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Hans-Dietrich Genscher: "Wir brauchen kooperatives Denken"

Der Dialog, sagt er, verändert immer beide Seiten. Hans-Dietrich Genscher muss es wissen - und erklärt es im Interview mit dem Tagesspiegel.

Herr Genscher, wären Sie heute gern wieder aktiver Politiker?



Ich habe den Kelch der politischen Aktivität bis zur Neige ausgekostet.

Einiges von dem, was Sie angestoßen haben, ist heute Modell, denken wir an die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, den KSZE-Prozess ...

... ja, den könnten wir wieder brauchen, an anderer Stelle und weltweit.

An welcher Stelle?

Wir brauchen kooperatives Denken. Durch Gesprächsverweigerung kann man nicht viel erreichen. Das haben wir im Ost-West-Verhältnis bis 1969 erlebt. Dann sind wir aktiv geworden durch Dialog und Zusammenarbeit. Und damit konnte man die Welt verändern.

Aber ist ein Dialog sinnstiftend, aus dem man keine Konsequenzen ziehen kann?

Dialog verändert immer auch die andere Seite. Außenpolitik besteht ja auch darin, mit eigenen Ideen das Denken der anderen Seite zu beeinflussen und zu verändern. Und das ist im West-Ost-Verhältnis beispielhaft gelungen. Die Schlussakte von Helsinki hat Grundvorstellungen der westlichen Seite zum Gegenstand von Gesprächen und dann von Vereinbarungen gemacht, auf die sich Menschen auf der anderen Seite – denken Sie an die Bürgerrechtler und Oppositionsgruppen in der DDR und den osteuropäischen Staaten – berufen konnten. Es hat dort aber auch das Denken in den Führungseliten verändert. Sonst wäre in einer solchen Zeit der Ost-West-Konfrontation, der politischen Eiszeit, ein Mann wie Michail Gorbatschow in der Sowjetunion gar nicht an die Spitze gekommen.

Ist der KSZE-Prozess nicht tatsächlich der politisch erfolgreichste Dialog, den es jemals gegeben hat? Immerhin stand am Anfang der Versuch der Sowjetunion, Amerika aus Europa herauszukriegen ...

Genau. Die sowjetische Seite verfolgte mit der sogenannten gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz zwei Ziele: Den Besitzstand des sowjetischen Machtbereichs durch den Westen bestätigen zu lassen und Amerika aus Europa hinauszudrängen. Man wollte ja zuerst Amerika und Kanada nicht beteiligen. Ich war der erste, der in einem westlichen Parlament im Prinzip „Ja“ gesagt hat zu diesem Prozess, aber nur unter Einbeziehung von Amerika.

Es ist also auch richtig, den Dialog mit dem Iran zu suchen, wie es der neue US-Präsident tut?


Natürlich. Tabuzonen zu errichten bedeutet immer auch Selbstbeschränkung. Wir haben das mit der Hallstein-Doktrin erlebt. Sie hat uns jahrelang daran gehindert, auf die Entwicklungen im anderen Teil Deutschlands einzuwirken. In anderen Ländern ist das genauso, erst recht unter den Bedingungen der Globalisierung. Wir können die Folgen der Wirtschaftskrise nur global überwinden.

Sie haben Gorbatschow 1986 kennengelernt. Wie haben Sie ihn erlebt?

Ich hatte mit ihm 1986 in Moskau ein sehr langes, intensives Treffen. Ich habe mich selten auf ein Gespräch so intensiv vorbereitet wie auf dieses. Ich bin vorher noch zu François Mitterrand nach Paris gefahren, weil er der letzte war, der mit Gorbatschow gesprochen hatte. Dessen Eindruck bestätigte sich mir dann auch: Da stand ein Mann vor mir, der so ganz anders war als alle sowjetischen Führer vor ihm.

Hatten Sie schon damals eine Vorahnung, dass mit diesem Mann die Ost-West-Konfrontation beendet werden könnte? Gab es schon die Vision einer deutschen Einheit?


