Die Kunst-Triennale von Brügge: Hört auf diese Stadt
20 Prozent seines Etats investiert das belgische Brügge in Kultur. Jetzt wird ausgerechnet in der romantischen, alten Stadt bei der Kunst-Triennale der Versuch gewagt, die Probleme der Mega-Citys zu erklären.
Plötzlich zischt es in einem der sonst nur von surrenden Touristenboten durchpflügten Kanäle von Brügge. Es zischt und knistert. Das rührt her von einem abgeknickten, ins Wasser gestürzten rotweißen Hochspannungsmast. Allerdings entstammen der Mast und seine fingierte E-Leitung der Werkstatt des in Paris lebenden britisch-deutschen Künstlerduos HeHe (Helen Evans, Heiko Hansen). Sie geben ein Sinnbild: Das Urelement Wasser wird von menschengeschaffener Energie durchströmt, Natur und Technik geraten aneinander – und es funkt. Konzeptkunst, aber ohne Kurzschluss.
Die Installation ist eine von 14, die Künstler aus Europa, Asien und Amerika für die soeben eröffnete und noch bis zum 18. Oktober laufende Triennale 2015 innerhalb der historischen Altstadt von Brügge platziert haben. Man will so Geschichte und Gegenwart in einen mindestens imaginären Dialog bringen. Wenn nicht in einen „visionäre Spannung“. Denn die beiden Triennale-Leiter, der Deutsche Till-Holger Borchert (zugleich Direktor der kostbaren Brügger Museen) und der belgische Kurator Michel Dewilde, sie denken über die Zukunft der weltweit wildwachsenden Megacitys nach – in der äußerlich denkbar heilsten Idylle.
Brügge zählt heute kaum 120 000 Einwohner. Im 13./14. Jahrhundert waren es schon fast 50 000, und Brügge war damals größer als London und als europäische Handelsmetropole so reich wie Genua und Venedig. Im erhaltenen Haus der Familie Van der Beurse entstand um 1250 die erste Börse, und die Residenzstadt der Burgunder-Herzöge zog Architekten und Künstler an: Es war das Goldene Zeitalter der „Flämischen Primitiven“, in der Malerei geprägt von Namen wie Jan van Eyck, Hans Memling oder Rogier van der Weyden. Und weil Brügge mit seinen Kanälen und der Kulisse aus meist wunderbar erhaltenen Bauten von der Gotik und Renaissance bis zum Klassizismus noch immer als „Venedig des Nordens“ gilt, zieht es jährlich über fünf Millionen Touristen an.
Neben Japanern und Chinesen haben jetzt auch die Inder Brügge entdeckt
Borchert und Dewilde haben nun die Frage gestellt: Was wäre, wenn sich diese fünf Millionen aus aller Welt auf einmal in Brügge niederließen? Nicht nur als Silbersee, sondern vermehrt auch als junges Volk, seit der Thriller „Brügge sehen und sterben?“ (mit Colin Farrell, Brendan Gleeson, Ralph Fiennes) ein Kinoerfolg war. Dazu haben neben Japanern und Chinesen jetzt auch die Inder Brügge entdeckt, weil die Stadt neuerdings als Zauberkulisse für Bollywood-Filme dient.
Freilich bleibt angesichts der realen Besucher die Frage, warum sich Menschen, die überwiegend wegen des Kontrasts zu ihrer modernen Umgebung in eine Unesco-Weltkulturerbestadt kommen, mit wenigen erlaubten Autos und ohne Satellitenschüsseln oder TV-Antennen an den Häusern (man ist verkabelt), warum die sich ausgerechnet hier für ein künstlerisch-intellektuelles Gedankenspiel zum Clash oder gar Crash der Millionenstädte interessieren sollen.
„Gerade hier ist dafür der Ort!“, sagt uns Brügges Bürgermeister Renaat Landuyt. „Menschen sollten immer wieder mal wachgerufen werden, indem man sie mit auch mit zeitgenössischer Kunst überrascht; indem man sie mit poetischen und befremdenden Bildern zur globalen Urbanisierung konfrontiert!“
Dieser Bürgermeister, studierter Jurist, Philosoph und praktizierender Sozialdemokrat, ist ein enthusiastischer Mann. Und er muss nicht eigens den Varoufakis geben. Renaat Landuyt ist als Mittfünfziger von Temperament und geistiger Statur sowieso der Typ des Schlipslospolitikers. Offenes Hemd und offener Kopf. Schon als flämischer Tourismusminister hatte er 2003 – ein Jahr, nachdem Brügge Kulturhauptstadt Europas war – an der nahegelegenen belgischen Küste das alle drei Jahre stattfindende „Beaufort“-Festival mit Openair-Installationen internationaler Künstler begründet.
Anfang 2013 wurde er Bürgermeister von Brügge und betont, dass der Kulturhaushalt seiner Stadt, trotz aller sonstigen Sparmaßnahmen, knapp 20 Prozent des Gesamthaushalts betrage. Zum Vergleich: In Berlin ist’s gut ein Prozent. Selbst wenn da in Brügge noch Bildungs- oder Tourismusförderung mitzählen, es klingt: nach Weltrekord. Nur folgerichtig hat Landuyt dann auch die in den 60er/70er Jahren erfundene und nach drei Ausgaben 1974 entschlafene Kunst-Triennale von Brügge neu ins Leben gerufen, parallel zum Beaufort-Projekt. Sie kostet rund 3, 5 Millionen Euro, und die Region Flandern steuert gerade mal eine halbe Million bei.
