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Nyhavn in Kopenhagen empfiehlt Glücksforscher Meik Wiking als besonders hyggelig.
© imagebroker/Kim Petersen

Dänemark: Die Entdeckung der Gemütlichkeit

Schaffell, Kaminfeuer und Sozialstaat – die Dänen haben einen Begriff dafür: "Hygge". Ein Besuch im kuschligen Kopenhagen.

Eine Blitzreise zum dänischen Glück. Am frühen Morgen in Kopenhagen gelandet, noch vor dem Betreten des Flughafengebäudes weht einem heimeliger Kaffee-Wind entgegen. Im Zentrum angekommen, singt zur Begrüßung ein Bahnhofs-Chor „Jingle Bells“ glockenhell als Kanon. Die Sonne scheint, der Himmel strahlt, die Frühstücksbesucher im Café Granola auch.

Die Beleuchtung dort wirkt so warm wie das Grün an der Wand und die Schale Grød, die man mit angefroren Händen umschließt. Ein Lichtlein brennt, der Duft von Zimt steigt einem in die Nase, das Topping aus Äpfeln und Nüssen ist herrlich – aber, hej, was ist das: Hat der Koch ins Salzfass statt zum Zuckerstreuer gegriffen? Die Dänen verzehren doch doppelt so viel Zucker als die anderen europäischen Länder, kann man lesen, das sei Teil ihres Wohlfühlrezepts. Und jetzt fehlt der Hafergrütze alle Süße.

Es wird nicht das einzige Salz in der Glückssuppe bleiben. Schon auf dem Weg zum Café trifft man die ersten (osteuropäischen) Obdachlosen.

Auch die Flüchtlinge hätten es gerne hyggelig

Auch in diesem Jahr stand Dänemark beim UN-Happiness Report wieder auf Platz eins. Und wie alle Jahre wieder wird als entscheidender Faktor die Hygge benannt, die weit mehr ist als Gemütlichkeit (und zwar eine mit Geschmack und wenig Kitsch). Eher ein allumfassendes Wohlbefinden, für das nicht nur der Einzelne, sondern der Staat sorgt, mit viel Freizeit und sozialer Sicherheit, mit gebührenfreien Kitas und Unis, mit Gleichberechtigung und Mindestlohn.

In dieser Woche wurde Hygge bei einer Umfrage zu einem der zehn zentralen Werte gekrönt, die den offiziellen dänischen Kanon ausmachen sollen. Als Leitfaden sei dieser gut für die Integration zu gebrauchen. Die Flüchtlinge würd’s freuen. Liebend gern würden sie sich in weiche Wolldecken und übergroße Pullover kuscheln, durch die Natur spazieren und hinterher im schön gestalteten Zuhause Kerzen und Kaminfeuer anzünden, mit Freunden Erbsensuppe kochen, singen und was spielen. Wenn man sie nur ließe.

Stattdessen werden die wenigen, die es ins Land schaffen, aus der Stadt abgeschoben, wird ihnen fast alles genommen was sie besitzen. In Dänemark, mit einer konservativen Regierung an der Spitze, an der die rechte Volkspartei mit 20 Prozent der Stimmen beteiligt ist, werden die Rechte der Flüchtlinge kontinuierlich drastisch beschnitten.

Heißgetränke wie Glühwein sind beliebte Hyggebringer

Das große Glück hat seinen Preis. Schon für West-Europäer ist es schwierig, ins Herz der Hygge vorzudringen, das Zuhause. Als introvertiert und reserviert bezeichnen die Dänen sich selber. Es sich gemütlich zu machen, heißt auch: die Türen zu schließen.

Im aufblühenden Stadtteil Vesterbro liegt das Café Granola, in der Værnedamsvej. Im Netz wird die kleine Stichstraße als eine der gemütlichsten Kopenhagens gefeiert. Alte Häuser, schlichte Weihnachtsgirlanden, sympathische Lokale und Läden, in denen man die Utensilien kaufen kann, mit denen man es sich daheim hyggelig macht. An der nächsten Ecke, in Meyers Deli könnte man, morgens um halb elf, den ersten Glogg trinken – Heißgetränke wie Glühwein sind beliebte Hyggebringer.

Das Deli gehört Claus Meyer, der zusammen mit René Redzepi das legendäre „Noma“ gründete, das vier Mal zum besten Restaurant der Welt gewählt wurde und restaurantgewordene Hygge ist. Redzepi, einer der einflussreichsten Köche der letzten Jahrzehnte, hat auch die Präsentation des Fine Dining revolutioniert. Indem er weiß-gestärkte Decken von den schönen Holztischen verbannte und zottelige Felle auf die Stühle legte; seine Kreationen – statt Trüffel und Kaviar gibt’s Hölzchen und Stöckchen – lässt er auf Brettern und Steinen servieren, und zwar von Kellnern auf Augenhöhe mit dem Gast.

