Familie und Erziehung: Machtkampf mit der Wenn-Dann-Keule
Kinder wollen kooperieren, sagt unsere Autorin. Sie plädiert dafür, ohne Drohungen zu erziehen – auch ohne „liebevoll konsequente“.
Als meine Töchter zum ersten Mal bewusst Weihnachten entgegen fieberten, konnten sie am Abend vor dem 24. Dezember nicht zur Ruhe kommen. Wie aufgedrehte Duracell-Häschen hüpften sie laut durch die Wohnung und schaukelten sich gegenseitig in ungeahnte Quatsch-Höhen. Irgendwann war ich so genervt und müde, dass mir herausrutschte: „Wenn ihr jetzt nicht schlafen geht, bringt der Weihnachtsmann morgen keine Geschenke!“ Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund. Wo war das denn hergekommen? Aus den Untiefen meines Gehirns, offenbar. Sofort setzte ich hinterher, dass ich gerade kompletten Blödsinn erzählt hätte und der Weihnachtsmann völlig unabhängig vom Schlafen natürlich morgen selbstverständlich Geschenke bringen würde.
Warum es mir so wichtig war, meine erste unbedachte Aussage zu korrigieren? Nun, mal abgesehen von dem recht offensichtlichen Grund, dass es für ein Kind schade ist, wenn eigentlich schöne, freudebringende magische Kreaturen in irgendeiner Weise angstbesetzt werden, steht dieser Ansatz auch für eine Art der Erziehung, die ich für meine Familie nicht möchte, nämlich die der „strafenden oder lobenden Macht im Hintergrund“. Diese Art der Erziehung beruht auf einem Machtgefälle, welches ausgenutzt wird, um Kinder dazu zu bewegen, etwas zu tun, das sie (vermeintlich) nicht von allein machen. Die große „Wenn-Dann-Keule“ ist ein guter Indikator für diese Art der Erziehung:
„Wenn du jetzt nicht aufhörst, mit den Autos zu werfen, sind sie weg!“
„Wenn du nicht stillsitzen kannst, dann ist das Essen jetzt für dich beendet!“
„Wenn du nicht aufhörst, hier mit Sand zu werfen, dann gehen wir nach Hause!“
„Wenn du nicht heute Abend dein Zimmer aufräumst, dann komme ich morgen mit einem blauen Sack und alles, was rumliegt, werfe ich in den Müll!“
„Wenn du dir jetzt nicht deine Hausschuhe anziehst, dann lachen dich die anderen Kinder aus und die Erzieherin schimpft mit dir!“
„Wenn du nicht genug Mittagessen isst, darfst du keinen Nachtisch essen!“
„Wenn du jetzt nicht kommst, dann gehe ich ohne dich los!“
„Wenn du jetzt nicht endlich aufhörst, zu maulen, dann fahren wir nie wieder mit dir in den Urlaub!“
Dem Kind wird dabei immer wieder signalisiert, dass ein anderer darüber zu entscheiden hat, was die „richtige" Reaktion ist. Dass dieser andere die Macht hat, dem Kind Schaden oder Glück zuzufügen. Und dass das Gegenüber im Prinzip keinerlei Erwartungshaltung hat, dass das Kind freiwillig kooperieren könnte. Dieser dritte Punkt wiederum ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, denn je öfter die Eltern ihre Machtposition ausnutzen, um das Kind zu einer gewünschten Reaktion zu bringen, desto fester setzt sich unbewusst der Gedanke im Gehirn des Kindes fest, dass von ihm wohl nicht erwartet wird, das freiwillig zu tun. Dieser Erwartunghaltung wird es entsprechen, denn Kinder kooperieren immer – auch im negativen Sinne.
Wir werden mit dem Instinkt geboren, freiwillig zu helfen
Das Ergebnis einer solchen Erziehung sind Kinder, die hauptsächlich deshalb gesellschaftskonform reagieren, weil sie eine strafende oder belohnende Macht im Hintergrund spüren. Das ist auf den ersten Blick vielleicht nicht problematisch, schließlich ist selbst unsere ganze Gesellschaft auf dieser Misskonzeption über die Kooperationsbreitschaft von Menschen aufgebaut: Wenn wir mit dem Auto zu schnell fahren und erwischt werden, bekommen wir eine Geld- oder Punktstrafe. Sind wir bei der Arbeit faul, werden wir vom Chef abgemahnt, sind wir fleißig, bekommen wir eine Beförderung. Kaufen wir immer wieder bei dem selben Supermarkt ein, bekommen wir „Treuepunkte“ und können uns am Ende ein „Geschenk“ aussuchen.
