Erziehung in Prenzlauer Berg: „Lasst die Kinder spielen!“
Spontan verabreden oder bei der Schulfreundin nachmittags klingeln – was in den Achtzigern völlig normal war, scheint heute unmöglich. Ein Gastbeitrag
Ich bin in die Falle getappt. Schon wieder. Dabei hätte ich es wissen können, nein, müssen. Die Erklärung, die ich unterschreiben soll, wird mir am Montag von meiner 10-jährigen Tochter unter die Nase gehalten. Ob die Kinder dienstags um 12.40 Uhr selbstständig, nach Unterrichtsschluss, die Schule verlassen dürften? Meine Tochter ist in der 5. Klasse, was bedeutet, dass keine Hortbetreuung nach dem Unterricht mehr stattfindet. Die Schule sichert zwar eine verlässliche Halbtagesbetreuung bis 13.30 Uhr zu, sollte der Unterricht ausfallen oder vor 13.30 Uhr beendet sein, doch dienstags ist es wohl schwierig. Dürfen die Kinder also 50 Minuten früher die Schule verlassen? „Sicher!“, denke ich, unterschreibe und freue mich, dass meine Tochter an diesem Tag so viel Zeit hat, sich mit Freunden zu verabreden und zu spielen. Und hier liegt mein Fehler.
Spontan verabreden, in Berlin, Prenzlauer Berg – unmöglich für Kinder
Spielen, verabreden, frei über Zeit verfügen, am schlimmsten noch spontan, in Berlin, Prenzlauer Berg – unmöglich für Kinder. Wollen sich Kinder hier verabreden, wird der Terminkalender zu Rate gezogen. Und versucht, darin noch ein Stündchen zur freien Verfügung zu finden ... nun ja, leicht ist anders.
Kinder in Prenzlauer Berg spielen nicht, sie gehen in Kurse. Sie lernen Geige spielen, Schach, tanzen Zumba und Ballett, lernen Schauspiel und Gesang oder experimentieren in naturwissenschaftlichen Kursen. Kinder sind hier immer unter Aufsicht, Spiel wird von Erwachsenen gelenkt und vorgegeben und wir Eltern wissen immer, wo die Kinder sich befinden. Von der Schule gehen sie in den Hort, vom Hort in die Kurse. Wir gehen kein Risiko ein.
Erst zum Pekip, später folgen naturwissenschaftliche Kurse
Das Risiko, dass unsere Kinder den Anschluss verpassen, nicht genug gefördert werden könnten. Denn dieses Risiko scheint so groß zu sein, dass wir gar nicht früh genug mit der Förderung beginnen können. Schon mit unseren Babys gehen wir zum Pekip, in den Spiel- und Singkreis, zum Babyschwimmen, lernen Babyzeichensprache oder auch die erste Fremdsprache. Hauptsache, die Impulse kommen von außen. Ständig haben wir die Angst im Nacken, dass die Kinder nicht genug lernen und Gott bewahre, die Freizeit nicht sinnvoll nutzen könnten, sondern einfach draußen rumhängen, wie wir damals in den 80er Jahren.
Als wir nach der Schule die Schultasche in die Ecke geworfen und dann bei den Freundinnen geklingelt haben. Unterwegs waren, ohne Handy, für die Eltern nicht zu erreichen und erst abends wieder nach Hause kamen. Verdreckt, aber glücklich. Und, haben wir nicht eine Menge gelernt in dieser Zeit? Wir haben unsere motorischen Fähigkeiten beim Rollschuhfahren und Klettern ausgebaut. Natur erfahren, wenn wir Käfer sammelten und sie beobachteten. Unsere sozialen Fähigkeiten erweitert, weil wir Streitigkeiten alleine geklärt haben und Kompromisse selbst finden mussten.
Und wir haben noch Langeweile kennengelernt. Wir wissen, wie erfüllend es sein kann, wenn man aus diesem absoluten Nullpunkt der Stimmung zusammen Ideen entwickelt. Wenn man zusammen überlegt, was man benötigt um eine Idee umzusetzen und wie und wo man das Material beschaffen kann. Wir hatten Zeit und Gelegenheit, uns ins Spiel zu vertiefen und am folgenden Tag wieder anzuknüpfen. All das, ohne Erwachsene, die als Impulsgeber an unserer Seite standen.
Hätten die Kinder ebenso die Freiheit, alles abzuwählen?
Vertiefende Erfahrungen in einem Kurs zu machen kann super sein, wenn der Wunsch aus dem Kind herauskommt. Aber ich frage mich, ist es wirklich der Wunsch der Kinder, wenn sie Tuba-, Schauspiel- und Spanischunterricht bekommen? Hätten die Kinder ebenso die Freiheit, alles abzuwählen und ihre Freizeit selbst zu gestalten?
Aus der Zeit, in der ich beruflich in Neukölln gearbeitet habe, kenne ich das Bild noch. Hier spielen die Kinder nachmittags einfach mit anderen Kindern auf der Straße. Gummitwist, Straßenmalkreide, Springseil, das ganze Programm. Hier haben die Eltern nicht die finanziellen Möglichkeiten. Die Kinder gestalten ihre Freizeit selbst.
Aber in Prenzlauer Berg trauen wir das unseren Kindern nicht mehr zu. Wir schränken unsere Kinder ein, statt uns zusammen mit ihnen weiter zu entwickeln. Würden wir das tun, müssten wir nämlich aushalten, dass wir nicht immer wüssten, wo unsere Kinder sind und was sie machen. Aushalten, dass sie die Freizeit nicht zum Lernen von Instrumenten nutzen würden, sondern dazu, auf Bäume zu klettern und Streiche auszuhecken. Wir müssten aushalten, dass wir nicht alles kontrollieren könnten und erkennen, dass unser Kind nicht unser erweitertes Selbst ist. Wir müssten uns mit uns und unseren Ängsten auseinandersetzten. Wir sind weit davon entfernt unseren Kindern mehr Freiheit einzuräumen.
Mir wird das wieder bewusst, kurz nachdem ich unterschreibe und die Mails in mein Postfach flattern. Mails von besorgten Eltern, die nun in Erfahrung bringen wollen, ob die Schule nicht vielleicht den Stundenplan verändern kann. Nein, wir sind noch nicht so weit, unsere Kinder auch mal unbeaufsichtigt sein zu lassen. Wir haben zu viel Angst davor, die Kontrolle über unsere Kinder aus den Händen zu geben, nicht mehr alles lenken und vorgeben zu können. Wir bringen lieber Zeit und Energie auf, um eine Diskussion zu starten und uns zu beschweren, weil unsere 10-jährigen Kinder tatsächlich 50 Minuten unbeaufsichtigt sein sollen. 50 Minuten. Ich hätte es besser wissen müssen.
Britta Menter arbeitet seit mehr als 12 Jahren als staatlich anerkannte Erzieherin, Einzelfallhelferin und Erziehungsberaterin und berät Eltern online unter erziehungsberatung-menter.de. Auf souveraen-erziehen-und-begleiten.blogspot.de bloggt sie außerdem über pädagogische Themen, die zum Teil von ihrer Tochter Nele illustriert werden.
Britta Menter