um sich die Hotelkosten zu sparen. Eine Saison koste ihn etwa 150 000 Euro, sagt Simon. Nur einen Teil dieser Summe übernehmen Sponsoren.
Zuerst haben sie gekocht, dann die Töpfe weggeräumt und das Skiwachs rausgeholt. Als sie bei den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr die Skimarke Atomic baten, ihnen bessere Abfahrtsski zur Verfügung zu stellen, sagte der Ausrüster, er habe keine übrig – dabei hätten 17 Paar in einer Garage im Zielraum gestanden, erzählt Rainer. Wenn die Breitfuss Kammerlanders ein Problem beseitigt haben, wartet das nächste. Im Super-G von Kitzbühel ging der Ski kaputt. Beim Far East Cup in China hat sich Simon vier Sehnen im Rücken gerissen. „Aber das hält uns nicht ab, das stärkt uns nur“, sagt der Vater. Vor Olympia fiel Rainer beim Schneeschaufeln vom Dach. Im Fernseher sah er, wie sein Sohn die bolivianische Flagge ins Stadion trug. Wie sollen sie mit den Besten mithalten?
„Uns egal, was die anderen machen“
Rainer Breitfuss steht unten im Ziel, Simon oben am Trainingshang. Rainer hält die Videokamera drauf, durch das Objektiv beobachtet er, wie sein Sohn die Schnallen an den Skischuhen schließt und einen soliden Lauf fährt. Rainer lächelt, ein kleiner Mann mit sehr freundlichen Fältchen rund um die Augen. Einer, der die Aufgaben von drei Menschen übernimmt, der ziemlich überlastet sein müsste. Gerade bereitet er schon die nächste Woche vor, da fahren sie nach Garmisch-Partenkirchen, zwei Tage nach dem Slalom steht dort die Abfahrt an. So ein Pensum leistet im Skizirkus sonst niemand. Marcel Hirscher fährt nur Slalom und Riesenslalom, gerade junge Athleten konzentrieren sich oft auf eine Disziplin. Simon und Rainer bleibt im Winter kaum Zeit zu trainieren, es stehen immer schon die nächsten Rennen an. „Uns egal, was die anderen machen“, sagt Rainer. Ob einem der Name Franz Hoppichler was sage? Pionier des Skilaufs, vom Arlberg, uralte Schule. Der habe an die Ausbildung zum kompletten Skifahrer geglaubt. Rainer sieht seinen Simon in der Tradition Hoppichlers.
Wer Vater und Sohn eine Weile begleitet, den kann das Gefühl beschleichen, eine aussichtslose Mission zu beobachten. Man beginnt, sich zu fragen, ob da zwei blind geworden sind für die Schwierigkeit ihres Unterfangens. Nicht, weil Simon zu schlecht wäre. Er ist ein fantastischer Skifahrer, würde jeden Hobbyläufer deklassieren. Nur ist das Niveau im Weltcup so hoch. Nur haben die anderen das Geld und das Material, die Trainer und die Hotels. Gut, könnte man sagen, Dabei sein ist alles. „Du kannst mich auch mal, es geht um Leistung!“, sagt Simon.
Heute geht was
Beim Training vier Stunden vor dem Rennen strahlt er. Der Ski greift schneller, er hat das Gefühl, eine sehr enge Linie fahren zu können. Die Piste wird hart bleiben im Rennen, prophezeit Rainer, also auch für Startnummer 75 noch schnell zu befahren sein. Simon freut sich. Heute geht was.
Zwei Stunden vor dem Start trifft er unten am Rennhang ein und macht sich daran, die Slalomstrecke zu besichtigen. Der Hang liegt gleißend hell im Flutlicht. 45 000 Zuschauer trinken Bier und tanzen zu Gabalier.
Eine Stunde vor seinem Start sieht Simon Breitfuss Kammerlander, wie Marcel Hirscher eine brutale Bestzeit in den Schnee zieht und Ski-Österreich ausflippt.
Eine halbe Stunde vor dem Start seines Sohnes bringt sich Rainer Breitfuss auf Hälfte des Hangs in Position, um ihn genauer beobachten zu können.
Zehn Minuten vor dem Start checkt Simon, ob noch Schnee unter seinen Skischuhen klebt, streift die Reste ab und klickt sich in seine Skier. Im Kopf fährt er ein letztes Mal den Slalom ab, er kennt jede Schlüsselstelle. Unten, im Zielraum, pilgern die Fans langsam zu den Bierständen, der Stadionsprecher kündigt einen Mann aus Osttimor an, manche johlen.
Weitermachen, riet ihm Marcel Hirscher
Um kurz vor sieben schiebt sich der schnellste Skirennläufer Boliviens aus dem Starthaus, er fährt einen sicheren ersten Schwung, einen schnellen zweiten, beim dritten greift sein Ski sehr hart in den Schnee, das neue Setup, es zieht ihm den linken Fuß nach innen, wodurch sein Ski das Tor auf der falschen Seite passiert, die Stange schlägt ihm zwischen die Beine. Eingefädelt, sagen Experten. Das bedeutet: Simon Breitfuss Kammerlander wird disqualifiziert.
Im Ziel zuckt er mit den Schultern. In Kitzbühel war er stinksauer nach seinem letzten Platz, heute nicht. Er ist sich sicher, dass es gepasst hätte. Konjunktiv, klar, aber wer weiß.
Neulich kam Marcel Hirscher auf ihn zu. Er sagte ihm, dass er ihn für seine Ausdauer bewundere. Er solle nur weitermachen, dann komme der Speed von alleine.
„Ich will zuerst mal unter die besten 30 kommen – aber irgendwann will ich ein Rennen gewinnen“, sagt Simon.
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