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Weiße Riesen. Wenn Lawinen in den Alpen herunterkommen, müssen Skifahrer gewappnet sein.
© Miro Kuzmanovic

Lawinen-Training in der Schweiz: Bretter, die den Tod bedeuten

90 Prozent aller Skifahrer verschulden ihre Lawine selbst. In der Schweiz kann man jetzt lernen, wie ein Airbag Leben rettet und was Gleit- von Nassschnee unterscheidet.

Zum Schluss eine Dummheit, eine ausgemachte Dummheit. Gegen jede Warnung. Weil man denkt, man habe die Natur im Griff, kenne das Risiko.

Es ist kurz nach vier, die Sonne ist gerade hinter den Schweizer Bergriesen verschwunden, im Tal leuchten schon die Laternen des Dorfs. Aber dazwischen liegt dieser Steilhang. Laub, so nennen ihn die Einheimischen, das stammt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet Lawinenhang. Man sollte hier also nicht stehen, nicht um diese Uhrzeit, schon gar nicht allein, man hatte geglaubt, hier sei noch jemand. Das ist wohl ein Gesetz der Berge: Ein Faktor verändert sich, und aus Sicherheit wird Gefahr.

Bei jedem Schwung staubt der Pulverschnee und streift die Wangen. Das Herz schlägt schnell, man zieht die Kurven länger, wie man das aus den Action-Videos kennt, in denen die Freerider die Bergflanken mit Highspeed bezwingen. Vergisst für einen Moment die Gefahr, weil einem der Körper leicht wird. Schaut dann nach links. Ein Riss im Hang, dahinter ein Abbruch. Auf einem Feld, so groß wie drei Fußballplätze, fehlt der Schnee. Er liegt hunderte Meter weiter unten, aufgetürmt zu einem Koloss aus Eisbrocken. Hier ist eben eine Lawine abgegangen.

Freeride-Paradies, nur möglichst ohne Tote

Ende Januar in Engelberg. Ein Bergdorf am Ende des Tals, 1000 Meter hoch gelegen, ringsum ragen die Gipfel auf. Wissigstock, Hahnen, Großer Spannort und natürlich der Titlis, 3239 Meter hoch, rund im Norden, schroff im Süden. Unterhalb des Gipfels beginnen die Pisten: wenige blaue, viele rote und schwarze und einige, die gar keine Pisten sind, sondern nur Hänge voller Tiefschnee. Dafür ist der Ort berühmt, deshalb kommen die Törichten aus der ganzen Welt. Deshalb ist man selbst hier: zwei Tage mit einem Bergführer, der das Wesen des Pulverschnees erläutern soll. Und das der Lawine.

Rund 2000 Menschen starben laut dem Schweizerischen Lawinenforschungsinstitut in den vergangenen 80 Jahren in Lawinen in der Schweiz, acht Tote zählt das Institut seit Oktober 2017. In Engelberg starb im November ein Skifahrer im Laub, als sich eine Lawine löste. Auch deshalb bietet das Engelberger Tourismusbüro jetzt Kurse an, sie heißen „Snow und Safety“ und sind für Übernachtungsgäste kostenlos. Es geht um Sicherheit und das Image des Skigebiets. Freeride-Paradies, nur möglichst ohne Tote.

Zwölf Lernwillige treffen sich an der Talstation der Titlis-Bahn und schauen auf Bergführer Samuel Speck wie auf einen Primarschullehrer. Viele Schweizer, ein Deutscher, zwei Amerikaner. Der Amerikaner sagt, dass er „pretty well“ Snowboarden könne. Speck lächelt. Er trägt eine türkisfarbene Hose und eine gelbe Jacke. Sonnenfältchen um die Augen, wacher Blick, er ist einer von zwölf Bergführern in Engelberg. Wenn er nicht Ski fährt, klettert er vereiste Wasserfälle hoch.

Am Montag blieben die Lifte stehen, zu gefährlich

Seit 2005 führt er Touristen durch die Alpen, erklärt in melodiösem Schweizerdeutsch, was er sieht und seine Gäste nicht. „Mängisch“, sagt Speck, das heißt manchmal, „mängisch weiß auch ich nicht alles“. Schweizer Zurückhaltung. Speck kennt jede Gletscherspalte, jeden Gipfel und jede Felswand. Er verbringt jeden Tag draußen, kann jedes Zucken der Natur deuten. „Seht ihr den welligen Schnee da drüben?“, fragt er und deutet auf eine Flanke gegenüber. „Das war der Westwind.“

Drei Tage lang hat es geschneit in Engelberg, von Samstagabend bis Montagnachmittag. 120 Zentimeter Neuschnee. Erst fiel er kalt und sanft, dann nass und schwer. Auf dem Titlis staute er sich sechs Meter hoch. Am Sonntagabend teilte das Lawinenforschungsinstitut mit, für Montag gelte die höchste Warnstufe 5. Das gab es zuletzt 1999. Am Montag blieben die Lifte stehen, zu gefährlich. Am Dienstag strahlte die Sonne. Pulverschnee und blauer Himmel.

