Wie Fußball-Vereine und Scouts mit Talenten Geld machen: Kopfgeld, Schubladenverträge und der Traum von der Profi-Karriere
"Mama, ich werde Fußballprofi!" Schon 13-Jährige verlassen ihre Heimat, um dem großen Traum nachzujagen. So wie David. Für die Vereine sind junge Talente eine Investition – die Scouts agieren skrupellos.
Eine Frau sitzt in einem Café in Steglitz und spricht über ihren Sohn. Sie erinnert sich genau an jenen Tag im vergangenen Sommer: Sie blickt in seine braunen Augen, erkennt sich darin wieder. Er ist doch noch ein Kind; 13 Jahre alt. Aber sie sieht seine Entschlossenheit, spürt seinen Willen. Und sie kennt seine Entscheidung, bevor er sie ausspricht.
„Mama, das ist meine Chance. Ich werde Fußballprofi. Glaub mir!“
Die Mutter, sie soll in dieser Geschichte Melanie S. und ihre Sohn David heißen, hat einen Vertrag unterschrieben mit einem deutschen Profiverein, der sie zur Verschwiegenheit verpflichtet. Ihre realen Namen sind nicht wichtig, nur das, was sie erzählen, weil es hilft, zu verstehen, dass sich im Fußball in Deutschland ein lukratives Geschäft mit Kindern etabliert hat.
Gerade ist Fußball-Hochzeit: Saisonendspurt in der Bundesliga, DFB-Pokalendspiel, und Berlin ist auch noch Austragungsort des Finales der Champions League. Eine deutsche Mannschaft hat es zwar nicht geschafft. Aber Weltmeister ist Deutschland auch geworden, weil es seit Jahren die besten Talente findet und ausbildet. Doch das Wettrennen um die besten Talente wird skrupellos, weil die Spieler immer jünger sein sollen. Vor wenigen Jahren hat man es noch dabei belassen, Acht- bis Zehnjährige zu beobachten und ihre Entwicklung zu dokumentieren, heute wechseln immer mehr Zwölf- bis 14-Jährige die Stadt und ihre Heimatregion – um ihrem Traum nachzujagen.
99,97 Prozent aller Fußballer in Deutschland sind keine Profis
David sagte kürzlich zu seiner Mutter: „Mama, der Trainer lobt mich. Ich habe wieder ein Tor geschossen.“ 99,97 Prozent der mehr als sechs Millionen Fußballer in Deutschland sind keine Profis.
Wolfgang Damm ist ein Veteran unter den Fußball-Scouts, das sind Menschen, die Talente finden und fördern und, im besten Fall, darauf achten, dass sie auch sonst im Leben „gute Jungs“ werden, wie Damm sagt, und die Schule ernst nehmen. Sie sollen wissen: „Das Leben kann auch ohne Fußball Spaß und Erfolg bringen.“ Der Fußball dagegen sei „eine gefährliche Scheinwelt“.
An einem Frühlingstag kommt Wolfgang Damm kurz vor Anpfiff als letzter Gast ins Berliner Poststadion geschlendert, gleich hinter dem Hauptbahnhof gelegen, und registriert betont gelassen die mit auffällig vielen Scouts gefüllte Stehtribüne. Seine bald 60 Lebensjahre sieht man ihm nicht an, er ist sportlich gekleidet und trainiert. Er weiß, dass hier einige unterwegs sind, die „Kopfgeld“ bekommen für das, was sie tun. Er sagt: „Diese Entwicklung ist pervers.“
Das Testspiel zwischen den Auswahlteams Berlins und Mecklenburg-Vorpommerns hat keine Bedeutung, trotzdem sind zwölf Scouts aus ganz Deutschland gekommen – aus Leipzig, Wolfsburg, Bremen, Leverkusen, Dortmund, Hamburg. Diese Scouts, oft sind es junge Männer, die selbst im Fußball als Spieler oder Trainer gescheitert sind, bekommen Geld für das Vermitteln von Spielern.
