„Du jüdisches Arschloch“: Wie Berliner Schüler alltäglichem Antisemitismus begegnen
Seit dem Halle-Attentat nimmt die Politik Antisemitismus ernster - doch Juden werden nahezu täglich bedroht. Zu Besuch im Jüdischen Gymnasium in Berlin.
Wenn er aus der Synagoge trete, sagt der Junge, setze er schnell die Kippa ab. Ihre Kette mit dem Davidstern, erzählt das Mädchen, habe sie in ihrer früheren Schule nicht getragen: Besser keinen Angriff provozieren – als Jüdin hätten ihre Mitschüler sie so schon oft genug gemobbt. Alle zwei Wochen, sagt schließlich der Direktor des Berliner Jüdischen Gymnasiums, kämen Jungen und Mädchen zu ihm, die aus ihren bisherigen Schulen fliehen, die des Mobbings, der Drohungen, des Alltagsantisemitismus’ überdrüssig seien.
Dienstag, ein Geschichtsleistungskurs im Jüdischen Gymnasium im Scheunenviertel. Zehn Jungen, ein Mädchen, Juden, einige Nichtjuden sitzen im Klassenraum unter dem Dach des alten Baus in der Großen Hamburger Straße. Sie wollen über Antisemitismus reden – am Nachmittag zuvor, das wissen die Schüler noch nicht, hat in Berlin-Pankow mal wieder ein Antisemit zugeschlagen: Bevor der von der Polizei gesuchte Mann sein Opfer niederprügelte, soll er gerufen haben: „Was guckste mich so an, du jüdisches Arschloch?!“ Erst als eine Passantin eingriff, flüchtete der Angreifer.
Verprügelt wegen eines Davidsterns
Mit Blick auf das, was in Berlin, in Deutschland sonst so üblich ist, bleibt diese Episode eine unter vielen: Längst sind antisemitische Beleidigungen, Drohungen und Angriffe gewissermaßen normal – in den zwölf Monaten von Juni 2018 bis Juni 2019 hat die Berliner Justiz insgesamt 488 Straftaten registriert.
Und außerhalb der Hauptstadt, so muss man es wohl sagen, ist es eher schlimmer: In Halle versuchte ein Attentäter am 9. Oktober – Juden begingen gerade Jom Kippur, ihren höchsten Feiertag – in die örtliche Synagoge einzudringen. Fest steht, der Mann plante ein Massaker; dass nicht mehr als zwei Menschen starben, hat mit Zufällen und Planlosigkeit zu tun, nicht mit der organisierten Sicherheit im Land.
In den Geschichtskurs hat Aaron Eckstaedt, der Gymnasiumsdirektor, deshalb Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, SPD, eingeladen. Warum jüdische Einrichtungen nicht überall geschützt würden, fragt ein Schüler. Ein anderer möchte wissen, wie die Bundesregierung den virtuellen Sumpf, in dem sich der computeraffine Attentäter von Halle bewegte, zu kontrollieren gedenke. Ein dritter Schüler sagt, dass Antisemitismus in so verschiedenen Kreisen und Facetten vorkomme, dass die Sicherheitskräfte permanent damit zu tun hätten, sollten sie allen Spuren nachgehen.
Der Hass auf Juden, das genüsslich verbreitete Gerücht über sie und diejenigen, die man für Juden hält, verbindet klassische Rechtsextreme, allerlei Verschwörungstheoretiker und Islamisten aller Couleur. In Halle war ein deutscher Neonazi zum Massenmord aufgebrochen. In Berlin, das berichten Staatsschützer, Lehrer, Juden seit Jahren, kommt die Gefahr oft aus anderen Milieus.
Im Juni wird ein Jugendlicher am Bahnhof Zoo angegriffen, weil er aus dem Handy das bekannte Lied „Tel Aviv“ hört. Die Angreifer geben sich als Araber zu erkennen und drohen, ihm die Kehle durchzuschneiden. Im Juli wird ein Mann in Mitte verprügelt, weil er eine Kette mit Davidstern trägt – die Täter sollen aus Syrien stammen, das Opfer auch.