Wir funktionieren so, weil wir in der Kindheit so erzogen wurden. Geboren wurden wir aber mit dem natürlichen Instinkt, freiwillig zu helfen, zur Gemeinschaft beizutragen und uns so gefällig zu verhalten, dass wir nicht aus dem Rahmen fallen. Testsituationen mit 18 Monate alten Kleinkindern des Harvard-Psychologen Felix Harnecken, bei denen der Tester wie zufällig einen Kuli fallen ließ, und von seiner Seite des Schreibtisches nicht mehr drankam, zeigten, dass alle Kleinkinder losliefen, um ihm den Kugelschreiber aufzuheben. Auch wenn der Tester mit vollgepackten Armen versuchte, einen Büroschrank zu öffnen, liefen die Kleinkinder spontan und ohne dazu aufgefordert worden zu sein, zum Schrank, um die Tür für ihn zu öffnen. Es bedarf keiner Drohung, uns zur Mitarbeit zu bewegen – im Gegenteil: Belohnungen und Strafen vermindern unser natürliches Bedürfnis nach Kooperation.
Irgendwann ist den Kindern die Strafe egal
Bei der „Erziehung mit lobender oder strafender Macht im Hintergrund“ ist ein Phänomen häufig zu bemerken: Irgendwann werden dem Kind die Strafen oder auch die in Aussicht gestellte Belohnung nämlich egal, und es erwidert: „Ja, dann mach doch.“ Um seine Integrität zu wahren, verzichtet es dann auf den Spielplatzbesuch, den Nachtisch oder es bleibt lieber irgendwo allein zurück, als sich länger von den Eltern erpressen zu lassen.
An dieser Stelle haben dann die Altvorderen ein Problem. Sie müssen, da ihre Machtposition offenbar aufgebraucht ist, nun ein noch stärkeres Druckmittel finden – eine noch höhere Macht. In früheren Zeiten haben Mütter in dem Moment dann gern den Satz: „Warte nur, bis der Papa nach Hause kommt!“ genutzt, aber auch heutzutage gibt es genug höhere Mächte zum Missbrauchen: „Wenn das der Weihnachtsmann erfährt!“, „Also, wenn du dich so später in der Schule benimmst, dann wirst du dir was von der Lehrerin anhören müssen.“, „Tja, wenn du nicht mitkommst, dann sammelt dich nachher die Polizei ein. Und wer weiß, ob die dich dann zu uns zurückbringen.“
Diese Art der Erziehung funktioniert durchaus für eine Weile gut, aber nicht für immer und es gibt eine eindeutige Tendenz, dass die Belohnungen oder Strafen immer größer werden müssen, um die Kinder zur Mitarbeit zu „überreden“. Ganz sicher werden sie deswegen nicht gleich zu emotionalen Krüppeln, aber vielleicht bleiben Eltern und Kinder so in einem gewissen Machtkampf verzettelt, der eigentlich unnötig ist. Also versuchen wir doch, einen anderen Weg zu finden. Damit unser Nachwuchs, später nicht mit der Wenn-Dann-Keule auf seine Kinder losgehen muss.
Reden reicht nicht? Doch!
Nun werden einige an dieser Stelle einwenden: „Aber ich muss doch mein Kind irgendwie erziehen. Es muss lernen, was richtig und was falsch ist. Wo die Grenzen sind. Wie soll es das denn lernen, wenn ich das falsche Verhalten nicht sanktioniere? Reden allein reicht doch meist nicht.“ Doch. Normalerweise fordern wir unser Kind in solchen Situationen zunächst einmal höflich und liebevoll auf, etwas zu tun oder zu unterlassen: „Ole, hör auf mit dem Sand zu werfen.“ „Ole, sieh doch mal, das Kind da bekommt den Sand in die Augen – das tut ihm weh.“ Meist reicht das tatsächlich. Das betrachten wir dann leider häufig als vollkommen selbstverständlich und würdigen gar nicht richtig, dass unser Kind gerade ganz ohne zu diskutieren unsere Bitte erfüllt hat. Das ist wirklich schade, weil wir so die grundsätzliche Kooperationsbereitschaft unseres Kindes übersehen. Das ist ein wirklich wichtiger Punkt – die meisten Konflikte mit unseren Kindern entstehen nämlich dadurch, dass wir die Geduld verlieren, weil wir das Gefühl haben, unser Kind „hört nicht“. Das Kind hingegen hat das Gefühl, immer wieder Kompromisse einzugehen, aber dafür zu wenig zurückzubekommen. Das führt dazu, dass immer weniger Kompromisse eingegangen werden, weil das Kind sich in seiner Kooperationsbereitschaft nicht wahrgenommen und gewürdigt fühlt.
WIE ELTERN LIEBER NICHT REAGIEREN SOLLTEN:
Von der Idee der Erziehung mit „logischen Konsequenzen“ hat wahrscheinlich jeder schon gehört. Der Ansatz klingt schlüssig und erfolgversprechend: Statt zu strafen soll das Kind durch das Erleben „logischer“ Folgen lernen und so das (für uns unerwünschte) Verhalten anpassen. Möchte es also die Jacke nicht anziehen, diskutiert man nicht lange – es wird ja recht schnell merken, dass es kalt ist, und man ohne Jacke friert. Wirft das Kind wütend ein Eis herunter, wird es feststellen, dass man es dann eben nicht mehr essen kann.