Nun also ist man in Brügge stolz darauf, nicht nur Hauptstadt der belgischen Schokolade, der stolzen Schwäne oder jener etwas morbiden Melancholie zu sein, die Georges Rodenbachs einst berühmter symbolistischer Roman „Das tote Brügge“ („Bruges-la-Morte“) beschrieben hat. Auch kein „lebendes Museum“ à la Venedig, sondern Funkenschläger. Wie der Hochspannungsmast von HeHe.
Auf dem Marktplatz steht jetzt auch ein Spiegelturm.
Natürlich gibt es auch ein paar Widerstände. Die Touristenbootunternehmer und die Anlieger sind nicht alle erfreut, dass der Japaner Yoshiharu Tsukamoto und sein Tokioter Atelier Bow-Wow eine stahlverstärkte hölzerne Plattform in einen der Stadtflüsse gebaut hat, als öffentliche Skulptur und „Lounge für Kanal-Schwimmer“. Und die Droschkenfahrer befürchten, dass die Pferde ihrer beliebten Kutschen vor den eigenen (Zerr)-Bildern scheuen könnten: Weil die norwegische Künstlerin Vibeke Jensen auf dem Großen Marktplatz von Brügge als Gegenüber zum Belfried des Rathauses einen spiegelgläsernen, prismatisch gebrochenen Turm gebaut hat, in dem die darin unsichtbaren Besucher die Passanten draußen, die sich ihrerseits von den eigenen Vexierspiegelbilder anlocken lassen, heimlich beobachten können. Jensens „Watchtower“ ist so eine Anspielung auf Überwachung, Ausspähen und Voyeurismen, die Künstlerin fragt: Wem gehört der öffentliche Raum, wo endet hier die Privatsphäre?
Das ist ein simpler, aber doch einleuchtender Topos. Andere Installationen wie etwa LED-Schriften der Art „Gold Guides Me“ oder „A Place Beyond Belief“ von Anne Senstad oder Nathan Coley sind dagegen eher vage „kapitalismuskritische“ Statements, die sich prätentiös als „Lichtskulpturen“ präsentieren. Oder vier schiefe Turmhäuser, gefertigt aus bunten, neu zusammengesetzten Fenstern aus alten chinesischen Abrisshäusern, die Song Dong aus Peking vor die Salvator-Kathedrale gestellt hat: Bei der Kasseler Documenta vor drei Jahren war Song Dongs „Doing Nothing Garden“ schon eine begrünte Harmlosigkeit. Hier in Brügge wirkt seine Fensterei vor der gothischen Kathedrale nun wie eine Mischung aus pittoresker Spielbude und einem Abklatsch von Ai Weiweis bekannten Requisiten und (schärferen) Dokumenten chinesischer Traditionsbrüche.
Durch Gucklöcher lassen sich Stadtansichten betrachten
Interessanter ist da im Arentshuis, einem eleganten Barockpalais aus dem 18. Jahrhundert, die Triennale-Ausstellung „Visionäre Stadtpläne“. Hier wird unter anderem die 1976 zuerst in New York gezeigte Ausstellung des Kölner Architekten Oswald Mathias Ungers über „City Metaphors“ im Kleinen rekonstruiert, mit überraschend korrespondierenden Stadtplänen, Naturaufnahmen und dem schwarzen Schatten des legendären „Melonenmanns“ des belgischen Surrealisten Magritte. Man sieht auch utopische, verblüffend moderne Stadt- und Hauspläne der belgischen Modernisten Huib Hoste und Paul Amaury Michel, die, um 1930 herum auch für eine Sanierung von Außenbezirken Brügges entworfen, nie realisiert wurden.
Diesen Ball symbolisch weitergespielt hat zu Beginn der Triennale auch die New Yorkerin Ellen Harvey mit ihren Installationen und Materialcollagen im wunderschönen, die flämische, belgische Kunst von Jan van Eyck bis in die Gegenwart präsentierenden Groeningemuseum. Harvey ließ alte Lagepläne der rundum von Wassern umflossenen, so geschützten und zugleich mit dem Meer verbundenen Ideal-Stadt Brügge in riesige, metallische verspiegelte Wände einkopieren, eingravieren: gegenüber von ähnlichen Wänden, in denen Gucklöcher wie Fernseher den Blick auf dahinter montierte Gemälde mit Landschaften, Menschen, Stadtansichten aus den enormen, auch qualitativ erstrangigen Depotbeständen des Museums. Auf deren sonst verborgenes Dasein ironisch anspielend, heißt die hoffentlich noch verlängerte Ausstellung „The Unloved“.
Auf das vermeintlich Unhörbare möchten der Amerikaner Bruce Odland und der Österreicher Sam Auinger aufmerksam machen mittels Spaziergängen, die einem GPS-gesteuerten Silberballon durch Brügge folgen, um mittels komplexer Technologie den „Sound of Silence“ in Brügge zu erfahren. Gleichsam den Ultra-Schall der Stille, im Unterschied zum Geräuschpegel der Megacitys. Freilich ändert das alles nichts – am Großstadtlärm. Und ganz treffend war die Frage eines englischen Journalisten: Könnten wir dies nicht auch ohne GPS-Kunst einfach mit unseren eigenen Ohren hören?
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