Im August wird Rabbiner Yehuda Teichtal von einem Balkon aus auf Arabisch beschimpft, dann bespuckt. Im September wird ein Heranwachsender vor einem Club an der Warschauer Straße ins Gesicht geboxt, weil er sich auf Hebräisch unterhielt – auch dieser Täter soll sich als Araber zu erkennen gegeben haben. Vor einigen Jahren passierte im selben Club schon einmal das Gleiche. Im Oktober wollte ein Syrer in die Synagoge in Mitte eindringen, schrie „Allahu Akbar“ – in der Hand ein Messer.
Hochsicherheitsschule - Personenschützer, Kameras, Zäune
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, SPD, sagte am Wochenende: „In unserer Stadt, in unserem Land, mit unserer Geschichte, darf so etwas nicht passieren.“ Auch Bundesministerin Lambrecht will im Klassenraum deutlich werden: „Es ist unsere Pflicht, jüdisches Leben, auch in der Öffentlichkeit, zu schützen.“
Anders als in Halle passiert das in Berlin spürbar. Zur Schule kam die Ministerin an diesem Morgen mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlins, Gideon Joffe, der außerhalb seiner Wohnung von Personenschützern begleitet wird. Das Gymnasium selbst ist von einem Zaun umgeben, an jeder Hausecke sind Kameras befestigt, Wachmänner tasten Besucher ab. Eine Hochsicherheitsschule mitten im multikulturellen, vermeintlich liberalen Berlin.
„Ich habe erst zur 10. Klasse hierhin gewechselt“, erzählt die Schülerin. „Auf meiner früheren Schule wurde ich gemobbt – irgendwann habe ich kaum jemandem erzählt, dass ich Jüdin bin.“ Ein Schüler, der einst auf derselben Charlottenburger Schule war, berichtet: „Dort hat man mich bedroht, weil ich während der Gaza-Kriege eine andere Meinung hatte als meine Mitschüler.“
Man wolle nicht pauschalisieren, wie ein Schüler sagt, und nicht vergessen, dass auch traditionelle, gebildete Deutsche „erschreckend aggressiv“ auf alles „Israelische“ reagierten, sagt ein anderer Junge. Direktor Eckstaedt formuliert es so: In Berlin erreichten ihn meist Nachrichten, wonach jüdische von muslimischen Schülern bedroht werden. „Und erst unsere Schule ist dann der safe haven“ – der sichere Hafen – „eine Sicherheitsoase, eine Ruhezone.“
In einer repräsentativen Umfrage der Anti-Defamation-League – einer sich dem Kampf gegen Antisemitismus verpflichtet fühlenden Organisation – aus dem Jahr 2015 zeigten 16 Prozent der befragten Bundesbürger antisemitische Neigungen, unter Muslimen in Deutschland waren es demnach 56 Prozent. In einer Studie des Jüdischen Weltkongresses aus dem Sommer heißt es: 18 Prozent einer als „Elite“ – Führungskräfte, Akademiker – kategorisierten Bevölkerungsgruppe hegen antisemitische Gedanken, 41 Prozent der Deutschen sind gar der Meinung, Juden redeten zu viel über den Holocaust.
Dass sich antisemitischer Wahn auch unter stillen, angepassten Bewohnern dieses Landes Bahn brechen kann, das wissen nicht nur die Schüler und ihr Direktor. Das weiß auch die Bundesregierung. Die Lage sei „bedrohlicher als vor einem Jahr“, sagt Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang am Dienstag bei einer Anhörung im Bundestag. Ebenfalls am Dienstag trafen sich Vertreter jüdischer Verbände mit der Bundesfamilienministerin. Franziska Giffey, SPD, sagte nach dem Treffen, ihre Gesprächspartner hätten ihr eindrücklich geschildert, wie sehr antisemitische Vorfälle zum Alltag gehören. Giffey kündigte an, dass dem Bundes-Modellprogramm „Demokratie leben“ nächstes Jahr 115,5 Millionen Euro zur Verfügung stehen werden.
Als Rechtsextreme vermerkt - die „Sieg Heil“-Rufer der Al-Kuds-Demonstration
Die Bedrohung durch Rechtsextreme sei hoch, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer, ähnlich gefährlich sei nur noch islamistischer Terror. CSU-Mann Seehofer will an diesem Mittwoch einen Zehn-Punkte-Katalog ins Kabinett einbringen, der besseren Schutz von Synagogen, eine Verschärfung des Waffenrechts, strengere Regeln für Internetanbieter und mehr Ressourcen für die Behörden vorsieht.
