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Ein Mann mit Kippa steht vor der Neuen Synagoge in Berlin vor einer Menschenkette.
© Paul Zinken/dpa

Antisemitische Kriminalität: Ein systematisch unterschätztes Delikt

Die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland steigt. Aber die Statistiken geben nur wenig Aufschluss über die Motive der Täter.

Drohen, spucken, schlagen – jeden Tag toben sich Antisemiten in Deutschland aus. Auf den „Juden“ als Verursacher realer oder vermeintlicher Widrigkeiten können sich Männer und Frauen ziemlich ungleicher Milieus einigen: Neonazis, Islamisten, Verschwörungstheoretiker glauben, dass Juden hinter diesem oder jenem (vermeintlichen) Missstand stecken. Auf Berliner Schulhöfen ist „Jude!“ als Schimpfwort gängig. Es gibt Anschläge auf jüdische Einrichtungen, Gräber werden zerstört und israelfreundliche Funktionäre ausspioniert.

Valide Daten über Täter und Motive fehlen meist. Offiziell schreibt das Bundeskriminalamt für 2018: Die Fallzahlen sind im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, von 1799 antisemitisch motivierten Straftaten wurden 1603 als von Rechtsradikalen verübte Delikte bewertet; 102 Taten wurden unter „ausländische Ideologie“, weitere 52 als „religiös“ motiviert registriert. Dazu seien 14 Taten von Linken verübt, 28 Fälle gar nicht eingeordnet worden. Doch letztlich spekulieren die Ermittler über die Motive – zumal es sich oft um Sachbeschädigungen handelt, bei denen Zeugen fehlen. Der vom Bundestag eingesetzte „Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus“ hat im Auftrag der Bundesregierung 2017 einen Bericht vorgelegt. Darin heißt es, antisemitische Taten würden der „politisch motivierten Kriminalität Rechts“ zugeordnet, „wenn keine weiteren Spezifika erkennbar“ und „keine Tatverdächtigen“ bekannt sind.

Jeder vierte Deutsche denke antisemitisch

Klar ist: In Halle an der Saale versuchte vor einigen Wochen ein Neonazi, möglichst viele Juden zu töten. In Berlin-Pankow schlug vor einigen Tagen ein Antisemit zu, von dem Ermittler annehmen, dass er ein Deutscher aus der Nachbarschaft ist. Immer wieder aber melden sich Juden auch beim Tagesspiegel und berichten, sie seien von Männern bedroht worden, die sich als Araber und oft als Muslime zu erkennen gegeben hätten.

Im Oktober will ein Syrer mit einem Messer in der Hand in die Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eindringen, schreit „Allahu Akbar“. Im September wird ein Heranwachsender an der Warschauer Straße ins Gesicht geboxt, weil er sich auf Hebräisch unterhält – der Täter soll sich als Araber zu erkennen gegeben haben. Im August wird Rabbiner Yehuda Teichtal auf Arabisch beschimpft und bespuckt. Im Juli wird ein Mann in Berlin-Mitte verprügelt, weil er eine Kette mit Davidstern trägt – die Täter und das Opfer sollen aus Syrien stammen. Im Juni wird ein Jugendlicher am Bahnhof Zoo angegriffen, weil er auf dem Handy das Lied „Tel Aviv“ hört. Auch diese Angreifer geben sich als Araber zu erkennen und drohen dem Jugendlichen, ihm die Kehle durchzuschneiden.

In der Studie „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland“ der Universität Bielefeld von 2017 heißt es, Opfer antisemitischer Gewaltdelikte gaben zu 81 Prozent an, von „muslimischen Personen“ angegriffen worden zu sein, letztere sollen demnach auch für 62 Prozent der Beleidigungen oder Belästigungen verantwortlich gewesen sein.

In einer repräsentativen Umfrage der Anti-Defamation-League aus dem Jahr 2015 zeigten 16 Prozent der befragten Bundesbürger antisemitische Neigungen, unter Muslimen in Deutschland waren es demnach 56 Prozent. In einer Umfrage, die der Jüdische Weltkongress im Sommer dieses Jahres in Auftrag gegeben hatte, wurde festgestellt: Jeder vierte Deutsche denke antisemitisch.

Auch Beleidigungen müssen geahndet werden

An der vielfach wiederholten Aussage, 90 Prozent der antisemitischen Taten würden von Rechtsextremen begangen, zweifeln Mitglieder jüdischer Gemeinden, Lehrer und selbst Ermittler. Seit August hat Berlins Polizei einen Antisemitismusbeauftragten, Kriminaldirektor Wolfgang Pemp. Er sagt, tatsächlich sei es sinnvoll, die Kriterien zu überprüfen, nach denen die Tatmotive in den Statistiken vermerkt werden.

Doch selbst wenn bestimmte Fälle nicht pauschal der Kategorie „Rechts“ zugeordnet würden, bleibt vieles im Unklaren. Der erwähnte Expertenkreis schrieb für die Bundesregierung, man müsse mit einer „systematischen Unterschätzung antisemitischer Vorfälle“ rechnen. So werden nicht alle Taten angezeigt, und selbst wenn, bewegen sich etwa Schmähungen womöglich unter der Schwelle der Strafbarkeit. Das ist ein Grund dafür, dass Beobachtungsstellen mehr Vorfälle zählen als die Polizei: Im vergangenen Jahr registrierte Berlins Staatsschutz 324 antisemitische Straftaten und die „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin“ 1083 antisemitische Vorfälle.

Für beide Zählweisen aber gilt, das Opfer muss sich des antisemitischen Charakters der Tat bewusst sein. Ein Beispiel: Vor einigen Jahren schlägt an einer Schule in Berlin-Neukölln ein Kind ein anderes. Das nichtjüdische Opfer wird dabei immer wieder als „Jude“ beschimpft. Der Täter ist damals jünger als 14 Jahre, zur Anzeige kommt die Prügelei nicht. Vor allem aber fühlt sich das Opfer vom „Du Jude!“-Geschrei des Prüglers deshalb beleidigt, weil es „Juden“ selbst als schlecht begreift – im antisemitischen Impuls sind sich Täter und Opfer einig.

Vor einigen Tagen war Elan Carr in Berlin zu Besuch. Carr war in Los Angeles einst Staatsanwalt, nun ist er Sonderbeauftragter der US-Regierung für die Bekämpfung von Antisemitismus. Der Hass auf Juden sei ein „globales Phänomen“, sagte Carr, das in den USA wie in Europa zunehme. Und Carr macht Vorschläge: Die Justiz solle bei Straftaten, die einen „antisemitischen Beigeschmack“ haben, die Verfahren auch dann nicht einstellen, wenn die Schwere der Tat vergleichsweise gering sei. Auch eine Beleidigung müsse geahndet werden – und zwar am besten gleich zusammen mit einem aufklärerischen Versuch: Täter könnten zum Besuch einer Gedenkstätte, eines Museums, einer Aufklärungsveranstaltung verpflichtet werden.

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