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Unser Autor Marius Buhl (rechts) und sein kosovarischer Freund Kastriot lernen sich neu kennen.
© Maris Buhl

Migrant aus dem Kosovo: Auf der Suche nach dem abgeschobenen Freund

Sie teilen eine Schulbank und spielen Fußball, dann wird Kastriot in den Kosovo abgeschoben. 15 Jahre lang hören die beiden nichts voneinander. Bis Marius entscheidet: Ich will ihn finden.

Meistens hast du geschwiegen. Schüchtern zur Tafel geschaut, wenn Frau Andriß erklärte, was Tunwörter sind. Oder wie man die Rechenkette benutzt. Dein braunes Haar ist dir in die Stirn gefallen. Oft hast du ein blaues Hemd getragen, das weiß ich noch, ich saß ja neben dir.

Wenn die Schulglocke läutete, und die Lehrerin uns Schüler der 3a der St. Michael-Grundschule in Oberried in die Pause schickte, bist du aufgesprungen. Hast den gelben Softball geschnappt, mit dem wir immer gekickt haben. Zwei Teams, die Parkbank als Tor. Einmal, ein anderer Mitschüler hat mich erst neulich daran erinnert, hast du ein Tor direkt vom Eckballpunkt geschossen. Doch am 10. September 2001, als Moritz und Miriam, Gernot und ich aus den Sommerferien kamen, blieb dein Platz leer. Du, Kastriot Bytyqi, warst verschwunden.

15 Jahre später steige ich in Berlin in ein Flugzeug. Mein Ziel: Pristina, Kosovo. In der Hosentasche ein Klassenfoto, vom Tag unserer Einschulung. Du stehst in der letzten Reihe, in der Hand eine Waschbär-Schultüte. Ich knie in der ersten. Meine Schultüte sieht aus wie ein Pinguin.

Wenn ich aus dem Flugzeugfenster schaue, sehe ich Flüsse, die durch grün-graues Gebirge schneiden, Schnee auf Gipfeln, ganz im Westen schäumen die Wellen der Adria. Das da unten ist dein Land, und ich weiß nicht viel darüber.

Natürlich habe ich mich gefragt, was wohl aus dir geworden ist. Wenn ich mit den Mitschülern über damals sprach und du in den Geschichten vorkamst. Wenn sie sich beim Fußballverein an deine Freistöße erinnerten und sagten, du wärst bestimmt beim SC Freiburg gelandet. Als die Flüchtlinge aus Syrien kamen, und ich in der Zeitung über Abschiebungen von Kosovaren las.

Darf ich das überhaupt sagen: Freund?

Als wieder einmal von dir die Rede war, beschloss ich, dich auf Facebook zu suchen. Ein Bekannter verriet mir, wie du dort heißt. Keine gemeinsamen Freunde. Ich habe Stunden gebraucht, um dir eine Freundschaftsanfrage zu schicken. Ich schrieb dir schließlich, dass ich dich gerne besuchen möchte. Du hast ein paar Tage nicht geantwortet. Bestimmt hattest du Schiss vor dieser Konfrontation. Schiss, dein altes Leben in dein neues zu lassen.

Mit dem Taxi fahre ich in deine Stadt, Ferizaj. Es ist ein frostblauer Tag, draußen ziehen Baracken vorbei, Autowerkstätten. Weites Land, kaum Bäume. Die Amerikaner haben geholfen, das Land wieder aufzubauen. Der Taxifahrer deutet auf eine Sporthalle: Bill-Clinton-Center steht darüber. Ich höre ihm zu, aber verstehe kaum, was er sagt. Über meine Handflächen läuft der Schweiß. Ich habe Angst, dass wir uns nichts mehr zu sagen haben, jetzt, da wir groß sind. Dass ich als Deutscher gar nicht dein Freund sein kann, so sehr, wie mein Land dir wehgetan hat. Darf ich das überhaupt sagen: Freund?

Vor dem Haus mit der Aufschrift „Callcenter Ferizaj“ soll ich warten. Du bist Call-Agent, das habe ich auf Facebook gelesen. Du öffnest die Türe, gehst die Treppe hinab, kommst auf mich zu. Wie du dich verändert hast! Groß gewachsen, die Haare trägst du jetzt kurz. Wir umarmen uns.

Der Vater flieht und holt seine Familie später nach

Kastriot Bytyqi – diese Details werde ich auf meiner Reise erfahren – wird am 18. Juni 1991 in Pristina geboren. Er wächst im Dörfchen Mirash auf, nur wenige Kilometer entfernt von der Stadt Ferizaj, in einem Haus mit Oma, Opa, Mama Xhemile, Papa Afrim und Schwester Krenare. Vater Kellner, Mutter Hausfrau, das Geld reicht knapp. Als die Kosovaren 1991 geheim über die Unabhängigkeit von Serbien abstimmen, ist Vater Afrim dafür. Die kosovarischen Terroristen, die dafür kämpfen, unterstützt er nicht.

