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"Wir brauchen mutige Bürger, die die roten Ratten in ihre Löcher jagen."
© The LIFE Images Collection/Getty

Was bleibt von Franz Josef Strauß?: Ein Treffen mit Freunden und Feinden zum 100. Geburtstag

FJS war der umstrittenste Politiker der Bundesrepublik. Warum sind heute alle so gnädig mit ihm?

Sie sind eigens hierhergefahren, die 56 Kilometer von München in das Städtchen Rott am Inn, sie hat sich den Fotoapparat umgehängt und er den Trachtenhut aufgesetzt. Ein Ehepaar auf Wallfahrt. Sie sind über den Friedhof an der Rokokokirche gegangen und dem Schild gefolgt, auf dem in schwarzer Schrift „Zur Gruft“ steht, sind die Treppenstufen hinuntergestiegen zur Tür. Da ist er, da drinnen muss er sein. FJS, ihr FJS.

Dann gehen sie hinein ins dunkle Verlies, stehen vor der Grabplatte, die in eine Wand eingelassen ist. Franz Josef Strauß, Ministerpräsident, 1915–1988. Der Mann nimmt Haltung an und sagt, was zu sagen ist: „Oh mei, Franze, wenn du wüsstest, was heute für ein Chaos herrscht.“ Dann tritt er wieder hinaus in die Sommersonne am weiß-blauen Himmel, und aus seinem Mund dringt ein Seufzer. „Da liegt er, unser letzter bayerischer König.“

Dabei hat diese Gruft wenig monarchische Pracht an sich. Ein nüchterner, niedriger Raum mit erdfarbenen Fliesen, vier Grabplatten. Neben Strauß seine Ehefrau Marianne Zwicknagl, Brauereibesitzerstochter, vier Jahre vor ihrem Mann bei einem Autounfall gestorben, und deren Eltern. Am Boden ein Blumengesteck, staubige Schleife: „Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender“. Zwei verwelkte Kränze: „Landeshauptstadt München“ und „Deine treuen CSU-Freunde“. Rosa Begonien: „In Liebe, Deine Kinder“.

Kein glanzvoller Ort. Und doch ist er ein Monarch gewesen, Franz Josef Strauß, 27 Jahre CSU-Vorsitzender, Atomminister, Verteidigungsminister, Finanzminister, Kanzlerkandidat. Als er 1988 bei einem Jagdausflug zusammenbrach, weinte Bayern, so schrieb es jedenfalls die Münchner „Abendzeitung“, und beim Trauerzug standen 100 000 Menschen zwischen Odeonsplatz und Siegestor Spalier und schämten sich ihrer Tränen nicht.

Er ist immer noch bewegt von seinem Freund

Das ist lange her und ist doch nur ein Wimpernschlag im Lauf der Geschichte. Weshalb Wilfried Scharnagl auch heute noch bewegt ist, wenn er von seinem Freund spricht. „Er musste sterben in Saft und Kraft. Er war vom Herrgott nicht geschaffen, ein Greis zu werden.“ Am 6. September wäre Franz Josef Strauß 100 geworden.

„Da, wo Sie jetzt sitzen, da ist er auch immer gesessen, mein Altmeister“, sagt Scharnagl, stockt immer wieder gerührt, wenn er von den alten Zeiten spricht, ein 76-Jähriger mit Würde und rotem Einstecktuch im schwarzen Sakko, 24 Jahre lang Chefredakteur des „Bayernkurier“, der christsozialen Parteizeitung. „Er schreibt, was ich denke, und ich denke, was Scharnagl schreibt“, hat Strauß über seinen siamesischen Zwilling gesagt. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass dieser als Ort der Begegnung einen Italiener in der Münchner Schellingstraße ausgesucht hat, gar nicht weit entfernt von der Stelle, wo Strauß einst aufwuchs und bald durch so viel Hochbegabung auffiel, dass er, was keineswegs vorgesehen war, von der elterlichen Metzgerei aufs humanistische Max-Gymnasium wechselte, eine Eliteschule, die mit guten Noten geizte. Was ihn aber nicht daran hinderte, dort mit 19 Jahren das bayernweit beste Abitur seit 1910 abzulegen.

"Wir wollen von niemandem ständig an unsere Vergangenheit erinnert werden."
"Wir wollen von niemandem ständig an unsere Vergangenheit erinnert werden."
© Imago

Gleich nach dem Studium der Altphilologie und dem Zweiten Weltkrieg, in dem er bis zum Ausbildungsoffizier aufstieg, brach er auf, um ein Politiker zu werden. Was für einer: der umstrittenste in der Geschichte der Bundesrepublik, ein Mann, der polarisierte wie kein zweiter. Seine Anhänger verehrten ihn wie einen Heiligen, seine Gegner hassten in ihm den Gottseibeiuns, den kalten Krieger, den reaktionären, rücksichtslosen Machtmenschen. „Er war brutal, vital, sentimental“, sagte sein CSU-Parteifreund Franz Heubl über ihn.