Montagabend in der Ski Lodge, mitten im Dorf. Die Bar für alle Freerider, denen es neben dem Sport auch ein bisschen ums Gesehenwerden geht, gegründet von skiverrückten Schweden, die hier Burger anbieten, Gin und schnelles W-Lan. An der Wand hängt ein Bild der schwedischen Extremfreeriderin Matilda Rapaport. Ein Mann an der Bar erzählt seinem Kumpel gerade ihre Geschichte. Rapaport war Stammgast in der Ski Lodge, heiratete hier ihren Mann. Zwei Monate nach der Hochzeit starb sie beim Skifahren in Chile – eine Lawine begrub sie. Der Kumpel schaut betroffen, nimmt einen Schluck Bier, checkt Instagram. Zeigt seinem Freund eine mögliche Route für morgen, vorbei an Gletscherspalten. „Crazy perfect conditions“, sagt er. Absurd perfekte Bedingungen.

Der Airbag rettete ihn

Samuel Speck leitet Sicherheitskurse, in denen man das Verhatlen bei Lawinengefahr lernen kann.
Samuel Speck leitet Sicherheitskurse, in denen man das Verhatlen bei Lawinengefahr lernen kann.
© Marius Buhl

Blickt man Dienstagmorgen abwechselnd auf Bergführer Specks hochgezogene Augenbrauen und das Lawinenbulletin an der Talstation der Seilbahn, ist man sich nicht mehr so sicher. Eher crazy scary conditions. Zweimal täglich, pünktlich um 8 und um 17 Uhr, gibt das „WSL Institut für Schnee- und Lawinenforschung“ in Davos ein solches Bulletin heraus. Für den Lagebericht nehmen die Forscher Schneeproben, beurteilen den Aufbau der Schneedecke, die erwarteten Temperaturen und den Wind. Wichtigste Information des Bulletins: die Lawinengefahrenstufe.

Stufe 1 sei ungefährlich und gelte an jedem fünften Wintertag, sagt Bergführer Speck in der Gondel. Stufe 2 bedeute „mäßige Gefahr“ und gelte während der Hälfte aller Wintertage. Größere spontane Lawinen sind nicht zu erwarten, trotzdem empfiehlt sich eine vorsichtige Routenwahl. Stufe 3 sei tückisch, sagt Speck. Zwar warne das Institut vor leicht auslösbaren Lawinen in Steilhängen, dennoch fühlten sich viele Sportler sicher und gingen Risiken ein. Rund die Hälfte aller Lawinenopfer gäbe es bei Stufe 3 zu beklagen. Stufe 4 prognostiziert das Institut in Davos selten. Skifahrer sollten steile Hänge komplett meiden, Unerfahrene ohnehin auf den Pisten bleiben, lokal seien große Lawinen auch ohne menschliches Zutun möglich. Und Stufe 5, sagt Speck, sei die absolute Ausnahme. Drinnen bleiben ist angesagt, größte anzunehmende Gefahr – auch für Straßen, Häuser, Ortschaften.

Im Lawinenwinter 1999 galt Stufe 5, geholfen hat es nicht. Im Westtiroler Dörfchen Galtür überwalzte ein gigantisches Schneefeld von 400 Metern Breite den Ort, tötete 31 Menschen, im Nachbardorf Valzur starben sieben in einer Lawine, Straßen waren auf Tage unbefahrbar. Auch in Engelberg wurden gestern Menschen evakuiert. Passiert ist noch nichts.

„Wenn ich verschüttet bin, was macht ihr?“

Heute hat sich der Neuschnee gesetzt, das sei gut, sagt Speck, als er, oben angekommen, aus der Gondel ins Freie tritt und das Bulletin vorliest. „Einen Vierer haben wir“. Stufe 4, große Gefahr, immer noch. Aus der Gondel konnte man die Lawinenkegel schon sehen, an beinahe allen steilen Hängen rund ums Skigebiet gingen sie ab. Eine Felswand, doppelt so hoch wie der Berliner Fernsehturm, normalerweise schneefrei, war weiß vom herumgewirbelten Schnee, meterhohe Türme bildeten sich, darunter ging es in die Tiefe. „Sah aus wie in Alaska“, sagt Speck. Immer wieder hört man es hier oben laut knallen. Lawinen? „Künstliche Sprengungen! Die Bergrettung lässt Schneebretter unter Aufsicht ins Tal rauschen, damit diese niemanden überraschen.“

