Zu viel Hotline: Wie Callcenterarbeit krank macht
Stundenlang konzentriert telefonieren - und immer muss man freundlich bleiben: In vielen Callcentern regiert der Stress, Mitarbeiter werden depressiv. Erste Unternehmen wachen jetzt auf.
Eigentlich wollte die studierte Psychologin nie etwas mit Zeitarbeit zu tun haben, erst recht nicht mit Callcentern. Mittlerweile sitzt Magret Jäger hinter dem Schreibtisch eines Zeitarbeitsvermittlers. Seit fünf Jahren arbeitet sie für die BIP Dienstleistungen GmbH, die mit ihrem Team jeden Monat 70 bis 100 Arbeitskräfte an Berliner Callcenter vermittelt. Ziel ist, geeignete Mitarbeiter nach einer Begleitphase von drei bis sechs Monaten in Festanstellungen zu vermitteln. „Immer wieder kommen Bewerber mit schrägen Vorstellungen zu uns. Da heißt es manchmal: Ich telefoniere den ganzen Tag, das kriege ich leicht hin.“ Aber, sagt Jäger, über vier bis acht Stunden am Tag konzentriert zu telefonieren, könne schon stressig sein.
Das sieht auch Ulf Krummreich von der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) so. Die VBG ist Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung für Mitgliedsunternehmen aus über 100 Branchen. „Bei Telefonarbeit herrscht zum Teil hohe Arbeitsintensität. Vor allem Mitarbeiter an Beschwerdehotlines haben es nicht leicht. Da rufen aufgebrachte und wütende Menschen an und man muss immer freundlich bleiben, selbst wenn man persönlich angefahren wird“, erklärt Krummreich.
Problemen wird kaum nachgegangen
Kommen noch die Lärmkulisse im Großraumbüro, zahlengetriebener Erfolgsdruck und zu langes Sitzen dazu, können die Arbeitsbedingungen krank machen. Diese Risiken sollten laut Arbeitsschutzgesetz in jedem Betrieb geprüft und in einer Gefährdungsbeurteilung festgehalten werden. Der Alltag deutscher Telefonisten sieht mitunter anders aus: Die Teamleiterin eines Meinungsforschungsinstituts, die anonym bleiben will, berichtet, dass den Gründen für Infektionen, psychische Probleme oder Alkoholismus bei ihr im Studio kaum nachgegangen wird.
Vor wenigen Wochen veröffentlichte die Techniker Krankenkasse (TK), in welchen Branchen ihre Versicherten sich am häufigsten krankmelden: Es sind die Mitarbeiter für Service- oder Kundenhotlines. Sie litten zudem besonders häufig unter Depressionen, hieß es.
Gesundheitsmanagement soll helfen
Dass Arbeit im Callcenter grundsätzlich depressiv macht, sei aber ein Fehlschluss, sagt Krummreich von der VBG, der Einzelfall sei entscheidend. „Das ist ein klassisches Henne-Ei-Problem: War zuerst das Callcenter oder die Erkrankung da? Diese Frage muss man sich immer stellen.“ Ein Problem bei psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit sei, dass sie sich nicht immer auf einen konkreten Arbeitsunfall zurückführen lasse. „Die kann sich über Jahre unbemerkt aufbauen.“
Gleichwohl sucht man in der Branche nach Lösungen für das Problem. Das Hamburger Telefonstudio des D und S Service hat vor wenigen Jahren ein Gesundheitskonzept etabliert, dass die Führung der Mitarbeiter sensibilisieren soll. Dafür gab es 2014 den Hamburger Gesundheitspreis. „Bei uns wird jeder mit Personalverantwortung geschult, wie man erste Anzeichen für physische und psychische Erkrankungen erkennen und Hilfsangebote unterbreiten kann“, sagt die Hamburger Standortleiterin Kirsten Möller.
Eine ähnliche Richtung schlägt das drittgrößte Callcenterunternehmen Walter Services ein. 2014, nach der Insolvenz, habe das neue Management ein neues Gesundheitsmanagement installiert, teilt das Unternehmen mit. Deren 4500 Mitarbeiter in Deutschland seien überwiegend fest angestellt. Walter Services ist nach Gewerkschaftsangaben das einzige Callcenterunternehmen, das auch schon länger einen Tarifvertrag hat. Das Spektrum an Mitarbeitern reicht vom Geringqualifizierten bis zum Juristen. „Unsere Mitarbeiter wollen wir behalten, dafür müssen wir für gute Bedingungen sorgen“, sagt eine Sprecherin.
Verdacht auf Scheinselbstständigkeit besteht bei vielen
Die Studie der TK lenkt die Aufmerksamkeit auf die Branche, hat aber methodische Schwächen: Zum einen hat die Kasse nur Mitglieder befragt und zum anderen nur sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Dabei hört man in Unternehmen, dass gerade am Telefon viele Scheinselbstständige arbeiten. Ende Januar hatte es in Telefonstudios von Infratel, einer Tochter der Meinungsforscher von TNS Infratest, in Berlin, Bielefeld und München Razzien gegeben. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit ging dem Verdacht nach, es handele sich bei den vielen auf Honorarbasis Beschäftigen um „Scheinselbstständige“, die de facto in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen steckten. Das Unternehmen wies das zurück, die Ermittlungen dauern an.
„Unsere Telefonisten arbeiten auf Honorarbasis. Das sind nicht nur Studenten oder Teilzeitkräfte, die sich was dazuverdienen. Mit einigen kann man immer rechnen. Etwa 50 Prozent arbeiten faktisch in Vollzeit“, schildert die zuvor erwähnte Supervisorin eines anderen Meinungsforschungsinstitutes. So könne man Sozialabgaben sparen und sei flexibler. Auftraggeber seien neben Privatunternehmen und Verbänden auch staatliche Institutionen. „Das hat schon eine gewisse Ironie, wenn die Scheinselbstständigen hier im Auftrag einer Institution des Staates telefonieren, der versucht, Scheinselbstständige herauszufiltern.“
Eine Chance für Geringqualifizierte?
Jäger vermittelt fast ausschließlich Geringqualifizierte. „Die Arbeit als Telefonistin oder Telefonist ist auch ein Auffangbecken für Menschen, die andernorts nicht so schnell an einen Job kommen“, sagt sie. „Wir laden jeden ein, der einen Computer anschalten und ausreichend Deutsch kann. Manchmal kommen noch andere Sprachkenntnisse hinzu.“ Regelmäßig bitten Mitarbeiter, die sie vor genau zwei Jahren schon in eine Festanstellung vermittelt hatte, darum, noch einmal vermittelt zu werden. Hinter diesen zwei Jahren wittern Gewerkschafter System, denn diese Zeit sei für Festanstellungen vorgeschrieben.
Noch eine Frage, die jeden Monat auftaucht, wenn wieder jemand an der Schwelle zur Festanstellung steht, ist, ob man nicht weiter in der Zeitarbeit bleiben könne. Bei der BIP bekommen die Mitarbeiter nämlich auch Fahrtkosten und Überstunden bezahlt. „Manche Mitarbeiter hatten bei uns damit am Ende des Monats mehr raus als in dem Unternehmen“, sagt Jäger.
Thomas Walbröhl
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