Wilfried Scharnagl nimmt jetzt den Mund voll. Weil er mittagessen und zugleich das Hohelied auf den Meister singen möchte. Wie FJS dieses bayerische Land von einem armen Agrarstaat in einen der erfolgreichsten Industriestaaten der Welt umgewandelt hat. Wie er durchsetzte, dass das Monopol des Flugzeugbaus nicht in den USA blieb, und wie er zum Vater des Airbus wurde. Wie er die Bundeswehr trotz massiver Widerstände in der Bevölkerung aufbaute. Wie er den Milliardenkredit an die DDR einfädelte und damit Millionen Menschen im Osten Hoffnung gab. Wie er immer gegen den Mainstream stand, ein unermüdlicher Kämpfer. „Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, ist schnell verwitwet.“

Nicht dass das Essen kalt wird, Herr Scharnagl.

Warum heute alle so gnädig mit ihm sind

Schlagfertig. Franz Josef Strauß anno 1977 beim Holzhacken mit Sohn Franz Georg.
Schlagfertig. Franz Josef Strauß anno 1977 beim Holzhacken mit Sohn Franz Georg.
© Ullstein

Keine Sorge, jetzt muss doch noch dringend über den Sprachkünstler FJS geredet werden. Des Lateinischen und Griechischen und Englischen mächtig. Stets hat er ein Vokabelheft bei sich getragen und Wörter, die ihm unbekannt waren, notiert. Ein lebenslanger Lerner. Und dann diese rednerische Naturgewalt. Schlagfertigkeit und Witz und Bildung. Ein Rhetor wie niemand sonst. 193 Mal hat er im Bundestag gesprochen, ungezählte Male auf Wahlkampf- und Parteiveranstaltungen, Worte wie Feuerwerke.

Keiner, der heute über Strauß spricht, vergisst dieses rednerische Urtalent zu erwähnen. Seltsam nur: Wenn man Reden von damals heute nachhört oder in Fernsehdokumenten nachsieht – man will die wundersame, geradezu berauschende Wirkung, die er auf sein Publikum hatte, nur schwer begreifen. Eine Suada von nicht enden wollender Bildungshuberei und Besserwisserei schallt einem da entgegen. Kübelweise schleudert Strauß Unflat über politische Gegner und Zwischenrufer. Kapuzinerpredigten, in wütenden Tiraden peitscht er seine Sätze aus dem Mund. Ein Berserker eher als ein Rhetor, ein Wüterich. Schwitzend, fuchtelnd, brüllend in seinem Zorn. Befremdliche Auftritte – von heute aus gesehen. Ein Mann aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt. Undenkbar so etwas heute.

Andere nennen es Temperament.

Natürlich übertreibe er gelegentlich, räumte Strauß einmal ein. Er sei nun mal ein „Mensch in seinem Widerspruch“. Und Wilfried Scharnagl sekundiert: „Der Himalaja hat Kanten und Abgründe. Der Maulwurfshügel nicht. Da muss man sich eben entscheiden, was man will.“ Selbst ein ehemaliger Gegner wie der in der Nacht zu vergangenem Donnerstag gestorbene SPD-Politiker Egon Bahr neigte dazu, die Ausfälle des damaligen Kanzlerkandidaten milde zu beurteilen. „Natürlich hat er geholzt“, sagte er vor wenigen Tagen noch. „Aber das war nun einmal der Tribut an den politischen Alltag. Das galt auch umgekehrt. Wir haben das verdaut, ohne dass uns übel wurde.“

"Stoppt Strauß" war ihre Parole. Sie flog von der Schule

Einer ist damals übel geworden. Sie heißt Christine Roth, lebt als Rechtsanwältin in Nürnberg und hat mit Franz Josef Strauß ihre ganz eigenen Erfahrungen gemacht. Sie war 1980, im Jahr der Strauß’schen Kanzlerkandidatur, gerade 17, ging in die elfte Klasse, hieß mit Mädchennamen Christine Schanderl und fand, dass Strauß niemals Kanzler werden dürfe. Weshalb sie sich einen Button an die Bluse steckte, „Stoppt Strauß“. Damit ging sie in den Unterricht. Aber nicht lange. Sie flog von der Schule.

