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Noch 2015 wurden 136 Opfer des Massakers in Srebrenica identifiziert und anschließend beerdigt.
© Dado Ruvic/REUTERS

Das Massaker von Srebrenica: „Es war ein hausgemachter Genozid“

Vor 21 Jahren töteten bosnisch-serbische Truppen mehr als 8000 Menschen - vorwiegend muslimische Männer. Emir Suljagics erinnert sich.

Obwohl Srebrenica nur 15 Kilometer entfernt von dem Dorf Vojavica an der Drina liegt, brauchten die Suljagics 1992 acht Tage, um diesen Weg zu bewältigen. 15 Kilometer sind eine Weltreise, wenn man nichts zu essen hat und wenn man sich vor potenziellen Mördern verstecken muss. „Allein durch die Frontlinie durchzukommen, hat Tage gedauert“, erzählt Emir Suljagic. Manche Leute hätten die Flüchtenden in ihre Heime gelassen. „Oft waren in einem Haus 100 Leute“, erzählt er. „Ich bin einmal mit drei anderen Leuten in einem Bett aufgewacht“, erinnert er sich.

Die Nachbarn hatten den Suljagics geraten, sich den bosnisch-serbischen Militärs zu stellen. Doch sein Vater traute diesem Rat nicht. „Ich habe ihm deshalb mein Leben zu verdanken. Die, die geblieben waren, wurden alle hingerichtet“, sagt Suljagic. Kriminelle, die in Serbien aus dem Gefängnis entlassen worden waren, und Freischärler hatten im Frühjahr 1992 begonnen, das Drina-Tal ethnisch zu säubern und alle Nicht-Serben entweder zu vertreiben oder zu ermorden.

Laut dem Bosnischen Totenbuch wurden im Drina-Tal 28.135 Menschen getötet, davon waren 80 Prozent Menschen mit „muslimischen Namen“. Und davon waren wiederum 15.400 Zivilisten. Sie wurden alleine deshalb ermordet, weil sie als Muslime galten. Manche von ihnen waren nicht religiös. Den Nationalisten ging es darum, eine Region zu „säubern“, die an den Nachbarstaat angeschlossen werden konnte, um Großserbien zu schaffen - ohne Nicht-Serben .

Heute wird oft vergessen, dass man ohne die „ethnischen“ Säuberungen im Jahr 1992 im Drina-Tal nicht verstehen kann, was im Juli 1995 in und rund um Srebrenica geschah. Der Genozid war der Abschluss der vorhergehenden Verbrechen. Suljagic irritiert, dass das Gedenken an das Massaker in Srebrenica zunehmend instrumentalisiert wird. Er will daher in diesem Jahr nicht einmal mehr zur Gedenkveranstaltung am 11. Juli kommen.

Srebrenica war ein großes Flüchtlingslager

Tausende Menschen suchten im Frühjahr 1992 Zuflucht in Srebrenica, weil sie im Radio gehört hatten, dass die Stadt von der bosnischen Armee befreit worden sei. Srebrenica wurde zum Flüchtlingslager. Der Hunger begann im Juni 1992.

Wer Zugang zu lebensnotwendigen Dingen hatte, war privilegiert. Der 17-jährige Emir verkaufte Zündholzschachteln. „Für zehn Schachteln bekam ich zehn Eier. Das war kein schlechter Deal.“ Emir lernte zu überleben. Doch im August 1992 gab es endgültig nichts mehr zu essen. Die Familie flüchtete zu den Großeltern, in das Dorf Osmace. Der Vater ging zurück an die Frontlinie, um Essen zu besorgen. Im Dezember 1992 kam er nicht mehr zurück. Im Februar 1993 wurde auch Osmace erobert – die Mutter und die zwei Kinder mussten nach Srebrenica zurück. „In der Stadt sah es wie im Mad-Max-Film aus“ , beschreibt Suljagic ein postapokalyptische Szenario. „Es gab keinerlei Autoritäten, es gab kein Gesetz und keine Ordnung.“ Nachdem die UN Srebrenica 1993 zum „sicheren Gebiet“ erklärt hatte, gab es wenigstens Nahrung.