Im Restaurant "Noma" geht’s lässig zu.
Im Restaurant "Noma" geht’s lässig zu.
© Alamy Stock Photo

Hyggeln kann man immer und überall

Die egalitäre Gesellschaft mit flachen Hierarchien ist ein weiterer Grund für das dänische Glücksgefühl. Dass Redzepis Gäste es sich leisten können, 270 Euro für ein Essen auzugeben, sieht man weder ihnen noch dem Lokal an. Protz und Angeberei gelten als extrem unhyggelig. Natürlich fährt Redzepi auch mit dem Fahrrad zur Arbeit, das in Kopenhagen als zentraler Hygge-Faktor gilt. Insbesondere das Lastenrad, in dem man Kinder, Bier und gute Freunde transportiert.

Hygge ist Dänemarks Exportschlager Nummer eins geworden. Wichtigster Abnehmer: Großbritannien. Dort erschienen allein in diesem Jahr ein Dutzend Anleitungen zum Hyggesein, werden Kaschmirpullover und Yogaferien mit Hilfe des magischen Worts verkauft. Dafür können die Dänen nichts. Die Sehnsucht, sich in diesen Schreckenszeiten einzumummeln und nichts mehr zu hören und zu sehen von Krieg und Wahnsinn, ist gewaltig. Kein Wunder auch, dass gerade Briten so scharf darauf sind. „My home is my castle“, die Devise wurde jetzt aufs ganze Land übertragen. Was sie übersehen: dass sie für wahre Hygge auch das Zusammengehörigkeitsgefühl und den Sozialstaat importieren müssten. Der mit gewaltigen Steuergeldern finanziert wird, über die sich die Dänen nicht zu beschweren scheinen.

Hyggeln kann man immer und überall, allein oder mit anderen, wobei gerade der lange Winter und der daraus resultierende Rückzug ins schön gestaltete Heim die naheliegendste Erklärung für das dänische Lebensgefühl ist. Doch das gilt auch für die anderen skandinavischen Länder. Was also ist das Besondere? „Wir haben ein Wort dafür“, sagt Nikolina Olsen-Rule vom Dänischen Designmuseum. Noch dazu ein so lustiges. Wobei die Dänen den Ausdruck gar nicht erfunden haben, das haben die Norweger getan. Er ist verwandt mit dem englischen „hug“, Umarmung – was das Gefühl ziemlich gut trifft.

Kopenhagen ist so klein wie das ganze Land

Auf den Straßen Kopenhagens: Holz, Kerzen und Lastenfahrräder bestimmen das Bild.
Auf den Straßen Kopenhagens: Holz, Kerzen und Lastenfahrräder bestimmen das Bild.
© imago/Dean Pictures

Im Museum (und in vielen Läden) kann man mit eigenen Augen sehen, was dänisches Design so hyggelig macht: Es ist eine Moderne ohne Ecken und Kanten, die fast ganz ohne kaltes Metall auskommt. Tische und Stühle weich geschwungen, natürliche Materialien wie Holz oder Fell, gedeckte Farben. Anstelle von Neonröhren (total unhyggelig) Lampen, die gemütliches Licht geben ohne zu blenden.

„Den menschlichen Maßstab“ hält Nikolina Olsen-Rule für das Geheimnis des dänischen Designs. Die Möbel sind keine Schaustücke, sondern Gebrauchsgegenstände, die funktional, bequem sein sollen. Und Gebrauchsspuren zeigen dürfen.

So wie die ganze Stadt, deren alte Häuser in gedämpftem Orange, Rot und Grün sympathisch ungeleckt aussehen. Als hyggelig bezeichnet Nikolina Olsen-Rule die kleine Hauptstadt mit ihrem Hafen und den Plätzen. Zu Fuß kommt man hier ziemlich weit, Fahrradfahrern wird der rote Teppich ausgerollt. „Städte für Menschen“ hat der Kopenhagener Städteplaner Jan Gehl eins seiner Bücher genannt. Der als Berater weltweit gefragte Architekt hat mitgeholfen, die Lebensqualität durch Verbesserung der Infrastruktur erheblich zu steigern. Wozu nicht nur breitere, sondern auch sicherere Radwege gehören, die mit Bordsteinen vor Autofahrern und Fußgängern geschützt sind.

Kopenhagen ist so klein wie das ganze Land, mit dessen Geschichte die Entwicklung der Hygge viel zu tun hat. Dänemark hat einen Haufen Kriege und viel Land verloren, schrumpfte im Laufe der Jahrhunderte von einer Großmacht zum Kleinstaat. In dem man den Blick dann nach innen richtete und sich, statt zu schmollen oder um sich zu schlagen ob des Bedeutungsverlusts, an den kleinen Dingen des Alltags, an Familie und Freunden freute.

Wohlstand und Wohlbefinden sind nicht automatisch eins

In Deutschland kommt das Phänomen erst allmählich an. (Wobei Neukölln zum Beispiel ziemlich hyggelig ist, so wie der Hipster als solcher.) In Charlottenburg hat ein Einrichtungsladen namens „Hygge“ eröffnet, gerade kam das erste Buch auf deutsch heraus, von Meik Wiking, Leiter des Kopenhagener Happiness-Research-Instituts. Ein Treffen in der Hinterhofbar, ein Vorschlag von Wiking, weil die Lidkøb-Bar vom offenen Kaminfeuer bis zu den Fellen auf den Holzbänken über viele Hygge-Zutaten verfügt.

