Arbeitsmigranten in Berlin: Die obdachlosen Polen vom Ostbahnhof
Dominika und Krzysztof leben zwischen Bierflaschen und feuchter Pappe. Zwei von tausenden polnischen Obdachlosen in Berlin. Nüchtern sind sie fast nie – nun wird's lebensgefährlich. Ein Tag vor Ort.
Als die S-Bahn am Berliner Ostkreuz anfährt, also für ein, zwei Sekunden ruckelt, will er sich einfach nicht mehr festhalten. Zu betrunken, zu fertig, zu egal. Und so lässt er die Haltestange los, fällt sofort um, legt seine verschorfte Wange auf dem S-Bahn-Boden wie auf einem Bettlaken ab und ist still.
Zwei junge Lockenköpfe mit Limo-Dosen sehen sich fragend an, ein Mädchen mit Kopftuch murmelt „Assi“, während der geruchsintensive Mann auf dem Boden der S 5 döst. Ein zottliger Begleiter stolpert auf ihn zu, zischt: „Kurwa!“
Dieser Fluch ist in Berliner Zügen, unter Brücken, in Parks oft zu hören. Kurwa ist ein polnisches Schimpfwort, das „Hure“ bedeutet, und im Sinne von „Scheiße!“ von Frauen und Männern gleichermaßen genutzt wird.
Die beiden Betrunkenen steigen am Ostbahnhof aus der S-Bahn. Und nicht nur sie. Männer in abgewetzten Mänteln taumeln im Neonlicht zum Parkdeck. Im Halbdunkel legen sie sich auf Ikea-Taschen, Pappen, Schlafsäcke. Spätherbst, 23 Uhr, endlich: zu Hause.
Hunderte Obdachlose leben am Ostbahnhof. Überwiegend stammen sie aus Polen. Im Parkdeck, auf Treppen, am nahen Spreeufer trinken, rauchen, zanken sie. Sammeln Pfandflaschen, suchen Fastfood-Reste, werden beim Stehlen in den Bahnhof-Supermärkten erwischt. Dort steht ein polnischer Sicherheitsmann.
Die meisten Wohnungslosen - Bundesbürger, Eingereiste aus der Europäischen Union, anerkannte Flüchtlinge - leben in Heimen. Darüber hinaus ziehen geschätzt 5000 Männer, Frauen, wohl auch einige Kinder ohne Obdach durch Berlin. Unter ihnen, sagen Helfer, Beamte, Ärzte, stammt jeder Zweite aus Polen. Zuletzt hieß es - unklar, ob das stimmt - polnische Obdachlose hätten Schwäne im Tiergarten gegessen.
Nicht alle Obdachlosen schaffen es in die 700 Notschlafplätze, die von der Stadtmission, den Kirchen, dem Roten Kreuz und der gemeinnützigen Gebewo organisiert wurden. Einigen droht nun der Kältetod.
Warum haben sie Polen verlassen? Wie leben sie in Berlin? Was hoffen sie?
Also erneut zum Ostbahnhof, ein paar Tage nachdem sich die Männer aus der S-Bahn dort schlafen legten. Unter den Treppen feuchte Kartons, Plastiktüten, es riecht nach kalter Asche. Im Parkdeck ist Brabbeln zu hören, auf der Wiese davor Gelächter. Zehn Polen sitzen im Halbkreis, drei Rumänen laufen vorbei, nicken ihnen zu. Oben stehen zwei Letten. Manchmal, sagen die Polen, kommen Bulgaren und Ukrainer. Streit gibts selten. Man geht sich aus dem Weg.
Nirgendwo lässt's sich so gut durch den Tag kommen wie in Berlin. Sagt Dominika, 36 Jahre, zweifache Mutter aus Südpolen, seit 2013 obdachlos.
Ich mag Berlin, zurück geh ich nicht! Sagt Krzysztof, 22, als Schüler aus der Nähe von Lodz aufgebrochen, seit sechs Monaten auf der Straße.
Nach der Armee kam ich nicht klar - und in Berlin gab's Jobs. Sagt Rafael, 41, aus Zentralpolen, der noch im Zimmer der Freundin schläft.