Kein Auswahlspiel, bei dem nicht ein Dutzend Scouts zusehen
Auf dem Rasen kicken Jungen, 13 Jahre alt, deren Arme und Beine noch schmal und dünn sind, die aber den Ball schon mit einer ungeheuren Präzision passen. Sie gehören der U-14-Stadtauswahl an. Auch David hätte hier gespielt, wenn es nach seinem Berliner Auswahltrainer gegangen wäre. Aber er ist nicht mehr da, lebt jetzt in einer anderen Stadt. Einer dieser Männer hier hat erfolgreich um ihn geworben. David telefoniert jeden Tag mit Mama, Oma oder Opa. „Das ist sehr wichtig für ihn“, sagt Melanie S.
Das Hochleistungsalter im Fußball, heißt es beim Deutschen Fußball-Bund (DFB), habe früher zwischen 25 und 30 Jahren gelegen, heute liegt es zwischen 20 und 25. Der Hochleistungssport hat also immer weniger Zeit zum Ausbilden. Das hat Konsequenzen. Es gibt kein Auswahlspiel, bei dem nicht ein Dutzend Scouts zusieht. Bei Sichtungsturnieren des DFB sind es Hunderte, aus dem In- und Ausland, die Visitenkarten zücken, auf einen guten Augenblick lauern, um Spieler oder Eltern anzusprechen. Sie buchen Tickets auf denselben Bahnstrecken, um im Abteil mit Spielern ins Gespräch zu kommen. Kontaktaufnahmen über Facebook sind die Regel.
Wolfgang Damm ist in seinem wahren Leben Gerichtsvollzieher. Er hatte es nie nötig, mit seinem Lieblingshobby Geld zu verdienen. Viele Jahre war er Fußball-Jugendtrainer, auch im Männerbereich, er hat für Hertha BSC zahlreiche Spieler wie zum Beispiel die Brüder Jerome und Kevin-Prince Boateng entdeckt und entwickelt. Heute arbeitet er neben seinem Beruf für eine der größten seriösen Spieleragenturen im Land. Damm ist bekannt, deshalb wird er oft von Eltern um Rat gefragt, obwohl seine Agentur eher wenig mit Jugendfußball zu tun hat. Er sagt: „Die Entwicklung, die wir sehen, wird niemand stoppen.“
Um das zu verstehen, muss man zurückblicken auf die Geschichte der deutschen „Rasterfahndung“ im Fußball. Funktionäre und Verantwortliche haben gelernt aus einer Zeit, in der die Deutschen als Rumpelfußballer verspottet wurden. Schon im Jahr 2001 begann eine systematische Talentsuche, die selbst Zwölfjährige schon erfasst.
Das Spielerprofil der Kinder wird in Datenbanken gespeichert
Die Rasterfahndung folgt einem ausgeklügelten Plan: Der Verband verpflichtete alle Profiklubs dazu, Fußball-Akademien zu gründen, in denen die Jungs frühestens mit 14 wohnen dürfen und in Kooperationsschulen unterrichtet werden. Der DFB selbst überzog das Land mit Stützpunkten, an denen Fußballlehrer die besten Spieler bis zu den Unter-Elfjährigen (U11) begutachten. Das Spielerprofil wird in Datenbänken gespeichert. Doch dieses System reicht vielen Klubs nicht mehr aus. Sie fangen an, selbst zu suchen. Aus Konkurrenzgründen, nicht nur in der eigenen Region, sondern bundesweit. Und dafür brauchen sie Scouts.
Die Scouts, die im Poststadion stehen, mögen es nicht, wenn man sie anspricht. Einer der jungen Männer sagt trotzdem: „An die ganz jungen Spieler will ich doch eigentlich gar nicht ran. Aber ich muss ja. Ist ein Wettbewerb.“ Ein anderer bestätigt: „Man muss da mitmachen, sonst sind andere schneller.“ Der einzige ältere Herr, auch ein Scout, der einst bei Hertha BSC in der Bundesliga spielte, sagt: „Es wird immer jünger, dagegen wird keiner was machen können. Das ist so.“ Und ein Vierter: „Ich hatte schon einen Vater, der wollte entweder einen Job bei dem Klub oder 4000 Euro im Monat für den 14-Jährigen Sohn.“
Laut Fifa-Statut dürfen Spieler oder Vereine „keine Zahlungen an den Vermittler leisten, wenn der betreffende Spieler minderjährig ist“. Aber das kontrolliert niemand. Der DFB sagt: „Rechtliche Befugnisse stehen uns bei diesen Vorgängen nicht zur Verfügung.“ Der Marktwert eines Spielers ist erst im Profibereich sichtbar. Aber für eine hohe Rendite sind alle bereit, möglichst früh zu investieren.
