Schlemmen in Flandern: Brügge sehen und Schokolade essen
Hier gibt es mehr Schokoladenläden als Apotheken. Marzipan mit Wasabi, Karamell mit Cabernet. Die Flamen haben den Kakao im Blut.
Dominique Persoone öffnet die Tür zu seinem Laden „The Chocolate Line“. Ein Mädchen, etwa zwölf Jahre alt, hält vor der Auslage mit den Dutzenden von Pralinensorten inne, sie quiekt – leise und kurz. Der 47-jährige Chocolatier guckt sie an: „Willst du ein Foto?“ Das Mädchen nickt, Persoone grinst, das Handy klickt.
Persoone ist der Rockstar unter den Schokoladenmachern Belgiens. Dem Land, in dem 1912 die Praline erfunden wurde. Er tritt regelmäßig im Fernsehen auf, mischt in seine Kreationen schon mal Cannabis oder Blumenkohl. Er produziert sie in Form von knallgelben Giftfröschen oder Totenköpfen, hat dafür einen Michelin-Stern erhalten – und den Rolling Stones eine „Kakaoschleuder“ für die Nase entworfen. Die gibt es auch im Stammsitz in Brügge zu kaufen, mit ihr kann man eine speziell angesetzte Kakaopulvermischung direkt in die Nase katapultieren. Die Botschaft ist glücks- wie gesundheitsfördernd: Schnüffelt mehr Kakao und weniger Kokain!
Brügge hat sich darauf eingestellt. Die Stadt in Westflandern hat mehr Schokoladengeschäfte als Apotheken. 50 Läden kommen auf knapp 120 000 Einwohner. Von denen allein können die Chocolatiers nicht leben: Die Touristen sichern deren Existenz. Zuletzt strömten 1,7 Millionen Reisende in die Stadt, trotz eines Einbruchs nach dem Terroranschlag in Brüssel sind das 500 000 mehr als 2001.
Überall im Zentrum locken die Geschäfte mit Kakaokreationen
Die Stadt ist schick saniert, es gibt verwitterten Backstein und verwinkelte Häuser, alles fotogen und aus der Zeit gefallen: der imposante Turm des Belfried, der wie eine Vision von Tolkien aussieht und schon 700 Jahre vor „Der Herr der Ringe“ erdacht wurde, die düsteren Pflastersteingassen mit wenigen Laternen, die eine passende Kulisse für den Thriller „Brügge sehen ... und sterben?“ abgaben.
Im mittelalterlichen Zentrum vergeht kaum eine Minute, ohne dass flanierende Besucher an einem Laden mit Kakaokreationen vorübergehen. Im traditionellen „The Old Chocolate House“ dampft dickflüssige heiße Schokolade in den Tassen. Beim Traditionshersteller Depla gibt es den Kakao mit Bitterschokoladenstücken, die an einem Holzstiel aufgespießt sind und langsam in der warmen Milch zerfließen, die „Choco Jungle Bar“ bietet Schokomuffins in einem falschen Baumhaus unter einer echten Anakonda an. Die Schlange räkelt sich unter der Decke an einem Baum. Demnächst will das Biermuseum Food-Pairing-Abende mit Bier und Schokolade organisieren.
Bei Dominique Persoone liegen knapp 80 Sorten in der Vitrine, die mitunter wie aus einem Tim-Burton-Film wirken: Karamell mit Cabernet-Sauvignon oder lieber Marzipan mit Wasabi? Wenn man in gelbgrüne Pralinen hineinbeißt, treffen tropische Fruchtnoten auf Wodka.
Pro Jahr verarbeitet der Schokoladenmeister 70 Tonnen Kakao
Persoone ist international gefragt, hat für Top-Küchenchefs wie Hestor Blumenthal (London) und Alex Altara (São Paulo) süße Schweinereien kreiert, demnächst wird er mit Noma-Gründer René Redzepi arbeiten und verhandelt mit Tim Raue über eine Schokolade für dessen Kreuzberger Restaurant. Pro Jahr verarbeitet der Schokoladenmeister 70 Tonnen Kakao. Gerade feiert Persoone 25-jähriges Jubiläum. Der stattliche Kerl hat während der dafür angefallenen Umbauarbeiten zehn Kilo verloren. Er sieht immer noch angeschlagen aus. Die Augen sind nur halb geöffnet. Erkältung, murmelt er. „It’s crazy.“
15 Jahre stand er der Brügger Chocolatier-Gilde vor. Diesen Job hat er nun abgegeben. Südkorea, Schweiz, Kolumbien, die eigene Plantage in Mexiko, dem Vielflieger bleibt wenig Zeit, um vor Ort zu vermitteln und zu schlichten.
Persoone zeigt die Kakaomahlmaschinen hinter dem Besucherschaufenster im Erdgeschoss, erklärt, wie die schrumpeligen Bohnen zu Pulver gerieben werden. Sein Geheimnis, glaubt er, sei die Röstung. Nur 125 Grad, etwa 25 Minuten lang, am Ende bleibe noch etwas von der Säure des ursprünglichen Kakaos übrig. Bei höheren Temperaturen gehe die verloren.