Speck prüft jetzt die Ausrüstung der Gruppe. Jeder trägt einen Rucksack, darin eine Schaufel und eine „Sonde“, einen langen, zusammengefalteten Stab, am Körper einen Lawinenpiepser. „Wenn ich verschüttet bin, was macht ihr?“, fragt Speck. Er schaut den amerikanischen Snowboarder an. Schweigen. „Mit dem Piepser ortet ihr mich, mit der Sonde stochert ihr nach mir, mit der Schaufel grabt ihr mich aus. Okay?“ Außerdem sitze an jedem Rucksack an der linken Armschlaufe ein roter Griff, erklärt Speck. Zieht man ihn, öffnet sich mit einem Knall der Airbag. Bei 90 Prozent aller Lawinenabgänge sorge der dafür, dass der fortgerissene Skifahrer an der Oberfläche bleibe.

Das Schneebrett schleuderte ihn 800 Meter weit ins Tal

Ein Engelberger Bergführer musste seinen Airbag vor ein paar Jahren ziehen. Er wollte gerade das Laub fahren, hatte sich umsichtig verhalten, ein paar Freerider weiter oben im Hang nicht. Sie warteten nicht bis der Bergführer unten wegfuhr, schossen hinein und lösten eine Lawine aus. Der Schnee stieb, der Bergführer hörte ein Rauschen, reflexhaft zog er am Airbag-Griff, da krachte das Schneebrett in ihn hinein und schleuderte ihn 800 Meter weit ins Tal. Wie in einer gigantischen Welle sei das gewesen, sagt er, er habe nicht mehr gewusst, wo oben oder unten war, eigentlich habe er gar nichts mehr gewusst, nur gehofft. Der Airbag rettete ihn. Die Freerider hauten ab.

Schreien bringt erstmal wenig

Attraktion des Ortes ist die höchste Hängebrücke Europas am Titlis.
Attraktion des Ortes ist die höchste Hängebrücke Europas am Titlis.
© imago/imagebroker

Mittelstation Stand, 2428 Meter über dem Meer. Höher geht es heute nicht, die Bergstation Titlis ist noch immer geschlossen wegen der Lawinengefahr. Hier unten, sagt Speck, sei es sicher, „wenn man sich an die Regeln hält.“ Er fährt voraus, ein paar Schwünge auf der Piste, die Ski kratzen laut übers Eis, dann biegt er ab. Weich und fluffig fühlt sich der Schnee neben der Piste an, die Ski gleiten lautlos hindurch. 30 Meter Abstand zum Vordermann ordnet der Bergführer an, das entlaste die Schneedecke, die nicht so leicht breche. Er verbietet Mulden, weil sich darin vom Wind verfrachteter Schnee sammelt, der leicht abrutscht. Außerdem steile Hänge. „Alles unter 30 Grad Hangneigung ist okay, da sind wir sicher.“ Er zeigt einen Trick, wie man mit dem Skistock die Hangneigung messen kann. Wenn Speck hält, dann immer auf kleinen Kuppen. „Tiefschneefahren ist Inselhopping“, sagt er. „Man fährt von einem sicheren Spot zum nächsten.“ Unten angekommen verabschiedet sich der Amerikaner. Theorie sei nicht so sein Ding, sagt er, er wolle lieber auf eigene Faust los.

Vor der Mittagspause der Einkehrschwung. Aber nicht etwa zum verfrühten Glühwein, Speck ist hier, um Theorie zu vermitteln. Fünf Arten von Lawinen unterscheide das Lawinenforschungsinstitut, sagt er. Für Freerider seien Schneebretter am gefährlichsten, sie forderten 90 Prozent der Opfer. Eine gebundene Schneeschicht rutscht dabei auf einer älteren Schicht weiter unten in der Schneedecke ab und gleitet als Brett ins Tal. 90 Prozent der Lawinenopfer lösten ihr Brett selbst aus, sagt Speck.

Beton ist gegen eine Nassschneelawine harmlos

Lockerschneelawinen hätten dagegen einen punktförmigen Anriss. Sie seien für Sportler ungefährlicher, da sie meist unterhalb des Skifahrers in geringerer Masse abgehen, besonders nach Schneefall. Die Monster seien Gleitschneelawinen, sagt Speck, für die Skifahrer jedoch nichts könnten. Dabei rutscht der gesamte Hang auf nassem, glatten Fels oder Gras ab und verschüttet ganze Dörfer.

Staublawinen seien dagegen die Geparden unter den Lawinen. Sie entwickeln sich, wenn ein Brett immer mehr Schnee mit sich reißt, diesen aufwirbelt, mit Luft vermengt und daraus eine rasende, bis zu 300 km/h schnelle Staubwolke wird.