Damals in der Grundschule. Kastriot (in der Mitte) kam 1995 aus dem Dörfchen Mirash in Kosovo nach Oberried im Schwarzwald.
Damals in der Grundschule. Kastriot (in der Mitte) kam 1995 aus dem Dörfchen Mirash in Kosovo nach Oberried im Schwarzwald.
© Marius Buhl

Bald verliert er seinen Job, Sozialhilfe gibt es keine. Im Sommer 1993 verlässt er das Land, allein. Der Bus fährt nach Norden, durch Rumänien und Ungarn, schließlich in Tschechien über die deutsche Grenze. Er hält in Lörrach, tiefstes Süddeutschland. Hier arbeitet Afrim als Tellerwäscher, was die Kollegen reden, versteht er nicht. Bald zieht er nach Freiburg, da brät er Rührei im Bahnhofshotel. Lässt ein Bild von sich machen, in der Küche, mit weißer Schürze. Er vermisst die Kinder.

1995 töten serbische Paramilitärs unter der Leitung Ratko Mladics 8000 Männer und Jungen in Srebrenica, Bosnien. Afrim Bytyqi hat Angst, dass der Kosovo als nächstes dran ist. Wenige Monate später holt er Xhemile und die Kinder nach Deutschland. Ein Freund vermittelt der kleinen Familie eine Wohnung in Oberried, hinter dem Haus steigen die Schwarzwaldberge an. Afrim hat drei Jobs: Kellner im „Schützen“, Kellner im „Hirschen“, am Wochenende Arbeiter bei einer Firma für Hoch- und Tiefbau. Die Familie fühlt sich wohl in Deutschland, würde gern für immer bleiben. Doch im Frühjahr 2001 kommt der Brief von der Behörde: Ausreise bis zum 2. August, steht da.

Ich erinnere mich an andere Dinge. Zum Beispiel an jenen ersten Schultag im September 1998, als Kastriot sich der Klasse vorstellte. So einen Namen hatte ich noch nie gehört. Ich nannte ihn von da an Kaschtri. Was ich nicht erfuhr: Dass Kastriot geweint hat, als seine Mutter ihm sagte, dass sie abgeschoben werden. Dass er längst wusste, dass er gehen muss, als wir noch Pokémon-Karten auf dem Schulhof tauschten.

Wo fängt man an, nach 15 Jahren?

Heim-Snack. Kastriot liebt Sonnenblumenkerne; der deutsche Gast verschluckt sich an der Schale.
Heim-Snack. Kastriot liebt Sonnenblumenkerne; der deutsche Gast verschluckt sich an der Schale.
© Marius Buhl

Jetzt, vor dem Callcenter, zieht er mich mit. „Nicht hier auf der Straße, lass uns dort drüben sprechen, im Restaurant.“ Sein Deutsch klingt weich und immer noch gut. „Ich schaue deutsches Fernsehen“, sagt er. „Perfektes Dinner, Voice of Germany, damit ich die Sprache nicht verlerne.“ Der Kellner bringt zwei Käsesandwiches. Wo fängt man an, nach 15 Jahren?

„Toll, dass es geklappt hat.“

„Willkommen im Kosovo.“

„Wie geht es dir?“

„Gut. Und dir?“

„Auch gut.“

„Die Sandwiches sind lecker hier.“

„Ja, Du hast recht.“

Kastriot blickt zu Boden, guckt auf meine Füße. „Tolle Schuhe hast du“, sagt er, „wie viel haben die gekostet?“

„120 Euro.“

„Krass!“

„Und deine?“

„30, sind gefälscht.“

Vater Afrim will am besten zurück nach Deutschland

Zu ihm nach Hause holpern wir über Straßen voller Löcher. Sein Vater Afrim fährt. „Bin Fahrer“, sagt er. „Du hast ein Auto, Papa“, sagt Kastriot. Jeder hier mit einem Auto ist Taxifahrer, soll das heißen. Manchmal verdient Afrim fünf Euro am Tag. Gut sei es nur im Sommer. Dann kämen die Kosovaren, die damals in Deutschland bleiben durften zum Heimaturlaub. Landen am Flughafen in Pristina, lassen sich in ihre Dörfer kutschieren. Von Afrim, der Deutschland verlassen musste. „Die Häuser da“, er zeigt auf Neubauten im Stadtzentrum, „alles gehört denen. Kommen und kaufen.“

An einer Kreuzung bleibt das Auto liegen. „Nicht schlimm“, sagt Afrim und springt raus. Klappt die Motorhaube auf und repariert. Der Mercedes ist 28 Jahre alt, einen neuen können sie sich nicht leisten. Auch deshalb will Afrim zurück nach Deutschland, doch dafür braucht er einen Betrieb, der ihm einen Arbeitsvertrag ausstellt und dann ein Visum. Ob ich nicht was wüsste? „Nein, ich weiß nichts, sorry.“ Dann sagen wir lange nichts.