„Ich habe ihn für eine Gefahr für die Demokratie gehalten“, sagt sie heute. „Er hat faschistische Diktaturen als Vorbild hingestellt, Stroessner in Paraguay, den Putschisten Pinochet in Chile. Bei einem Besuch dort hat er gesagt: ,Ich habe keinen Zweifel, dass Chile ein demokratisches und freies Land ist.‘ Er hat das Apartheid-Regime in Südafrika unterstützt. Und er hat Schriftsteller wie Luise Rinser oder Bernt Engelmann ,Ratten und Schmeißfliegen‘ genannt. Das ist aus dem Wörterbuch des Unmenschen.“

Christine Roth hat geklagt damals gegen ihren Schulverweis und im Frühjahr 1981 vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof recht bekommen. Der Passus aus der bayerischen Schulordnung, der jede politische Werbung im Unterricht verbot, wurde aufgehoben.

Die Querelen waren damit nicht zu Ende. Nach mit Auszeichnung bestandenem Jura-Examen wurde sie für den Referendardienst nicht ins Beamtenverhältnis übernommen; dann wollte ihr das Bayerische Justizministerium allen Ernstes wegen „Berufsunwürdigkeit“ die Zulassung als Anwältin verweigern. Aber das sind Geschichten aus einem anderen Jahrhundert. Und schließlich scheiterte Strauß ja mit seiner Kanzlerkandidatur, obwohl er stattliche 44,5 Prozent für die Union holte. Engagiert ist Christine Roth auch nach ihrem Strauß-Protest geblieben, für Menschenrechte, besonders für verfolgte Anwälte in aller Welt. Und heute sagt sie: „Persönlichen Hass gegen Strauß hatte ich sowieso nie, und seit seinem Tod hat sich auch in Bayern einiges geändert.“

Bei vielen scheint die Wut verraucht

Bei vielen scheint mittlerweile die alte Wut verraucht zu sein. Über das Wirken des Mannes, der Deutschland einst spaltete, hat sich der milde Mantel der Geschichte gelegt. Schon nach seinem Tod sagte Helmut Schmidt über seinen Rivalen: „Hier handelte einer, der von der Leidenschaft für die res publica getragen wurde. Auch ich gestehe, dass ich durch seinen Tod ärmer geworden bin.“ Egon Bahr erinnerte sich, wie charmant und gewinnend Strauß im privaten Umgang sein konnte. „Ein Antidemokrat ist er nie gewesen.“ Die Zeiten sind vorüber, da in Deutschland die großen politischen Schlachten geschlagen wurden. Keine Risse mehr durch die Gesellschaft, kein Entweder-oder, kein Alles-oder-nichts. Eine Kultur des freundlichen Konsensualismus hat sich etabliert, in die nun auch Franz Josef Strauß eingemeindet wurde, ausgerechnet der Mann, der ein geschworener Feind des Konsensualismus gewesen ist.

Affären und Prozesse

"Ich bin lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder."
"Ich bin lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder."
© Ullstein

Im hellsten Licht strahlt sein Glorienschein natürlich, wenn man in seine familiäre Nähe kommt. Monika Hohlmeier, die Tochter, die auch eine Politikerin, derzeit im Europaparlament, geworden ist, sitzt im Biergarten der Münchner CSU-Zentrale, der standesgemäß „Franz Josef“ heißt, isst eine Butterbrezel, hat es eilig und gerät ins Schwärmen. „Es hat nichts Wichtigeres gegeben für den Papi als seine drei Kinder, die Freizeit mit ihnen war sein Heiligtum.“ Ponyreiten und Fuchsjagd und Nachhilfestunden in Latein und Geschichte, „da war er hart“. Und natürlich gibt es bei solchen Jugenderinnerungen auch jene an die bleierne Zeit des Terrorismus. Monika Hohlmeier spricht von den Ängsten vor Entführungen, als ruchbar wurde, dass im Haus gegenüber RAF-Mitglieder angeblich eine konspirative Wohnung angemietet hatten. Da war Polizei im Haus, tagein, tagaus, 18 bis 20 Mann, da waren Waffen in der Wohnung, Maschinengewehre, Maschinenpistolen. „Ich hatte extrem diffuse Ängste, Depressionen“, sagt die Tochter.

