Getöteter Kasseler Regierungspräsident: Mordverdächtiger im Fall Lübcke bezichtigt Komplizen
Der Hauptverdächtige im Mordfall Walter Lübcke streitet eine Verantwortung ab: Sein Komplize Markus H. habe den Politiker „versehentlich erschossen“.
Er gestand, er widerrief, er äußerte sich vage gegenüber einem Fernsehmagazin. Nun gibt es den vierten Akt. Der Neonazi Stephan Ernst hat am Mittwoch bei einer erneuten Vernehmung bestritten, die tödlichen Schüsse auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke abgegeben zu haben. Im Polizeipräsidium Nordhessen bezichtigte er stattdessen Komplizen des Mordes. Das erklärte sein Anwalt Frank Hannig am Mittwoch in Kassel.
Ernst sei mit dem Komplizen Markus H. zu Lübcke gefahren, um diesem eine „Abreibung“ zu verpassen, sagte Hannig. Dort habe H. Lübcke aus Versehen erschossen, sein Tod sei nicht geplant gewesen.
Dass Ernst nicht alleine für den Mord verantwortlich sein will, war zuvor schon offenkundig geworden. Hannig hatte im November angedeutet, ein zweiter Mann könnte beteiligt gewesen sein. Die Bundesanwaltschaft geht bislang davon aus, dass nur Ernst in der Nacht zum 2. Juni 2019 am Tatort war und Lübcke auf der Terrasse von dessen Haus im nordhessischen Wolfhagen mit einem Schuss in den Kopf tötete. Am 15. Juni nahm die Polizei den Neonazi fest, eine Hautschuppe von Ernst auf der Leiche war ein gravierendes Indiz für die Täterschaft.
Markus H. und Elmar J., zwei Ende Juni festgenommene Rechtsextremisten, stehen bisher nur in Verdacht, an der Beschaffung der Tatwaffe beteiligt gewesen zu sein. Markus H. soll für Ernst den Kontakt zum Waffenhändler Elmar J. hergestellt haben, der dann den Revolver Kaliber 38 an Ernst verkauft haben soll. Die Rolle von H. könnte allerdings schwerwiegender gewesen sein, auch wenn er nicht am Tatort gewesen sein sollte. Der Bundesgerichtshof sagte im August im ablehnenden Beschluss zu einer Haftbeschwerde von H., dieser habe Ernst in seinem Willen bestärkt, ein Attentat „tatsächlich auszuführen“.
Im Geständnis sagte Ernst nichts über einen Mittäter
Im Juni hatte Ernst zunächst gestanden, Lübcke erschossen zu haben. Von einem Mittäter sprach der Neonazi jedoch nicht. Ernst führte die Polizei sogar zu einem Erddepot, in dem der Revolver und vier weitere Waffen lagen, darunter eine Pumpgun und eine israelische Maschinenpistole vom Typ Uzi. Der Neonazi wechselte dann allerdings seinen Anwalt. Nachdem Frank Hannig die Verteidigung übernommen hatte, widerrief Ernst sein Geständnis.
Im November sagte Hannig dann dem ARD-Magazin „Panorama“, man werde kaum davon ausgehen können, „dass Herr E. mit der Tat nichts zu tun hat“. Die Erwartung, „er würde jetzt plötzlich sagen, er war überhaupt nirgendwo dabei, dürfte unrealistisch sein“. Ernst selbst beantwortete auch schriftlich Fragen von „Panorama“, allerdings nicht zur Tat.
Doch zumindest indirekt hatte Ernst seinen Bekannten und Gesinnungsgenossen Markus H. schon zuvor belastet. „Er brachte die Waffen ins Spiel, er verknüpfte sie ständig mit politischen Themen“, teilte Ernst mit. Markus H. habe „sein Umfeld immer aufgestachelt“. Den Kontakt zu H. bezeichnete Ernst als „entscheidendes Verhängnis“.
Ebenfalls im November stellte Anwalt Hannig mehrere Beweisermittlungsanträge, damit die Bundeswaltschaft und die Soko „Liemecke“ des hessischen Landeskriminalamts nach DNA-Spuren eines Mittäters suchen. Hannig deutete an, das könnte Markus H. gewesen sein. Doch die Ermittler fanden offenbar nichts, was Markus H. über die bekannten Vorwürfe hinaus belastet hätte.
Ernst und Markus H. waren gemeinsam bei Lübckes Rede
Bekannt ist allerdings, dass Markus H. gemeinsam mit Stephan Ernst im Oktober 2015 bei einer Rede von Lübcke war, die bei den Neonazis Wut auslöste. Der Regierungspräsident verteidigte bei einer Einwohnerversammlung im Kasseler Vorort Lohfelden sein Engagement für die Aufnahme von Flüchtlingen. Als Rechtspopulisten und Rechtsextremisten lautstark protestierten, beschied ihnen Lübcke, „es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist“.
Die Äußerung habe Ernst derart erzürnt, „dass er beinahe die Fassung verloren hätte“, steht in dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom August zur Ablehnung der Haftbeschwerde von Markus H. Auch H. sei „in hohem Maße verärgert“ gewesen, heißt es. Ernst hatte in seinem Geständnis vom Juni Lübckes Ansprache als einen Grund für den Mord genannt.
Selbst wenn es Ernst gelingen sollte, Markus H. als Mittäter zu belasten, droht ihm eine Verurteilung zu lebenslanger Haft. Nicht nur wegen des Attentats auf Lübcke. Ernst, mehrfach vorbestraft wegen rechter Gewalttaten, soll im Januar 2016 einen Iraker niedergestochen haben. Die Bundesanwaltschaft zog im September die Ermittlungen auch in diesem Fall an sich – wegen des Verdachts, bei dem bislang nicht aufgeklärten Angriff auf den Flüchtling sei Ernst der Täter gewesen.
Demnach soll sich der Neonazi in Lohfelden auf einem Fahrrad dem Iraker genähert und ihm von hinten in den Rücken gestochen haben. Das Opfer erlitt eine schwere Verletzungen. Ernst soll nach der Tat weitergeradelt sein. Die Bundesanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts auf versuchten Mord, verübt aus rechtsextremistischem Hass.