Der Geldkreislauf funktioniert so: Kleine Vereine bekommen ab der D-Jugend „Ausbildungsentschädigungen“, ein Wort, das Interpretationsspielraum zulässt. Die Leistungszentren wiederum, das sind die Fußball-Akademien, werden durch eine Firma für den DFB zertifiziert. Bestnote: drei Sterne. Dafür bekommen Klubs, die nicht in der Champions League spielen, rund 360 000 Euro. In den Akademien spielen bis in die C-Jugend hinein viele Mannschaften, meist mit 22-Mann-Kadern. Die müssen die Vereine füllen, sonst gibt es Probleme mit dem Zertifikat. Verliert man es, kann man kein Geld verdienen, weil man keine Spieler verkaufen kann.
Erst, wenn die Spieler 15 sind, wird der Vertrag gültig
Nur Vereine mit Fußball-Akademie dürfen Förderverträge mit Spielern ab 15 Jahren abschließen. Alle anderen Verträge, auch der von David, sind „Schubladenverträge“ – sie erlangen erst rechtliche Gültigkeit, wenn der Spieler 15 ist. Wer einen Spieler mit Fördervertrag verpflichten will, muss wie im Profibereich Geld bezahlen. Um möglichst viele und gute Spieler zu bekommen, zahlen Vereine Provisionen an Scouts oder stellen sie im Klub an. Berater wiederum nutzen diese Situation aus, um sich als „Vermittler“ einzuschalten. Oft ist die Grenze zwischen Scouts und Beratern fließend.
Da ein 13-Jähriger offiziell kein Geld verdienen darf, bekommt er „Taschengeld“. Wolfgang Damm sagt: „Wenn die Eltern von Hartz IV leben und der 13-Jährige Sohn bekommt 800 Euro im Monat, was auch schon vorkommt, dann ist das ein sehr starkes Argument.“
David hat es gewagt. Er ist robust, schnell und erstaunlich reif für sein Alter. Sagen die alten Trainer. Er wurde in der D-Jugend in den Auswahl-Stützpunkt berufen, die erste Auswahlmannschaft ist die U14. Und dann, sagt Melanie S., kamen die Anfragen. Sie reisten gemeinsam in mehrere deutsche Städte. „Es war aufregend“, sagt Melanie S. „Letztlich habe ich meinen Sohn entscheiden lassen. Ich fand es auch sehr früh, aber ich wollte ihm doch seinen Traum nicht zerstören.“
Die Vereine umwerben die Kinder mit VIP-Logen und Stadionführungen
Im Café erzählt sie vom letzten Telefonat mit ihrem Sohn, der sehr aufgeregt war: „Mama, heute waren ganz viele Berater bei unserem Spiel.“
„Junge, was erzählst du da.“
„Doch Mama, der eine soll was von der Nummer 9 gesagt haben, das ist doch meine Nummer!“
Wolfgang Damm kennt die große Show, die die Vereine veranstalten. Flugtickets werden für die ganze Familie bezahlt, sie werden in großen Autos abgeholt und durch die Stadt gefahren, das Vereinsgelände wird ihnen gezeigt. Nicht selten tauchen auch die prominenten Sportdirektoren oder Manager der Klubs auf. In den Vip-Logen werden Spiele angesehen oder Verhandlungen geführt.
Offiziell sagt der DFB zu dieser Entwicklung: „Das Bemühen der Vereine um teilweise sehr junge Talente ist zunehmend intensiver geworden.“ Ein DFB-Trainer, der seinen Namen nicht nennen will, drückt es drastischer aus: „Das sind Spekulanten.“ Bleibt die Frage, ob es tatsächlich so viele Talente gibt, dass sich dieser Aufwand lohnt?