Wobei sein Institut auch kein schlechter Treffpunkt gewesen wäre. Denn Hygge fängt nicht erst nach Dienstschluss an, es ist „ein 24/7“-Konzept, wie der smarte 37-Jährige betont, der ein Tuch locker um den Hals geschlungen hat. (Lässiges Jackett ist offenbar erlaubt, Krawatte definitiv unhyggelig.) In seinem Büro, wie in vielen Läden der Stadt, brennen Kerzen, können die Mitarbeiter sich an selbstgebackenem Kuchen erfreuen und aufs Sofa lümmeln. Dazu wird Wiking selbst selten kommen. Im November habe er 100 Interviews gegeben, gleich ist die BBC dran. Neben Briten sind es vor allem die Koreaner, die für das Thema brennen. Südkorea ist für Wiking das beste Beispiel, dass Wohlstand und Wohlbefinden nicht automatisch eins sind, Lebensqualität installiert werden muss. Zu viel Arbeit, zu wenig Freizeit, Konkurrenzdenken und Neid seien dort sehr ausgeprägt.

Aus diesem Grund erklärt Wiking auch Facebook zum Hygge-Feind. Weil das soziale Netzwerk bei den einen die Angeberei, bei den anderen Neid fördert. Und weil es ablenkt vom Leben. „Im Moment sein“ definiert Wiking als wesentliches Element der Hygge. Es reicht nicht, sich etwas zu gönnen, sei es ein teures Designerteil oder eine geschmorte Schweinebacke – man muss es auch genießen. Und dankbar sein.

Humor gehört zur Hygge dazu

Für ein richtiges Essen reicht nach dem Gespräch die Zeit nicht mehr, aber was soll’s, spart Geld. In Kopenhagen ist das Glück teuer. Und das Noma ist eh ausgebucht; Silvester will Redzepi es schließen, um es neu zu erfinden. Stattdessen also: ein Bacondog an der Bude, immerhin mit Blick auf den weihnachtlich erleuchteten Tivoli. Und Schweinefleisch gilt in Dänemark, genau wie Zucker, als besonders hyggeförderlich. Merkwürdig nur, bemerkt Michael Booth in seinem Buch „The Almost Nearly Perfect People – Behind the Myth of the Scandinavian Utopia“, dass man trotz des gigantischen Konsums praktisch nirgendwo im Land Schweine sieht.

Booth gehört zu den Entzauberern des dänischen Glücks, der Brite weist auf hohe Scheidungsraten und geringe Lebenserwartung hin. Wobei Kinogänger schon lange wussten, dass es in Dänemark nicht immer kuschelig zugeht, den Dogma-Filmern sei Dank. Booths Buch gibt es am Flughafen zu kaufen, es liegt zwischen den englischsprachigen Wohlfühl-Ratgebern, die sich oft lesen wie ihre eigene Parodie.

Aber vorher reicht die Zeit noch für einen letzten Drink an einem der von Wiking empfohlenen besonders hyggeligen Orte Kopenhagens: der Library Bar im Plaza Hotel, vis à vis vom Hauptbahnhof. Eine holzgetäfelte Bibliothek, mit alten Büchern und Gemälden, lauschig beleuchtet. Weil in der kleinen Bar kein Platz ist, einen Tannenbaum aufzustellen, hat man ihn einfach kopfüber von der hohen Decke gehängt, mit Kugeln und allem Drumunddran. Humor gehört zur Hygge dazu. Heitere Gespräche erfüllen den Raum. Es wird nicht allein am Alkohol liegen: dass in der Bibliotheksbar tatsächlich lauter glückliche Menschen sitzen.

Reisetipps für Kopenhagen

ANREISE
Direktflüge mit Easyjet (ab 45 Euro hin und zurück) oder Norwegian ab Schönefeld, mit Air Berlin ab Tegel.

UNTERKUNFT

Das wohl hyggeligste Hotel der Stadt ist auch das exklusivste: Das Central Hotel in Vesterbro hat nur ein (gemütliches) Zimmer, mit angeschlossenem Café. Tullinsgade 1, centralhotelogcafe.dk. Inklusive Frühstück (das im Café Granola, Værnedamsvej 5 serviert wird) 240 Euro.

TRINKEN

Lidkøb Bar, Vesterbrogade 72 B (Hinterhof), lidkoeb.dk

Library Bar im Plaza Hotel, Bernstorffsgade 4, librarybar.dk

BESICHTIGEN

Designmuseum Danmark, Bredgade 68, designmuseum.dk. Dort gibt es auch (gratis) einen Designführer für Kopenhagen.

HAUSBESUCH

Wer ins Zentrum der Hygge vordringen möchte, kann sich über „Meet the Danes“ selber einladen: Die Organisation vermittelt Abendessen bei Familien zu Hause (65 € pro Person). Eine „gemütliche Umgebung“ wird garantiert. meetthedanes.com.

LEKTÜRE

Meik Wiking: Hygge. Ein Lebensgefühl, das einfach glücklich macht. Lübbe, 288 S., 20 €

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