"Passen Sie auf die Schokoladen-Mafia auf"
Draußen vor der Tür klappern Zweispänner über das Pflaster, in der Kutsche sitzen asiatische Touristen, an denen Selfiesticks wie verlängerte menschliche Organe kleben. Wie kann man ein Land nicht lieben, das Bier und Schokolade herstellt? Dominique Persoone nickt. Nur zu süß sollte die Schokolade nicht sein, das findet er banal.
„Passen Sie auf die Schokoladen-Mafia auf“, warnt Persoone beim Abschied. Denn nicht überall, wo „Made in Belgium“ draufsteht, ist der Stolz des Landes drin, manche der Süßigkeiten werden in der Türkei produziert und einfach anders ausgezeichnet. Höchstens zehn Geschäfte in Brügge machten noch hauseigene Produkte wie Persoones „Chocolate Line“.
Der Meister empfiehlt einen kleinen Laden nördlich des Zentrums, Spegelaere. Eines der wenigen Geschäfte, in denen er bereits als Teenager Süßigkeiten geholt hat. Also geht es hinaus aus den engen Gassen über den Kanal, der einmal als Handelsader zur Nordsee angelegt wurde, bevor der Meerzugang im späten Mittelalter versandete und aus der mächtigen Handelsstadt eine siechende machte. Vorbei an den streng geschichteten Ziegelreihen des Karmeliterklosters.
Bei Spegelaere gibt es grundsolides Handwerk ohne Schnickschnack
Einen Zehn-Minuten-Fußweg entfernt vom Markt liegt die Chocolaterie in der Ezelstraat. Kaum ein Tourist verirrt sich hierher. Das Geschäft befindet sich in zweiter Generation in Familienbesitz. „Als mein Vater den Laden 1954 eröffnet hat, gab es nur zwei Chocolaterien in Brügge“, sagt Jan Spegelaere, der hinter der Auslage voller Pralinen und Tafeln schwer zu sehen ist. Spegelaere hat als einziges bis heute überlebt.
Der Inhaber ist ein ruhiger Mensch. Er wartet geduldig, bis ihm die Kundin die Arrangements für vier verschiedene Pralinenschachteln diktiert hat. Auf Flämisch, also Stammkundschaft. Spegelaere glaubt, höchstens 15 Prozent seiner Kunden seien Touristen. Was sie alle in dem mit Pralinen, Gebäck und Schokolade vollgestopften Geschäft suchen, ist das Gegenteil von Persoones Experimentierfreude. Bei Spegelaere gibt es grundsolides Handwerk ohne Schnickschnack. Gut, vielleicht ein paar Pralinen mit Kirschblütengeschmack, doch die Spezialität des Hauses sind die schokoladenumhüllten Bälle mit Marzipan und einer Haselnussmasse. Wo Persoone wilde Aromen vermischt, arbeitet Spegelaere mit klassischen Noten.
In der modernen Gesellschaft ist Schokolade allgegenwärtig. Bevor die Kakaofrucht nach Europa kam, war sie jedoch wertvoller als ein Edelstein. Die Mayas tranken geschäumten Kakao zu Hochzeiten, die Azteken zahlten mit Kakaobohnen. Kolumbus notierte schon 1502, als er in Nicaragua anlandete, dass die Ureinwohner „eine Art Mandel als Währung benutzten“.
Schokolade macht glücklich, Geld macht verrückt
Das lernt man im Schokoladenmuseum der Stadt, in der „Choco-Story“ – ein Ort des intellektuellen Überbaus für die gedankenlose Völlerei. Auf drei Etagen erklären Schautafeln, Exponate und Kurzfilme den langen Weg von der Opfergabe für die Götter weit vor der christlichen Zeitrechnung bis hin zum Supermarktprodukt in der Konsum-Moderne.
Für die Sinnlichkeit im einstigen Patrizierhaus ist Jelle Vellestraet zuständig. Mehrmals am Tag zeigt er in einer Showküche im Erdgeschoss, wie man Schokolade herstellt, und verteilt dabei großzügig Kostproben.
Vellestaet lernte zuerst das Bäckereihandwerk. Doch die Nachtarbeit, die anders getakteten Tage – der Berufsjetlag quasi – verhagelten ihm den Spaß am Job. Bevor er komplett frustriert war, sattelte er zum Patissier um, Spezialgebiet Schokolade. Seit elf Jahren arbeitet er nun für Choco-Story, er führt in einer Küche im mit Glas überdachten Hinterhof Workshops durch und stellt mit Kindern oder Kreuzfahrttouristen süße Fantasiegestalten her.
In dieser Zeit hat er eine ganz eigene Philosophie entwickelt. „Geld macht dich verrückt, du brauchst es nicht, um glücklich zu werden. Schokolade macht dich glücklich, aber nicht verrückt.“ Für Brügge könnte es heißen: Schokolade macht die Stadt ziemlich glücklich, etwas verrückt und auch ein bisschen reich.
Reisetipps für Brügge
HINKOMMEN
Mit Brussels Airlines fliegt man von Berlin aus in die belgische Hauptstadt. Vom Flughafen fährt jede Stunde ein Direktzug in rund 60 Minuten nach Brügge. Mit dem Auto sind es von Aachen aus drei Stunden.
UNTERKOMMEN
Das familiengeführte „Montanus Hotel“ verfügt über 24 Zimmer und einen kleinen Park (DZ ab 115 Euro, montanus.be).
RUMKOMMEN
Die Webseite visitflanders.com informiert über Festivals und Gastronomie der Region.
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