Und so verweist Justizministerin Lambrecht vor den Schülern darauf, dass beim Bundeskriminalamt – dem BKA – und dem Verfassungsschutz neue Einheiten eingerichtet werden: Allein beim BKA gebe es bald 400 neue Beamte. Die sollen den virtuellen Sumpf, von dem zu Stundenbeginn die Rede war, beobachten. Und verhindern, dass sich die stillen Fanatiker vernetzen – und einander zu Taten anspornen, wie in Halle.
Seit 2001 veröffentlicht das Bundesinnenministerium die Zahlen antisemitisch motivierter Straftaten. So kam es dem Ministerium zufolge 2018 insgesamt zu 1799 antisemitischen Vergehen. 2014 waren es fast 1600 Fälle, 2006 mehr als 1800. Ähnlich schwankt die Zahl der Gewalttaten: zwischen 28 und 64 angezeigten Fällen pro Jahr seit 2001. Im Jahr 2018 waren es 37. Gestritten wird über die Täter: „Juden raus“-Schmierereien werden in Statistiken meist als rechtsextrem ausgewiesen, auch wenn islamistische Täter infrage kämen. Wie die „Sieg Heil“-Rufer bei der Al-Kuds-Demonstration 2014 in Berlin.
Nicht immer, das berichten auch Berliner Juden häufiger, fühlten sich Betroffene ernst genommen. In Friedenau hatten einige Jungen einen jüdischen Mitschüler beleidigt, ihn auf dem Nachhauseweg verfolgt und dafür gesorgt, dass „der Jude“ von anderen gemieden wurde. Sie bedrohten den 14-Jährigen mit einer Spielzeugpistole, die wie eine echte Waffe aussah. Und verprügelten ihn schließlich.
Die Täter waren keine Neonazis, sondern Kinder arabischer und türkischer Einwanderer. Und dann? Dann schrieben Eltern anderer Schüler einen – womöglich gut gemeinten – offenen Brief. Sie erklärten sich „bestürzt über den Übergriff“, verteidigten aber die Schule, die von den „Auswüchsen internationaler Konflikte wie des Nahostkonflikts nicht verschont“ bleibe. „Religiös motivierte Auseinandersetzungen“ seien die Folge – ganz so, als habe der jüdische Junge mit seinen muslimischen Mitschülern intensiv über seine Thora-Interpretation diskutiert. Das jüdische Kind verließ die Schule schließlich.
Ministerin Lambrecht sagt, Polizisten und Justizmitarbeiter müssten sensibilisiert werden, damit sie antisemitische Motive hinter einzelnen Taten erkennen. Immerhin, die Politik reagierte – auch in Berlin. Der Senat hat den Politologen Lorenz Korgel als Antisemitismusbeauftragten eingesetzt – er macht das vorübergehend, nächstes Jahr soll das Profil des Amtes detailliert festgelegt und die Stelle neu besetzt werden. Seit September 2018 ist zudem eine Oberstaatsanwältin erste Antisemitismusbeauftragte der Berliner Justiz, ein Kriminaldirektor seit einigen Wochen der Antisemitismusbeauftragte der Polizei.
Juden in Deutschland? Etwas mehr als 0,2 Prozent der Bevölkerung
In Deutschland leben wohl 200.000 Juden – das sind etwas mehr als 0,2 Prozent der Bewohner dieses Landes. Kaum einer von ihnen trägt öffentlich Kippa, schon gar nicht Schläfenlocken. Und trotzdem ist in Shisha-Bars und Eckkneipen von „den Juden“ die Rede, obwohl die Gäste dort keinen kennen.
Zum Schluss möchte die Sozialdemokratin Lambrecht noch etwas loswerden. In Bayern, das sieht sie dahingehend als Vorbild, habe sich die Justiz auf Folgendes verständigt: Verfahren, in denen Antisemitismus das wahrscheinliche Motiv gewesen sei, sollen künftig nicht mehr eingestellt werden.
Am Abend dieses Dienstags wird Berlins Bürgermeister noch einmal deutlich. „Es darf nicht sein, dass am helllichten Tag ein Spaziergänger antisemitisch beleidigt und dann geschlagen wird“, sagt Müller, nachdem er sich über die Tat in Pankow informiert hat: Ein Geschehen, „für das ich mich einmal mehr schäme“.