Tag 3 im Lübcke-Prozess: Der Sinneswandel des Stephan Ernst
Stephan Ernst widerruft sein Geständnis und bezichtigt seinen Mitangeklagten, Walter Lübcke erschossen zu haben. Die neue Version ist voller Widersprüche.
Woran erkennt man, wann jemand lügt? Und woran, wann er die Wahrheit sagt? Das sind die zwei Fragen, die über allem stehen an diesem Dienstag in Frankfurt, Prozesstag Nummer drei im Mordfall Walter Lübcke. Auf der Anklagebank hat wieder Stephan Ernst Platz genommen, die Haare frisch geschnitten, der dunkle Anzug wie an den ersten beiden Prozesstagen vor zwei Wochen etwas zu weit.
Der Generalbundesanwalt ist überzeugt, dass es Ernst war, der den Kasseler Regierungspräsidenten am 1. Juni 2019 auf dessen Terrasse in Istha erschossen hat. Hauptsächlich stützen sich die Ankläger dabei auf das Geständnis, das Ernst wenige Wochen nach der Tat abgegeben hatte.
Das Video dieses Geständnisses führte der Staatsschutzsenat unter Vorsitz des Richters Thomas Sagebiel am zweiten Prozesstag vor knapp zwei Wochen vor – und Ernst schilderte darin detailliert, wie er sich Waffen besorgte, das Haus seines Opfers auskundschaftete und wie er am Ende Walter Lübcke erschoss.
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Die Aufnahme glich einer Lebensbeichte, Ernst sprach von schweren Fehlern, die er in seinem Leben gemacht habe. Während das Video lief, brach er in Tränen aus. Am Ende sagte er: „Es tut mir unendlich leid, was ich getan habe, dass ein Mensch sterben musste, weil er die falschen Worte gesagt hatte.“
Die Wahrheit? Eine Lüge?
Nun, am dritten Prozesstag, blicken Angeklagte und Verteidiger, Ankläger und Familie Lübcke erneut hinauf zur Videoleinwand, die ein Prozesshelfer ausrollt. Gleich soll dort oben ein zweites Video gezeigt werden, aufgenommen am 8. Januar 2020. Und Stephan Ernst will darin plötzlich nicht mehr der Mörder von Dr. Walter Lübcke sein.
Nicht Ernst, sondern sein Mitangeklagter Markus H. sei der Mörder
Das Video zeigt Ernst im schwarzen Trainingsanzug, gelber Streifen auf der Brust, die Ärmel aufgekrempelt. Er sitzt auf einem weinroten Stuhl im Polizeipräsidium Kassel, die Hände zunächst gefesselt, später öffnet ihm ein Wachtmeister die Handschellen.
Mehrere Kameras sind auf Ernst gerichtet, neben ihm sitzt sein Verteidiger Frank Hannig. Hannig hatte nach Ernsts erster Vernehmung moniert, diese sei unzulässig gewesen, Ernst habe unter Medikamenteneinfluss gestanden, habe drei Tage nicht geschlafen. Der Ermittlungsrichter des BGH, der die Befragung durchführt, fragt Ernst nun zunächst, wie er sich fühle. „Okay“, sagt der. Ob er Medikamente genommen habe? „Ja, Sertralin, etwa 25 mg, heute morgen, 6 Uhr.“ Ein Antidepressivum, aber das sei in Ordnung, er wolle aussagen. Dann beginnt Ernst mit monotoner Stimme seine Erklärung zu verlesen.
Zusammenfassen lässt sich dessen zweite Einlassung wie folgt: Nicht er, Ernst, habe Lübcke erschossen, sein früherer Freund Markus H. sei es gewesen, vom Gericht lediglich angeklagt wegen Beihilfe zum Mord an Lübcke. Gemeinsam habe man in einer Waschanlage am 1. Juni 2019 zunächst falsche Nummernschilder auf Ernsts VW Caddy geschraubt, sei dann nach Istha zu Lübcke gefahren mit dem Ziel, diesem „eine Abreibung zu verpassen“.
Der wuchtige CDU-Politiker habe auf der Terrasse seines Anwesens gesessen, das Smartphone in der Hand, so rekapituliert es Ernst im Video. Beide, Ernst und H. hätten sich ihm genähert, H. habe die Waffe gezogen, den Hahn gespannt, und gerufen: „So Lübcke, Zeit zum Auswandern.“ Er, Ernst, habe an Lübcke gerichtet hinzugefügt: „Für sowas wie dich gehe ich jeden Tag arbeiten.“
Diesmal keine Tränen
Während der Stephan Ernst auf der Videoleinwand seine Erklärung verliest, blickt der Stephan Ernst im Gerichtssaal stoisch hinauf. Als vor zwei Wochen sein erstes Geständnis abgespielt wurde, fiel Ernst wieder und wieder aus der Rolle, er weinte, der Bundesanwalt brachte ihm ein Taschentuch. Heute bleiben seine Augen trocken.