Und schließlich gebe es noch die Nassschneelawinen, sagt Speck, die vor allem im Frühling entstünden, wenn es taue oder Regen falle. Wer in so einer Lawine begraben sei, könne sich nicht mehr rühren. „Beton ist dagegen harmlos.“ Speck schaut in die Runde. Die schaut ängstlich zurück. Alles klar?

Schreien, Überlegen, Notruf, das alles bringt wenig

Am Mittwoch hat sich der Schnee weiter gesetzt, das Lawinenbulletin verkündet Gefahrenstufe 3. Speck will das Ausbuddeln üben. Er hat etliche Lawinenpiepser versteckt, die Signale senden. Also schalten die Teilnehmer ihre eigenen Piepser in den Suchmodus und folgen den Anweisungen auf dem Display. Zehn Meter links, drei geradeaus, ausgraben. Eigentlich einfach.

„Mit jeder Minute, die ihr braucht, sinken die Überlebenschancen der Verschütteten“, sagt Speck. „Nach einer halben Stunde ist kaum noch jemand am Leben.“ Schreien, Überlegen, Notruf, das alles bringe erstmal wenig, sagt er. Wichtig sei es, die Leute zu finden. Das gelte es zu berücksichtigen, wenn er gleich zeige, warum Engelberg so berühmt ist.

Big 5, so nennt Speck die fünf berühmtesten Tiefschneevarianten: Galtiberg, Steinberg, Steintäli, Sulz und schließlich das Laub. Galtiberg und Steinberg sind heute viel zu gefährlich, Speck führt die Gruppe ins Steintäli und zum Sulz, federt voraus durch den Watteschnee. Immer wieder schüttelt er den Kopf, wenn er andere Skifahrer sieht, die sich nicht an die Regeln halten. Business as usual in Engelberg, abends werden sie Bilder von ihren Fahrten auf Instagram hochladen.

Jetzt aufhören? Auf keinen Fall

Speck führt zum Laub. Einer nach dem anderen fährt nun ab, schlängelt sich an Felsen vorbei, hält an, schnappt nach Luft, die Beine brennen. Beim Fahren kann man aufs Dorf schauen, den Blick schweifen lassen, in der Ferne glitzert der Vierwaldstätter See, dahinter hebt sich der Schwarzwald aus dem Dunst. Unten, nach 1000 Höhenmetern, wartet schon die Bedienung des Café Ritz. Rivella und Spaghetti Bolognese haben nie besser geschmeckt, die Sonne scheint, Speck verabschiedet sich. Genug für heute, er will seiner Tochter beim Eislaufen zusehen. Keine Dummheiten, warnt er zum Abschied.

Jetzt aufhören? Auf keinen Fall. Wer im Himmel war, will zurück. Also doch nochmal rauf, ein paar Fahrten auf der Piste, wie langweilig, mit dem letzten Lift nach ganz oben, unter der Absperrung durch, da ist es, das Laub, vertraut, man wird sich jetzt einfach einer Gruppe anschließen. Nur, dass da eben niemand mehr fährt, und die Sonne einem eisigen Wind gewichen ist. Wie dumm.

Das Laub runter, die Gefahr nahe, es war eine fixe Idee, die Gott sei Dank gut ausgeht. Im Tal drei Kreuze.

Reisetipps für Engelberg

Hinkommen

Mit dem Flugzeug nach Zürich, von dort mit dem Zug über Luzern nach Engelberg. Dauer: Eineinhalb Stunden Flug, zwei Stunden Fahrt mit dem Zug. Flugtickets ab 52 Euro mit Easyjet, Zugfahrt ab ca. 19 Euro bei der SBB

Unterkommen

Zum Beispiel im Alpenclub, mitten in der Engelberger Dorfstraße gelegen. Urige Zimmer, feines Cordon Bleu. Ein Doppelzimmer der einfachsten Kategorie kostet 164 Euro pro Nacht, inklusive Frühstück. alpenclub.ch

Rumkommen

Skifahren auf dem Titlis (56 Euro pro Tag), in Brunni (37 Euro) oder auf der Bannalp (26 Euro). Skitouren abseits gesicherter Pisten am besten mit einem Bergführer unternehmen, den man zum Beispiel bei Prime buchen kann (prime-engelberg.ch). Zum Freeriden empfiehlt Engelberg die Big 5 – Steintäli, Steinberg, Galtiberg, Laub und Sulz. Vorsicht, Galtiberg und Steinberg führen über Gletscher. Absturzgefahr. Essen in der Ski Lodge (skilodgeengelberg.com) oder in der Pizzeria Al Monastero (almonastero.ch).

Mehr Infos unter 00800 100 200 30 oder auf myswitzerland.com.

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