Als das Auto anspringt, biegt Afrim rechts ab. Über eine Landstraße geht es nach Mirash, Heimat der Bytyqis. Lehmige Zufahrt, Hühner flattern auf. Das Haus strahlt rosa, Mama Xhemile wartet schon in der Tür. Auf Kastriots Kindergeburtstagen hat sie Pommes gemacht, ich weiß es noch. Und Nutellabrote. Bei uns daheim gab es das nur in den Ferien. Jetzt tischt Xhemile Hähnchen auf. Ich greife zu Messer und Gabel. „Kannst ruhig mit den Händen essen“, sagt Kastriot. „Esst ihr Hähnchen etwa mit Besteck?“

In seinem Jugendzimmer wird Kastriot die Hochzeitsnacht verbringen

Wir sitzen im Wohnzimmer. Ein Esstisch mit Plastikdecke, eine Küchenzeile, eine lange Bank, ein Fernseher. „Ist nicht viel, hoffe, dir gefällt es hier“, sagt Kastriot. Xhemile schaltet den Fernseher an, schält Birnen aus dem Garten. Kastriot sagt: „Mach was Deutsches an, Mama, wir haben Besuch aus Deutschland.“ Dann reicht er mir Sonnenblumenkerne, gesalzen. Er knackt sie mit den Schneidezähnen auf, schleckt das Innere mit der Zungenspitze heraus. Ich versuche, es ihm nachzumachen, es gelingt mir nicht.

Sein Vater setzt sich zu uns. Er will wissen, was in Oberried passiert ist, seit er weg ist. „Meine Restaurants, „Schützen“, „Hirschen“, gibt’s die noch? Weißt du, ob die noch Arbeiter brauchen?“

„Ich kann mal nachfragen“, sage ich. Ich hatte mir diese Reise in die Vergangenheit leichter vorgestellt. Früher war Freundschaft etwas Zwangloses. Entstand einfach. Ich erzähle ihm, dass ich inzwischen selbst nicht mehr in Oberried lebe, sondern in Hamburg, in einer WG. Kastriot kennt das nicht. Eine Wohnung, die man mit anderen teilt. Das Geld, das er im Callcenter verdient, spart er oder baut damit am Haus der Eltern mit. Den Fernseher, das Pflaster vor dem Haus, die Möbel – das alles habe er gekauft, sagt er. Sein Jugendzimmer wird auch das Zimmer sein, in dem er die Hochzeitsnacht verbringt, so ist es Brauch. Selbst als er im entfernten Pristina Sportwissenschaften studierte, habe er zu Hause gewohnt, sagt Kastriot.

Er würde gerne mit mir in mein Flugzeug steigen

Zum Master-Abschluss fehlen ihm noch ein paar Prüfungen. Aber Sportlehrer braucht der Kosovo nicht, deutschsprachige Mitarbeiter in Callcentern schon. Junge Kosovaren, sagt Kastriot, haben einen Spruch dafür: „Warum der Kaffee hier so lecker schmeckt? Weil die schlausten Leute keine Jobs finden und aus Verlegenheit eine Bar eröffnen.“ Er lacht. „Wenn ich könnte, würde ich morgen mit dir in dein Flugzeug steigen.“

Er stellt sich oft vor, wie das wäre, wenn er zurück dürfte. Ambientewechsel, nennt er das, er hat das Wort in einer Serie im Privatfernsehen gehört. Er verbringt Tage damit, das Internet nach Arbeitsplätzen in Deutschland zu durchsuchen. Neulich stieß er auf das Angebot einer Tankstelle bei Kassel. Er könne dort als Tankwart arbeiten, wenn er nichts gegen Nachtschichten habe, hat der Chef geschrieben. Mit dem unterzeichneten Vertrag ist Kastriot zur deutschen Botschaft in Pristina gegangen, er braucht jetzt ein Visum. Seit Wochen wartet er auf eine Antwort der Behörde.

Er schaltet den Fernseher aus. Mein Bett für die Nacht hat Xhemile schon hergerichtet, im Gästezimmer. An der Wand hängen Bilder unseres Fußballteams in Oberried, Medaillen von Turniersiegen. Als Kinder hätten wir wohl in einem Zimmer geschlafen, denke ich, am Boden, auf einer Luftmatratze.