DAS MISSVERSTÄNDNIS
Das funktioniert tatsächlich recht gut – hat aber leider auch zu einigen Missverständnissen geführt. Die logischen Konsequenzen werden mittlerweile häufig ohne viel darüber nachzudenken genutzt, um Kinder leichtfertig zu erpressen und zu bestrafen. Den Eltern ist das oft nicht bewusst und sie haben auch kein schlechtes Gefühl dabei. Sie erziehen wie von Experten empfohlen „liebevoll konsequent“, schließlich strafen sie nicht willkürlich, sondern finden immer einen logischen Zusammenhang von Tat und Strafe. Dabei geht es ursprünglich bei diesem Ansatz gar nicht darum, dass die Konsequenzen möglichst logisch sind, sondern vielmehr darum, dass das Kind „natürliche“ Folgen erlebt. Diese sind wie der Name schon sagt naturgegeben – und nicht von den Eltern ausgedacht. Dass diese Abgrenzung schwierig ist, zeigte kürzlich eine Diskussion in einem Forum. Eine Userin hatte irgendwo die Bezeichnung „Wenn-Dann-Falle“ gelesen und fragte, was genau so schlimm daran sei. Klar, dass unsinnige Konsequenzen wie „Wenn du jetzt nicht ordentlich isst, gibt es heute Abend kein Fernsehen“ an Erpressung grenzen, das sei ja offensichtlich. Aber die „Wenn-dann“-Formulierung beschreibe doch auch die logischen Konsequenzen im Alltag: „Wenn du keine Zähne putzt, dann gibt es nichts Süßes“ „Wenn du nicht aufräumst, dann können wir nicht spielen, weil kein Platz ist.“ Das seien doch eher Tatsachenbeschreibungen, ähnlich wie „Wenn es regnet, wird die Erde nass" oder: „Wenn man zu schnell Auto fährt, kann man einen Strafzettel bekommen.“ Das zeigt das Dilemma recht deutlich: Es hat sich ein Bewusstsein entwickelt, dass logische Konsequenzen uneingeschränkt empfohlen werden. Also wird jede Konsequenz möglichst geschickt thematisch irgendwie dem Vergehen angepasst, damit sie irgendwie logisch wird. Das kann absurde Züge annehmen, in einem Elternforum war zum Beispiel zu lesen: „Helft mir: Mir fällt keine logische Konsequenz ein! Emil hat das helle Ledersofa mit Kugelschreiber bemalt!“ Die natürliche Konsequenz ist schlicht, dass die Eltern versuchen müssen, das Sofa zu reinigen.
UNGERECHTE STRAFE
Machen wir uns nichts vor: Auch wenn eine Konsequenz noch so logisch ist – sie hat in dieser Situation keine andere Funktion, als eine Strafe. Egal, wie man die Maßnahme also nennen mag, es handelt sich um eine Sanktion zur Bestrafung eines vermeintlich unangemessenen Verhaltens in der Absicht, dieses zukünftig zu beeinflussen. Für unsere Kinder macht es nicht den geringsten Unterschied, wie logisch eine Konsequenz ist. Wenn sie beim Zähneputzen trödeln, ist es ihnen völlig egal, ob – ganz logisch – die Zeit dann als „logisch konsequent“ beim Vorlesen der Gute-Nacht-Geschichte gekürzt wird oder – ganz unlogisch als Strafe – die Süßigkeiten morgen gestrichen werden. Ihnen fehlt bis zu einem gewissen Alter einfach das Verständnis, dass etwas wie das Zähneputzen einfach notwendig ist.
Und selbst wenn sie es hätten - jetzt, gerade jetzt haben sie einfach keine Zeit oder Lust, die Zähne zu putzen und begreifen nicht, warum man das nicht ein paar Minuten aufschieben kann. Die Androhung einer Konsequenz ist für sie daher ein Zwang, etwas zu tun, das sie jetzt gerade eben nicht möchten. Wie die Strafe/Konsequenz am Ende aussieht oder wie man sie nennt, spielt im Grunde kaum eine Rolle.
In dem Moment, wo eine Strafe angedroht oder verhängt wird, fühlt sich ein Kind immer hilf- und machtlos, wütend und traurig. Strafen empfindet ein Kind so gut wie immer als ungerecht – unabhängig davon, ob sie es tatsächlich sind.
Die Autorinnen, Sonderpädagogin Katja Seide und Juristin Danielle Graf, bloggen unter gewuenschtestes-wunschkind.de. Die beiden haben auch ein gleichnamiges Buch veröffentlicht (Beltz Verlag).
Katja Seide, Danielle Graf