Zum Schutz der Vagabunden vom Ostbahnhof werden deren Nachnamen hier nicht genannt. Dominika steht als einzige Frau im Mittelpunkt. Kaffee will sie nicht, aber für ein paar Bier wäre sie Krzysztof brüllt: „Aber dann bin ich dran!“ Dominika nickt gönnerhaft, alle reden durcheinander, nur Rafael schaut zu, bis Dominika am „Sternburg“ nippt und vergleichsweise sortiert loslegt: „Mein Mann hatte Geld. Ich war Lebensmitteltechnikerin, blieb aber mit den Kindern zu Hause.“ Mitleid ist unangebracht, sagt sie, in Polen trank sie tagsüber, kiffte, die Familie zerbrach, die Kinder nahm das Amt. „Und irgendwann bin ich eben nach Berlin gefahren.“
Dominika fing als Burger-Braterin an, wurde unpünktlich, verlor den Job, die Wohnung, gab 2013 die letzten 300 Euro nicht für Zwischenmiete und Bewerbungen aus, sondern für eine Fahrt zum Vatikan - mit Besäufnis in Rom. Seitdem: Pfandflaschen, Klauen, selten Betteln.
Dominika muss nicht jedem sympathisch sein. Und als Stellvertreterin für die obdachlosen Polen in Berlin, von denen die allermeisten Männer sind, taugt sie kaum. Überprüfen lassen sich all die Angaben ohnehin nicht. Doch Dominika ist redselig, bereit, den biografischen Weg, der zum Parkdeck führte, zu reflektieren. Dominika - rote Finger, braune Zähne, fahle Haut - spricht zudem Englisch. Nur wenn sie umständlich von Trips durch Belgien und Österreich erzählt, wird aus dem Polnischen übersetzt. „Immer ohne Fahrschein“, sagt Dominika. „Flog ich aus'm Zug, egal!“
Die Übersetzerin schmunzelt, es ist ein bitteres Schmunzeln. Auch sie ist Mitte 30, kam einst aus den Masuren. Doch baute sie in Berlin erfolgreich Start-ups auf und kennt die anderen Polen - diejenigen, die der mondänen Jugend das „Tyskie“ und die Piroggen nahebrachten. Vergangenes Jahr waren 107000 Polen in Berlin gemeldet, dazu kommen genauso viele Deutsche mit polnischen Papieren. Ohne sie funktionieren Hotels, Kliniken, Handel schon lange nicht mehr.
„Meine Schwester lebt gut in Berlin“, sagt Dominika. „Ich könnte aussteigen.“
Vielleicht. Obdachlosigkeit fängt meist mit Dramen an. Tod eines Partners, Scheidung, Kündigung, Unfall, Krankheit - oft schwere, psychische Leiden. Dominika etwa erzählt von ihrem Vater, der sich in den 80ern erhängte. Dann jedoch fällen die Betroffenen naive, oft einfach dumme Entscheidungen. Papiere und Handy hat Dominika längst verloren, statt Arbeitszeugnisse sammelt sie Schulden und Vorstrafen. Zuletzt war sie im Sommer beim Arzt - in der Haftanstalt, wo sie eine unbezahlte Geldstrafe absaß.
Im Sommer schläft Dominika unter freiem Himmel, im Winter auch mal in einer Kirche. Der Steinboden am Parkdeck ist feucht, in ein paar Stunden gibt's erste Minusgrade. Wo sie nächtigt? „Keine Ahnung, wird schon ...“
Das Geld ist oft verplant - und dann geht alles schief
Zwei Kilometer weiter in Kreuzberg sitzt Witold Kaminski, 69, im Büro des Polnischen Sozialrates. Kaminski lebt seit 1981 in Berlin und hilft denjenigen, die sich im aktenaffinen, regelintensiven Deutschland schwertun. „Schon bevor die Leute scheitern, wenn sie sich noch rasieren und nicht so viel trinken, brauchen sie Hilfe, sagt Kaminski am Telefon. „Viele verplanen das Geld, das sie in Berlin verdienen wollen.“ Klappt der Job nicht oder betrügt der Auftraggeber sie um den Lohn, sind sie sofort verschuldet. Treffen die Gescheiterten dann die falschen, weil nur auf den ersten Blick richtigen Landsleute - Kreditvermittler, Schwarzhändler, Hehler - droht der Absturz. Auf der Straße gewöhnen sie sich an Dreck, Suff, Verachtung.
