40 Jahre Deutscher Herbst: Die RAF in der DDR
1985, die Stasi ist alarmiert. Ein DDR-Bürger bedroht als RAF-Sympathisant Außenminister Genscher. Der Verdacht: In Erfurt operiert eine Terrorzelle.
Die „Abteilung Töten“ der Roten Armee Fraktion benutzte grüne Geschäftsumschläge, 16 mal 11,5 Zentimeter groß, ungefüttert, aus DDR-Produktion. Und ihre Botschaften tippte sie auf liniertes Papier. Die erste lautete: „Der Aussenminister Hans-Dietrich Genscher wird Mitte Februar ermordet. Beschluss der RAF. Abtlg. Töten.“ Das zweite Schreiben klang etwas skurriler: „Wir werden den Außenminister Genscher in die Wüste jagen. Raus mit der FDP aus der BRD.“ Beide Briefe wurden am 9. Februar 1985 abgestempelt, der eine ging an die August Stork KG in Halle/Westfalen, der andere an die Robert Friedel GmbH in Stuttgart.
In der Stasi-Bezirksverwaltung Erfurt waren Offiziere alarmiert. Denn die Briefe wurden in der DDR aufgegeben, in Dingolstädt, Kreis Worbis. Die Postzensur hatte die Briefe abgefangen. Auf einmal stand ein ungeheuerlicher Verdacht im Raum: Gibt es auch in der DDR ein Terrorkommando der RAF? Eines, von dem die Stasi nichts wusste?
Von anderen Leuten in der DDR mit RAF-Hintergrund wusste die Stasi dagegen alles. Kein Wunder, sie betreute diese Gruppe intensiv. 1980 hatte die Stasi acht RAF-Aussteiger aufgenommen, Ex-Terroristen, ausgelaugt vom bewaffneten Kampf und erschöpft vom Fahndungsdruck. Die DDR bot eine Heimat. Sie erhielten neue Namen, Jobs, eine fiktive Biografie. Als Gegenleistung mussten sie sich von der RAF lösen.
Das Szenario war völlig absurd - und politisch riskant
In die DDR reisten für ein paar Wochen aber auch aktive RAF-Mitglieder, Top-Terroristen wie Christian Klar. Diese Illegalen erhielten von der Stasi einen Kurs in Sprengstofftechnik, sie durften auf einer Stasi-Schießbahn ballern. Natürlich nicht ohne Gegenleistung. Die RAF-Leute sollten die Stasi über ihre Pläne informieren. Doch die westdeutschen Terroristen sagten kaum etwas.
Auf den ersten Blick war das Szenario völlig absurd. Und politisch riskant. Die DDR hätte am Pranger gestanden, wenn alles aufgeflogen wäre. Doch sie hatte Angst vor Terror im eigenen Land, deshalb bot sie Asyl. Ein früherer Stasi-Major, mit dem Thema RAF damals befasst, sagte nach der Wende: „Wir waren der Annahme, dass die RAF-Attentate wie andere ,Moden‘ zuvor auch in der DDR ein Echo finden könnten.
Weshalb sollte die gewaltsame Auflehnung gegen die Herrschaftsverhältnisse in der BRD nicht auch Nachahmung in der DDR finden.“ Auf verquere Weise wollte die Stasi den RAF-Terror im Westen eindämmen. Aber nun gab es die beiden Briefe von Dingolstädt. Weshalb die DDR-RAF diese Firmenadressen gewählt hatte, blieb ein Rätsel.
Stasi legte die Operative Personenkontrolle (OPK) „Genscher“ an
Auf jeden Fall entwickelte sich die Fahndung nach dem Absender zum Großeinsatz. 14 Monate dauerten die Ermittlungen, vier Inoffizielle Mitarbeiter und mehrere Stasi-Offiziere waren beteiligt.
Im Juni 1985 stieß die Stasi auf einen Verdächtigen, einen Eisenbahner. Der hatte sich in einem Brief an die August Storck KG, einen Produzenten von Lebensmitteln, beschwert, dass er in einem Päckchen Kaffee Reste einer toten Maus gefunden hatte. Den Kaffee hatte er von West-Verwandten erhalten. Hatte dieser Eisenbahner etwa auch den RAF-Brief an die Storck KG geschrieben? Die Stasi legte die Operative Personenkontrolle (OPK) „Genscher“ an. Die Überwachung begann.
Der Verdächtige sympathisierte mit CSU-Chef Franz Josef Strauß, redete schlecht über die DDR („Die Nazis waren schon grausam, aber unser Staat ist noch zehnmal schlimmer“), alles interessant, doch der Stasi half es in Sachen RAF nicht weiter. Der Verdächtige hatte keine Schreibmaschine, ein Handschriftenvergleich ergab keinen Treffer. Sogar die Schreibmaschinen am Arbeitsplatz des Verdächtigen überprüften Stasi-Techniker. Wieder kein Treffer. Auch ein Motiv war nicht erkennbar.
Am 2. Juli 1986 gab die Stasi auf. Der verantwortliche Hauptmann schrieb in seinen Abschlussbericht: „Es wird vorgeschlagen, die OPK einzustellen.“ Wer Außenminister Genscher bedroht hatte, wurde nie geklärt.