Einer der Lastwagenfahrer, die Srebrenica versorgten, stammte aus Suljagics Dorf. Er war bereit, der Familie einen Gefallen zu tun. Mutter und Schwester wurden wie Pakete „eine mit der linken, die andere mit der rechten Hand“ auf den Wagen gehievt, der sie in die Freiheit nach Tuzla brachte. Emir blieb allein in der Stadt – und hatte nichts zu tun. „Krieg ist vor allem Langeweile“, sagt er heute. Er fand ein englisch-serbokroatisches Wörterbuch und lernte es auswendig, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er die Vokabel auf Englisch aussprechen sollte. „Aber ich war ein Streber“, sagt er.

Überlebt als Übersetzer bei der UN

Die Mühe lohnte sich. Der junge Suljagic wurde von der UN als Übersetzer angestellt. Am Anfang habe er mehr als lausig übersetzt, doch dadurch bekam er Dosen mit Essen. Proteine. Schokolade. Emir wurde satt. „Vielleicht bin ich einer jener Menschen auf dieser Welt, die am meisten Glück hatten“, sagt er.

Weil er als Übersetzer arbeitete, musste er zuweilen an die Frontlinie zur „gelben Brücke“, wo die bosnisch-serbischen Soldaten standen. Einige Leute erkannten ihn, weil er vor dem Krieg zu einem bekannte Basketballteam gehört hatte. Ein ehemaliger Mitschüler sah ihn: „Was machst Du, Bruder?“, sagte er und klopfte Emir auf die Schulter. Suljagic verspürte panische Angst und doch waren ihm manche Leute vertraut. An der gelben Brücke traf er auch auf Momir Nikolic, einen der militärisch Verantwortlichen der Bratunac-Brigade, die später den Völkermord durchführte.

Als der Kommandant der bosnischen Armee, Naser Oric die Stadt im Frühjahr 1995 verließ, wusste Suljagic, dass dies das Ende der Enklave war. Nachdem bosnisch-serbische Soldaten unter Ratko Mladic Anfang Juli die Stadt erobert hatten, flüchteten die Menschen. Eine Kolonne mit 15.000 Menschen wurde auf dem Weg nach Tuzla immer wieder beschossen, eine andere Gruppe bewegte sich ins UN-Camp nach Potocari. Im nahe gelegenen Ort Bratunac warteten zu diesem Zeitpunkt bereits Busse.

Nachdem Männer von Frauen getrennt worden waren, mussten manche Männer eine Nacht in den Bussen warten, bevor sie erschossen wurden. Anrainer wurden aufgerufen, die Transporte in der Nacht mit „Gewehren zu schützen“. „Die Komplizenschaft war omnipräsent“, sagt Suljagic. „Ab dem 11. Juli wussten alle in der Gegend, was passiert.“ Eine Einheit aus Bijeljina und eine Spezialeinheit der Polizei waren hinzugezogen worden. „Aber hauptsächlich waren es die Leute von der Brigade von Bratunac und Zvornik, die die Menschen erschossen“, so Suljagic. „Es war ein hausgemachter Genozid“, sagt er. Mehr als 8000 Menschen wurden damals getötet. Suljagic selbst hat ihn überlebt, weil er für die UN als Übersetzer tätig war. So wie Hasan Nuhanovic.

Alle waren Nachbarn

Momir Nikolic von der Bratunac-Brigade erkundigte sich während des Massenmords bei den UN-Übersetzern, wo Nuhanovics Eltern und sein Bruder geblieben seien. Sie waren in die Busse gebracht worden, obwohl Nuhanovic die UN-Vertreter gebeten hatte, sie in Sicherheit zu bringen. Alle drei wurden ermordet.

Nikolic war einer der wenigen, die sich später vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag für schuldig erklärten. 2003 sagte auch Suljagic vor dem Gericht aus. Als er in den Saal kam, winkte Nikolic ihm zu. „Ich habe zurückgewunken“ erzählt er. Er wisse selbst nicht genau, weshalb er dies tat. Der Verbrecher, das Opfer, der Tod, das Leben, alle waren sie Nachbarn in Srebrenica.

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