Berlin ist nah, anonym und wohlhabend, zumindest aus Sicht kleinstädtischer Polen. Dass man sich hier hocharbeiten muss, dass der Arbeitsmarkt nicht immer allen offensteht, spielt in polnischen Medien kaum eine Rolle. In Polen, das bestätigen Sozialexperten beider Länder, gelten zudem härtere Regeln: Betrunkene müssen Heime verlassen, Beamte verweisen prügelnde Väter aus Wohnungen, von Pfandflaschen kann niemand leben. Also ab nach Berlin?
So einfach ist es nicht. Sagt Petra Schwaiger im Büro der „Frostschutzengel“ am Tiergarten. Die Frostschutzengel fahren in Notunterkünfte, um den Abgehängten dort Ärzte, Wohnungen, Hilfe zu vermitteln. Polen haben Rechte, sagt Schwaiger, sie sind Bürger der Europäischen Union, einer von Deutschland gewollten Staatengemeinschaft - als Steuerzahler sind Polen ja auch willkommen. Ihnen steht eigentlich ein „diskriminierungsfreier“ Zugang zum Arbeitsmarkt zu, auch wenn sie erst mal erwerbslos sind.
Dominika etwa hat unkluge Entscheidungen getroffen. Anders als Deutsche, die Unkluges tun, bekommt sie Hartz IV nur, wenn sie im Land sechs Monate regulär gearbeitet hat. Dafür, glaubt sie, reicht's nicht. Und viele in der Parkdeck-Runde haben schwarz auf dem Bau geschuftet. Ihnen bleibt nichts. Die Bundesregierung möchte die Frist, ab der Sozialleistungen beantragt werden können, sogar auf fünf Jahre erhöhen.
Krzysztof hört angestrengt zu, manchmal scheint er wegzudämmern. Als er in Polen mit 18 von der Schule ging, flog er erst mal nach England. Sein Vater lebte dort, wohin fast eine Millionen arbeitssuchende Polen gezogen waren. Nur hatte es sein Vater nicht zum erhofften Wohlstand gebracht, er schmiss den Sohn raus. Krzysztof ging nach Berlin.
Er fing bei einer Hausmeisterfirma an, lebte mit einem Freund zusammen, feierte, gab allen Lohn aus. So wie Hunderttausende andere. Doch anders als die meisten hörte Krzysztof nicht mit dem Feiern auf. Nicht als der Job, die Wohnung weg waren, als er in Rettungsstellen landete, als er im Frühjahr das erste Mal betrunken draußen schlief.
„Hey! Kurwa!“ Ein Mützenträger greift nach den leeren Flaschen zwischen Dominika und Krzysztof. Dominika hat in den Ostbahnhof-Läden, na klar, Hausverbot - das Pfand will der Mützenträger holen. Krzysztof passt das nicht, er schnellt hoch, setzt sich wieder: „Wo waren wir stehen geblieben?“
Beim Rausch. „Ich trinke jeden Tag“, sagt Krzysztof. „Und ich nehme alles, was ich kriege.“ Hasch, Speed, Crystal. Vielleicht hält er so die feuchte Kälte aus. Wie letzte Nacht, als er bei null Grad in einem Hauseingang schlief. Und diesen Abend? „Ich find schon was.“ Es ist sein erster Winter draußen.
Der Rausch führt zu Selbstüberschätzung. Betrunkene - ohnehin schlecht durchblutet - merken nicht, wenn das Gewebe an Händen und Zehen schon stirbt. Fast jedes Jahr erfrieren Obdachlose. Im Winter gibt es deshalb die Kältehilfe. Das sind die oft überfüllten Schlafplätze engagierter Helfer, ohne die jeden Winter viel mehr Menschen erfrören.