Er hat einen Traum, ich will ihm helfen

Heim-Spiel. Kastriot hat Erste Liga im Kosovo gespielt, doch im Callcenter verdient er mehr.
Heim-Spiel. Kastriot hat Erste Liga im Kosovo gespielt, doch im Callcenter verdient er mehr.
© Marius Buhl

Ich liege lange wach. Ich habe noch nie Geld für meine Familie verdient, mein Studium habe ich freiwillig abgebrochen, nicht, weil ich Geld verdienen musste. Wenn ich mich verliebt habe, musste ich nie an Heirat denken. Ich kann reisen, wohin ich will. Den Kosovo dagegen erkennen viele Staaten noch immer nicht an, zum Beispiel Spanien. Vielleicht hätte ich Kastriot nie konfrontieren dürfen mit meinem sorglosen Leben. Eine Freundschaft in der Erinnerung, was wäre daran eigentlich so schlecht gewesen?

Am nächsten Morgen fahren wir mit einem klapprigen Reisebus in die Hauptstadt. Spazieren durch die Gassen. Kastriot zeigt mir ein riesiges Wandgemälde eines Kriegshelden, dazu seine alte Fakultät. Fuck Serbia, hat jemand an die Wand gesprayt. Kastriot hat Angst, dass sein Professor ihn entdeckt und fragt, warum er nicht mehr in die Vorlesungen kommt. Als wir an einer Bar vorbei gehen, läuft drinnen Fußball, Manchester United gegen Chelsea London. „Willst du das Spiel sehen?“, fragt er. Wir treten ein, bestellen eine Cola. Eine Weile gucken wir auf den Bildschirm, dann flüstert er: „N’Golo Kanté spielt so gut bei Chelsea.“

„Ja“, sage ich, „letztes Jahr schon bei Leicester, ein fantastischer Spieler. Nur bei der EM hat er enttäuscht, da war Sissoko stärker bei Frankreich.“ Kastriot schaut mich an. „Du kennst dich ja richtig aus.“ Wir reden über englische Außenverteidiger und die kosovarische Nationalmannschaft. „Wir könnten so ein gutes Team haben“, sagt Kastriot. „Aber die besten Kosovaren spielen für andere Länder, Xhaka, Shaqiri und Behrami für die Schweiz.“ Trotzdem sei er froh, dass der Kosovo inzwischen eine eigene Nationalmannschaft hat. Beim ersten Länderspiel gegen Kroatien im Oktober jubelte er im Stadion. Kroatien gewann mit 6:0.

„Du hast erste Liga gespielt?“

Kurz darauf sitzen wir in einer schummrigen Bar auf einem Sofa. Ob er FIFA kenne, das virtuelle Fußballspiel, habe ich Kastriot gefragt. Und er hat mich mitgenommen, in diesen Laden, den er schlicht „Sony“ nennt, wegen der Playstations. Er links, ich rechts. Ich bin Barcelona, sagt er. Dann bin ich Real, sage ich. Sein Messi tanzt durchs Mittelfeld, Doppelpass mit Iniesta, mein Ronaldo grätscht ins Leere. 1:0. Er boxt mir auf die Schulter. Mein Ronaldo dribbelt über links, lässt Piqué stehen und knallt den Ball ins Tor. Ich boxe zurück. Schön, dass du hier bist, sagt Kastriot, als wir die Bar nach drei Stunden verlassen.

Am Tag unseres Abschieds weckt er mich früh, will mir noch etwas zeigen. Wieder in die Stadt. Es ist viel los heute, alle ziehen in dieselbe Richtung. Fanschals, blau-weiß. Zerfallende Stadionmauern. Erste Liga, KF Ferizaj gegen KF Llapi. Ein Mann verkauft Sonnenblumenkerne, ich kann sie inzwischen aufknacken, nur das Rauslutschen fällt mir noch schwer. Kastriot lacht mich aus, wenn ich wieder ein Stück Schale verschlucke und husten muss.

Die Spieler traben auf den Platz. Kastriot beugt sich rüber. „Da habe ich früher auch gespielt”, sagt er. „Du hast erste Liga gespielt?“

„Ja, mit der Nummer 10 im offensiven Mittelfeld.“

„Warum spielst du nicht mehr?“, frage ich.

„Im Monat kriegt man nur 300 Euro, im Callcenter verdiene ich mehr.”

„Du hättest es weiter schaffen können, nach Deutschland vielleicht, dritte Liga, zweite Liga, wer weiß.“

„Glaubst du?“

„Du hast damals Eckballtore geschossen, Kastriot.“

„Stimmt.“

Dann stehen wir zusammen und schauen das Spiel. Bangen mit den Blauen. Klatschen, als der Linksaußen einen Gegner ausspielt. Lachen, als ein Verteidiger unkoordiniert fällt. Du sagst: „Hilfst du mir, in Deutschland einen Verein zu finden, wenn ich es nochmal hin schaffe?“ Ich nicke.

Noch am Abend fange ich an zu suchen.

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