Aber gleich vertreibt sie die schlimmen Erinnerungen und erzählt von den Faschingsbällen mit dem Papi. „Die Weiber waren vielleicht scharf auf ihn. Die hab’n sich rangeschmissen, rangewanzt.“ Ihrer Mutter, sagt sie, ist das bald zu viel geworden, die wollte gar nicht mehr mitgehen. Dann kommt eben die Moni mit, hat Strauß-Vater gesagt. „Kaum bin ich mal vom Tisch weg gewesen, da sitzt schon wieder eine bei ihm auf dem Schoß und hat ihm ihren nackerten Busen unters Kinn druckt.“ Ganz hilflos ist er da gewesen, der Papi, „er war ja ein höflicher Mann. Ich hab die Weiber dann vertrieben.“

Es gibt viele Geschichten über FJS und die Frauen. Aber Genaues weiß man nicht, auch nicht über die beiden Prostituierten 1971 in New York, von denen er sich plötzlich um 300 Dollar erleichtert sah. Ohnehin versandete vieles in diesem Politikerleben in den Zonen der Gerüchte und Undurchsichtigkeit. Über persönliche Bereicherungen wurde gemunkelt, am Ende seines Lebens hatte er wohl in der Tat ein beträchtliches Vermögen angesammelt. Nie aber konnte ihm etwas nachgewiesen werden. So war es auch bei all jenen Skandalen, die sich mit dem Namen Strauß verknüpfen, der Fibag-Affäre etwa oder der Starfighter-Affäre; immer fehlten die Beweise.

Zwischen Augstein und Strauß tobte eine alte Feindschaft

Konsequenzen hatte lediglich die „Spiegel“-Affäre. Zwischen dem Herausgeber Rudolf Augstein und Franz Josef Strauß tobte seit Jahren eine erbitterte Männerfeindschaft, die im Jahr 1961 ihren Höhepunkt erreichte. Auf Strauß’ Betreiben wurden Augstein und der Redakteur Conrad Ahlers wegen Landesverrats verhaftet („Die Schweine – jetzt haben wir sie endlich“). Vor dem Bundestag hingegen erklärte der damalige Verteidigungsminister, er habe damit nichts zu tun, was der Wahrheit offenbar nicht ganz entsprach und schließlich zu seinem Rücktritt führte. 1966 freilich kehrte er zurück, diesmal als Finanzminister.

Die Liste all der Streitigkeiten und Übergriffigkeiten und Gerichtsprozesse ließe sich ins schier Unendliche fortschreiben – aber immer fühlte sich Strauß als Verfolgter, als Opfer feindseliger, wenn nicht gar kommunistischer Machenschaften, wobei er sich zuweilen auch über das Gesetz stellte: „Ich verlange, dass ich als Bundesminister anders behandelt werde als ein Marktweib.“

So empfindlich er im Einstecken von Vorwürfen und Kritik war, so vehement und unberechenbar war er im Austeilen. Legendär ist seine Sonthofener Rede, in der er zur totalen Obstruktionspolitik aufrief, oder seine Wienerwald-Rede von 1976, in der er seine Konkurrenten von der CDU als „politische Pygmäen“ und „Reclam-Ausgaben von Politikern“ bezeichnete und sich angesichts seines Erzfeinds in einen großen Irrtum verstieg: „Kohl wird nie Kanzler werden.“ Der Überschwang seines Macht- und zuweilen auch Vernichtungswillens ließ ihn nicht selten auch ins Ordinäre abdriften. Als er in einem Lokal einmal einer „Bild“-Reporterin ansichtig wurde, der eine besondere Nähe zu Willy Brandt nachgesagt wurde, soll Strauß gerufen haben: „Da kommt die Hure vom Brandt.“ Er sei ein Kraftwerk mit den Sicherungen eines Kuhstalls, sagte Egon Bahr über ihn. Und Hannes Burger, ein Journalist, der ihn oft auf seinen Reisen und Auftritten begleitete: „Er war wie eine Rakete, die keine Steuerung hat. Mit großer Kraft geht sie los, aber man weiß nicht, wo sie einschlägt.“

Oft blieb es nicht bei einer Flasche

Mag sein, dass ihn in seinen Ausfälligkeiten immer wieder auch die Neigung zum Alkohol befeuerte. Einer Flasche Wein konnte er selten widerstehen, selbst wenn er anschließend ins Fernsehen musste und ihm die Worte dann nicht mehr glatt über die Lippen gingen. Oft blieb es nicht bei der einen Flasche. Michael Spreng, ehemals Chefredakteur der „Bild am Sonntag“, später Wahlkampfleiter von Edmund Stoiber, berichtet von sechs bis sieben Flaschen Frankenwein, die Strauß anlässlich des 60. Geburtstags von Parteifreund Richard Stücklen vernichtet habe, worauf er wie ein gefällter Baum zu Boden schlug.

Aber selbst das tat der Verehrung seiner Freunde und Bewunderer keinen Abbruch. Im Gegenteil. „A Hund is er g’wesen, a Sauhund“, sagten sie und sagen es noch heute. Und das ist nichts weniger als eine Liebeserklärung.

Der Text erschien im Sonntagsmagazin des gedruckten Tagesspiegels.

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