Wolfgang Damm sitzt ein paar Tage nach dem Spiel im Poststadion in einem Café in Schöneberg. Er kennt die Antwort auf die Frage, und sie beschreibt das Problem: „Es werden nicht mehr nur die Top-Talente geholt, sondern immer häufiger normal talentierte Spieler, von denen man weiß, dass sie niemals Profis werden. Sie füllen damit ihre Akademien auf.“ Auch der DFB ist deutlich. Ein Sprecher sagt: „Mit der Verpflichtung von Spielern, die nicht zu den besten Talenten zählen und nur Ergänzungsspieler sind, wird ein Schritt in die falsche Richtung gegangen.“
Für Ben war der Traum schnell vorbei
Oft werden diese Spieler nach einer Saison wieder fortgeschickt. Einer dieser Jungen, auch sein Name ist auf Wunsch der Eltern in diesem Artikel geändert, heißt Ben. Er spielte im gleichen Verein wie David, und ging zum gleichen Profiklub. Auch Ben, ein Jahr älter als David, träumte seinen Traum. Und als er in der großen Limousine saß, die ihn durch die fremde Stadt fuhr, kribbelte es im Bauch. Er sah die Fußball-Akademie und das große Stadion, und er wusste: Jetzt will er nur noch Fußball spielen!
Zehn Monate später weiß Ben, dass es vorbei ist. Der Klub, der ihm so viel versprochen hatte, schickt 15 von 22 Spielern nach einer Saison wieder weg. Es sind jetzt Neue da auf seiner Position, Bessere, Jugend-Nationalspieler! Ben hat seinen Vater wütend gefragt: „Warum hast du mir keinen Berater besorgt?“ Der Vater war sprachlos und hatte keine Antwort. Bald ist Ben zurück zu Hause. Und hat gelernt fürs Leben. Beim Fußball.
Wann kann man sehen, ob ein junger Fußballer das Zeug zum Profi hat?
"Konkurrenz ist gut für mich, Mama"
Wolfgang Damm antwortet schnell: „Mit 13 kann man noch nichts Seriöses sagen, mit 15 kann man Prognosen abgeben, mit 17 ist eine Tendenz deutlich erkennbar. Aber alles entscheidet sich letztlich im Übergang zu den Männern in der U19.“ Dann schweigt er eine Weile und guckt unglücklich: „Alles andere sind Blicke in die Glaskugel.“
Melanie S. und David haben den Schritt bisher nicht bereut, aber viele Dinge, die man ihnen versprochen hat, wurden nicht eingehalten. „Die haben einen solchen Popanz gemacht, dabei wäre Ehrlichkeit angebracht gewesen.“ Fußballschuhe werden immer vom Verein bezahlt, hieß es, er dürfe jederzeit auf Kosten des Klubs nach Hause fahren, er dürfe bald in der Akademie wohnen und bekomme 150 Euro Taschengeld im Monat. David wohnt in einer Gastfamilie, sie gefällt ihm, jetzt hat er erstmals „Geschwister“ und ein „großes Zimmer“. Der Klub bezahlt für die Familie und die Privatschule, auf die er geht. David hat sich in zwei Schulfächern verbessert. Er sagte zur Mama: „Ich will diese Konkurrenz. Ist gut für mich.“
In der Vereinbarung, die sie für David unterschrieb, steht, dass er sich bis 2020 an den Verein binde. Dann wäre er 19. Und ein Mann. Natürlich könnte David auch jederzeit gehen – niemand könnte ihn zwingen zu bleiben. Aber ein Vertrag erhöht den Druck und ist Grundlage für den Verein, irgendwann sein Investment zurückzubekommen.
David hat der Mutter erzählt, in der Schule gelte er als arrogant. Er wisse nicht warum, habe wohl etwas mit dem Fußball zu tun. Er findet: „Ich bin ja nicht hier, um Freunde zu finden.“
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite im gedruckten Tagesspiegel