Im Speisesaal riecht es nach Desinfektionsmittel
In der bekannten Stadtmission an der Lehrter Straße sind jede Nacht die 120 Plätze belegt - kürzlich, da gab es draußen noch keinen Frost, haben die Helfer 200 Männer und Frauen untergebracht. Die Betten reichten nicht, einige schliefen im Aufenthaltsraum. Das Geld vom Senat - zu wenig, ohne Spenden und Ehrenamtliche klappt das alles nicht. In der Kältehilfe werden keine Ausweise verlangt. „Wir nehmen volltrunkene Menschen auf, die sich eingekotet haben“, sagt Ortrud Wohlwend von der Stadtmission. „Immer wieder kommen Leute mit Krätze.“ Im Speisesaal riecht es nach Desinfektionsmittel, ein weißes Kreuz steht an der Wand. Darauf Zettel mit den Namen verstorbener Bekannter, viele Polen, oft in ihren Fünfzigern.
Sozialsenatorin Elke Breitenbach, Linke, will die Kältehilfeplätze auf 1000 erhöhen. Das wären immer noch zu wenig, aber in anderen Städten gibt es weniger Hilfe. In diesen Tagen fahren zudem Sozialarbeiter im Kältebus die Brücken, Parks, Bahnhöfe ab. Wen immer sie in Not finden, dem bieten sie Tee und eine Fahrt zum Notschlafplatz an.
Doch am Parkdeck wollen sie alle so lange wie möglich im Freien bleiben. Auch bei Schnee gibt es in der Stadt wohl Hunderte, die jedes Obdach ablehnen. Weil sie allein sein, aber keine Dusche wollen. Weil sie Dunkelheit, aber nicht die Laternen fürchten. Weil sie Psychosen haben oder allem Offiziellen misstrauen. Viele Obdachlose - wie viele genau, ist unbekannt - leiden am Korsakow-Syndrom. Der Alkohol hat Gehirn und Nerven so beschädigt, dass Erinnerung, Sprache und Orientierung auch nüchtern nicht voll funktionieren.
Der Mützenträger ist zurück. Übers gesammelte Pfand wird in Slang-Polnisch diskutiert. Am Supermarkt stehen fast 20 Obdachlose vor dem Flaschenautomaten. Die Maschine ist blind, vom Geruch nicht irritiert, ihr Laser liest zügig den Flaschen-Barcode aus, Bon raus. Fertig.
Draußen öffnen Dominika und Krzysztof, die Lauten der Truppe, noch ein Bier. Erst jetzt sagt Rafael etwas. Er hat mit der polnischen Armee in Afghanistan gekämpft. Dann mit seiner Ex-Frau ein Kind bekommen, dem Trennung und Unterhaltsforderungen folgten. In Deutschland dann Schwarzarbeit auf dem Bau. Nach Polen kann er nicht zurück, sagt Rafael, zumindest wegen der Schulden. In Berlin hat er eine Freundin, die im Krankenhaus liegt, Tumor. Und er dürfe sie nicht besuchen! „Kann man nix machen?“ Unverheiratet - dann ist es schwierig. Noch schläft er in ihrer Wohnung, allein kann er sich die nicht leisten. Tagsüber hängt er am Ostbahnhof rum. So fängt es an. Und wie geht's weiter?
Erst mal, das vermuten sie beim Polnischen Sozialrat, in Ämtern und am Parkdeck, kommen mehr Polen. Nach dem Brexit-Votum ist die Stimmung in Großbritannien aggressiv. Davor hatte die Regierung in London die Leistungen für EU-Ausländer gekürzt. Zudem müssen sie vier Jahre gearbeitet haben, wenn sie Sozialleistungen wollen. Diejenigen, die auf der Insel kein guter Job hält, machen sich auf. Einige nach Deutschland.
Dominika sagt, sie habe keine Wünsche über den Tag hinaus. „Noch kann ich so leben. Aber wenn es härter, schlimmer wird, bleibt nichts. Freundschaften gibt's auf der Straße nicht.“
Krzysztof ist fast weggedöst, reißt den Kopf hoch, starrt auf den Bahnhof und sagt, wie nach reiflichem Grübeln: Er könnte bald tot sein. Das letzte Mal in der Klinik war's schon knapp.
Rafael geht fünf Meter zur Seite. Dann, leise: „Ich achte darauf, nicht so viel zu trinken. Ich will mich zusammenreißen.“ Morgen wird er sich rasieren. Und vielleicht noch mal nach einem Job gucken.