Auch Markus. H, der Mitangeklagte, bleibt ruhig, wirkt fast unangetastet, gar nicht so, als ginge es hier um ihn. Nie dreht er sich um zu Ernst, auch der meidet den Blick seines früheren Freunds. Die Freundschaft der beiden ist abgekühlt, seit Ernst H. bezichtigt, der Schütze gewesen zu sein. Im Video erklärt er nun, wie es zu diesem Schuss gekommen sei. Walter Lübcke, sagt Ernst, habe aufstehen wollen aus seinem Gartenstuhl, aber er, Ernst, habe ihn zunächst zurückgedrückt, sei dann einen Schritt zurückgegangen, um Anlauf zu holen für einen Tritt gegen Lübckes Oberkörper.
Der habe gerufen: „Verschwinden Sie!“ Während Lübcke abermals versucht habe, sich aufzurichten, sei der Schuss gefallen. Unabsichtlich, so habe H. es Ernst später im Auto auf der rasenden Rückfahrt geschildert. Und zu ihm gesagt: „Wir bleiben cool, wir pokern bis zum Ende.“
Kein schlüssiges Geständnis
Mehr als vier Stunden dauert dieses zweite Geständnis. So detailliert, auch emotional schlüssig wie das erste ist es längst nicht. Viele Antworten gibt Ernst erst auf Nachfrage, oft stockt er sekundenlang, benutzt dutzendfach die Füllfloskel „Ich sag mal“, wiederholt bereits Gesagtes. Immer aufgebrachter wird neben ihm Verteidiger Hannig.
An den Ermittlungsrichter gerichtet sagt Hannig, Ernst habe ihm gegenüber viel klarer formuliert, was wirklich vorgefallen sei. An seinen Mandanten gerichtet sagt er sinngemäß, dieser solle sich jetzt mal zusammenreißen und flüssiger berichten, was vorgefallen sei. „Es geht hier um Ihren Arsch!“
Der Ermittlungsrichter legt die Widersprüche in Ernsts Einlassung offen: Warum Ernst H. nicht zur Rede gestellt habe nach dessen unabsichtlichem Schuss, warum er nicht ausgeflippt sei? Warum sich bei einem erfahrenen Schützen wie H. überhaupt ein Schuss habe lösen können?
Warum Ernst die Mordwaffe nicht verschwinden ließ, sondern sie putzte und aufbewahrte? Und schließlich, darin sieht der Ermittlungsrichter im Video „einen Fundamentalwiderspruch“: Warum habe Ernst im Sommer einen Mord gestanden, den er laut neuer Aussage gar nicht begangen haben will?
"Ein Fundamentalwiderspruch"
Stephan Ernst erklärt dazu, sein erster Verteidiger, Dirk Waldschmidt, ein rechter Szeneanwalt, habe ihn zu der Falschaussage gedrängt. Dieser habe ihm gesagt, das juristisch einzig Sinnvolle sei ein Geständnis, schließlich hätten die Ermittler Ernsts DNA am Tatort gefunden. Waldschmidt habe ihn, Ernst, dann überredet, Markus H. aus allem rauszuhalten, das gebiete der Ehrenkodex. Im Gegenzug habe Waldschmidt versprochen, Ernsts Familie zu beschützen, auch dabei zu helfen, das Haus abzubezahlen, wenn Ernst in Haft käme.
Eine Erklärung, die den Ermittlungsrichter abermals nicht überzeugt. Er habe H. ja raushalten können, aber er habe doch auch sagen können, der Schuss habe sich unabsichtlich gelöst? Warum Ernst sich stattdessen mit dem gestandenen Mord maximal selbst belastet habe?, fragt er den Angeklagten.
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Auch hierzu sagt Stephan Ernst zunächst nur Unzusammenhängendes. Auf abermalige Intervention Hannigs gibt er schließlich an, damals nicht ganz Herr seiner Sinne gewesen zu sein. Er habe im Angesicht der Katastrophe als eine Art Märtyrer gelten wolle, ein Held der rechtsextremen Szene. Er habe gar darauf vertraut, dass er, sollten die politischen Verhältnisse im Land sich ändern, schnell wieder freikomme.
Auch diese Aussage kauft ihm der Ermittlungsrichter nicht ab. „Ich glaube nicht, dass Sie uns schon alles gesagt haben“, sagt er im Video. Als dieses endet, kurbelt im Gerichtssaal 165 der Prozesshelfer die Leinwand nach oben. Ob darauf an diesem Tag die Wahrheit gezeigt wurde? Schwer vorstellbar.
Immerhin: Stephan Ernst ließ schon vor Abspielen des Videos verkünden, dass er sich im weiteren Verlauf des Prozesses noch einmal ausführlich und umfassend äußern wolle. Schriftlich. Und, so bleibt zu hoffen, wahrheitsgemäß.
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