Unmittelbar nach dem Gespräch habe ich zu meinem damals engsten Mitarbeiter, Gerold von Braunmühl – der kurz danach von der RAF ermordet wurde –, gesagt: „Wenn der das alles macht, was er uns heute hier gesagt hat, dann haben wir erstmals eine reale Chance, die Teilung Deutschlands und Europas zu überwinden.“ Er hatte im Grunde genommen die Systemfrage gestellt. Der Geist war aus der Flasche. Zum Beispiel sagte er in diesem Gespräch: „Jetzt bin ich Generalsekretär, aber ich kann die Frage nicht beantworten, warum wir den Amerikanern zwar in der Raumfahrt und in der Rüstung ebenbürtig sind, aber wir zugleich unsern Bürgern nicht genug Wohnungen, Kühlschränke und Autos zur Verfügung stellen können.“

Von Gorbatschow bis Putin und Medwedew – was muss die Konstante deutscher Russlandpolitik sein?

Zunächst muss man sich mit den Realitäten vertraut machen. Wie Deutschland ist auch Russland Europa. Nur der kleinste Teil seiner Bevölkerung lebt jenseits des Ural. Es ist ein europäisches Volk. EU-Europa kann Russland sehr viel geben und umgekehrt gilt das auch. Diese Möglichkeiten sind bei Weitem nicht ausgeschöpft. Es gibt ein wunderbares chinesisches Sprichwort: „Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen.“ Selbstisolierung ist auch eine Art Mauerbau – nicht so brutal wie die, die in Berlin stand, aber ähnlich nachteilig. Im Übrigen war der Bau der Mauer 1961 letztlich das Eingeständnis der Kommunisten, dass sie den Wettkampf der Systeme verloren haben. Es war eine äußerst brutale, aber auch eine resignative Entscheidung. Sie wurde 1989 vom Volk revidiert.

Wie sehen Sie die Rolle Russlands heute?


Russland will als Global Player wahrgenommen werden. Das sollten die anderen Staaten zur Kenntnis nehmen. In der jetzigen Phase, in der die Welt zusammenwächst, hat die Menschheit nur drei Optionen: Die Dinge laufen zu lassen wie sie sind. Das ist die Chaos-Option. Die Bush-Administration wählte die Dominanz-Option: Wir sind stark genug zu entscheiden, was die anderen zu tun haben, wir stellen die Regeln auf und überwachen ihre Einhaltung. Aber die Regeln gelten nicht für uns und wenn wir sie für veränderungswürdig halten, verändern wir sie. Die dritte Option ist, auch die anderen ernst zunehmen. Das ist das Kooperationsmodell, und das verfolgt die jetzige US-Administration unter Barack Obama.

Wesentliche Impulse für die friedliche Revolution in der DDR, die letztlich zur deutschen Einheit führten, gingen von den Reformbewegungen der ost- und mitteleuropäischen Länder aus. Müsste das nicht heute stärker anerkannt werden?

Wahrscheinlich empfinden wir Deutschen das am stärksten, wenn wir uns erinnern. Aber wir sollten auch nicht klein reden, dass der erste Volksaufstand, am 17. Juni 1953, in der DDR stattgefunden hat. Ungarn folgte, 1968 mit dem Prager Frühling die Tschechoslowakei und Polen über Jahrzehnte immer wieder. Das waren aber immer Ereignisse in einem einzelnen Land. Das neue war 1988/89, dass es sich um eine europäische Freiheitsrevolution handelte. Das war im Übrigen auch ein Ergebnis der Verbindung des europäischen Schicksals durch die Schlussakte von Helsinki. Entscheidend war auch Gorbatschows Revolution von oben in Moskau.

Als sich 1989 die Ereignisse in Ostdeutschland überschlugen: Zu welchem Zeitpunkt war Ihnen klar, das läuft jetzt unweigerlich auf die deutsche Einheit hinaus?

Meinen Eindruck von Gorbatschow habe ich schon beschrieben. Am 1. Februar 1988 habe ich in Davos gesagt: Wir müssen diesen Mann ernst nehmen, beim Wort nehmen. Wir dürfen eine historische Chance nicht versäumen. Das trug mir den Vorwurf der Blauäugigkeit gegenüber Moskau ein. Im Herbst 1988 traf ich mit Eduard Schewardnadse, dem sowjetischen Außenminister, in der sowjetischen UN-Vertretung in New York zusammen. Ich sprach davon, dass ich im Sommer 1989 mit Massendemonstrationen in der DDR rechnete. Es dürfe dann nicht wieder geschehen, dass sowjetische Panzer gegen deutsche Mitbürger aufgefahren würden. Sonst würde sich die Lage in Europa dramatisch verändern. Schewardnadse antwortete, die DDR sei völlig stabil. Im Januar 1989 wiederholte er diese Einschätzung. Als der Außenminister dann vier Wochen vor dem Bonn-Besuch Gorbatschows im Juni 1989 wieder nach Deutschland kam, sagte er mir: Sie hatten recht, wir hatten unrecht.

Dann fiel die Mauer. Später durfte der Kanzler blühende Landschaften verheißen, Sie mussten die Bürden der Diplomatie schultern. Welche waren die schwersten?


Zunächst einmal: Für mich war das keine Bürde. Dass ich mit den Russen über den deutschen Einigungsprozess sprechen durfte, war etwas Ermutigendes. Die größte Hürde war die Nato-Zugehörigkeit Deutschlands. In einem Vortrag in Tutzingen sagte ich: Wir sind Mitglied der EU und wir werden es bleiben. Und wir sind Mitglied der Nato und wir werden es bleiben. Ich hatte das Gefühl, dass die Führungsriege in Moskau darauf bestand, dass die Nato aufgelöst oder Deutschland neutralisiert würde. Aber Schewardnadse dachte offenbar weiter. Bei einem Treffen in Windhoek in Namibia im März 1990 nannte er neben diesen beiden auch eine Nato-Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands als dritte Option. Das signalisierte mir, dass auch diese Möglichkeit durchaus realistisch war. Schließlich stand in Korb eins der Schlussakte von Helsinki ja auch, dass jedes Land das Recht hat, sich für ein Verteidigungsbündnis zu entscheiden. Das war unser stärkstes Argument. Was man der DDR und der Bundesrepublik zugestanden hatte, konnte man ja einem wiedervereinigten Deutschland nicht verwehren.

Dann kamen die schwierigen 2-plus-4-Verhandlungen ...

... bei denen es schon damit losging, ob sie nicht 4-plus-2-Verhandlungen heißen sollten. Da habe ich gesagt: Die Zeiten sind vorbei, da über Deutschland verhandelt wird und wir sitzen am Katzentisch wie bei der Genfer Außenministerkonferenz in den 50er Jahren.

Sie hatten bei 2-plus-4 mit Bush senior und Gorbatschow zwei Gesprächspartner, die verstanden, worum es ging. Und Sie hatten mit Margaret Thatcher und François Mitterand zwei, die den Zug aufhalten wollten.

Die 2-plus-4-Verhandlungen waren Verhandlungen der Außenminister. Aufhalten wollte den Prozess nur Margaret Thatcher. Sie wirft ja Mitterand vor, dass er sie im Stich gelassen habe. Mitterand hatte bereits in einem Interview im Sommer 1989 über die Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung gesprochen. Als ich am 30. November in Paris war, sagte Mitterand auf meine Frage nach der Wiedervereinigung, Frankreich stehe wie immer an der Seite Deutschlands, auch in dieser Situation. Wenn Deutschland aber nicht den neuen, europäischen Weg beschreite, sondern den alten, dann werde auch Frankreich die alten Allianzen wiederbeleben. Ich antwortete: Der europäische Weg ist in unserem Land völlig unumstritten, bei den Westdeutschen, wie auch bei den Ostdeutschen.

Das Gespräch führten Gerd Appenzeller, Stephan-Andreas Casdorff und Matthias Schlegel.

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