Ein Berliner Kiez kommt nicht zur Ruhe: Zwischen Polizei und Punks: Alltag in der Rigaer Straße
Steinwürfe, Demos, Polizeieinsätze – die Rigaer Straße in Berlin ist ständig in Aufruhr. Wie gehen Anwohner damit um? Ein Rundgang durch den Friedrichshainer Kiez.
Die Rigaer Straße reicht vom Frankfurter Tor bis zur Frankfurter Allee. 1250 Meter, ihr Verlauf ist schnurgerade, erst am Ende macht sie eine leichte Rechtskurve zum S-Bahnhof. Es gibt Straßenbäume, etliche Restaurants, zwei Nagelstudios, ein paar dunkle Kneipen, einen Spielplatz mit Trinkerecke. Nichts spricht gegen die Vermutung, es handele sich um eine normale Berliner Wohnstraße. Mit der Besonderheit, dass sich auf einem Teilabschnitt Linksautonome und Polizei alle paar Wochen Straßenschlachten liefern. Von rund 110 Häusern werden zwei von Autonomen bewohnt, hinzu kommt eine Wagenburg in einer Baulücke. Etwa ein Prozent der Anwohner, mal grob überschlagen, bekämpfen den Staat, in dem sie leben, hinzu kommen geschätzt zwei Prozent nicht aktiver Sympathisanten. Und was ist mit den übrigen 97 Prozent? Wie fühlt sich das Leben in der Rigaer für die große unbeteiligte Mehrheit an?
Im polizeilich unauffälligen Ostteil der Straße betritt eine Frau, so um die 40, brünette Haare, blaue Brille, ihr Mietshaus und erzählt, es sei „angenehm, hier zu wohnen“. Wenn der Polizeihubschrauber kreist, das bekomme sie schon mit, mehr Punks als stadtüblich seien unterwegs, gelegentlich auch die Polizei, wenn wieder eine Demo anberaumt ist, zu der Aufrufe auch hier an den Häusern kleben. Die steigenden Mieten beträfen ja alle. Wer nach ihr ins Haus gezogen sei, zahle schon deutlich mehr. Ihren Namen möchte sie nicht sagen, nach kurzem Zögern nur ihren Beruf: Übersetzerin.
Der junge Finne wartetet auf seinen Airbnb-Gastgeber
Und da läuft schon der erste Punk, mit Jeanskutte, Hund, spargeldünnen Beinen und Spucke im Mund, die er aufs Pflaster schießt. Im Laden gegenüber sind Möbel aus Bali im Angebot, der Tisch mit Sitzgruppe für 4800 Euro. Die Baumscheiben sind verunkrautet, aber tretminenfrei. Die Straße hat Flüsterasphalt. Ein Mann mit Hipster-Bart parkt mit seinem Mercedes-Kombi ein. Am Bordstein hockt ein junger Finne und schaut aufs Handy. „Ich warte nur auf meinen Gastgeber.“ Airbnb. Der Flug von Helsinki nach Berlin war die Hölle, sagt er.
An einem Neubau, natursteinverkleidet, mit Sicherheitstor zum Hinterhof, quatscht eine Frau – groß, hochgesteckte Haare, braune Hautfarbe – mit dem Mann vom Paketdienst, während eine Babysitterin mit ihren Zwillingen auf Tour geht. Wie ist denn so in der Rigaer? „Super, fantastisch, gute Gemeinschaft hier“. Alle seien „super freundlich, respektvoll“. Auch die Punks? „Wir sind nicht die Beliebtesten hier“, es gebe aber keine Anfeindungen. Ihren Namen möchte sie nicht sagen, der Beruf: Informatikerin.
Endlich ein unbefristeter Mietvertrag
Nebenan betreibt Ute Riek seit zwei Jahren einen kleinen Imbiss mit israelischen Spezialitäten. Sie spricht von einer „massiven Veränderung“ im Kiez, viele gut situierte Familien zögen in die neu sanierten Wohnungen. Sie selbst würde hier nicht leben wollen: „Zu viele Hunde und Leute, die ihren individuellen Lebensstil haben“ und nicht sehr tolerant seien. Eine Kundin erzählt, ihr Freund aus Norwegen sei gerade in die Rigaer gezogen, zum ersten Mal eine Wohnung mit unbefristetem Mietvertrag, über Beziehungen. „Das mit den Polizeieinsätzen nimmt er da gern in Kauf“, sagt sie. Sein Job? „Marketing bei Zalando.“
Kommt man in der Rigaer leichter an Wohnungen? Ein Makler aus dem Kiez sagt, es gebe „marginale Abschläge“ bei den Preisen, imagebedingt. Jeder wisse, was los sei in der Rigaer, dennoch gebe es einen „großen Interessentenkreis: Berliner, Italiener, Engländer...“ Den Namen möchte der Makler nicht in der Zeitung lesen, „bisher ist nichts passiert, das soll auch so bleiben. Wir machen auch nicht viel Werbung, bewusst nicht...“
Hier gibt es noch bezahlbare Wohnungen
Zwei Rollkoffer-Frauen eilen Richtung Bahnhof, vorbei an einem Büro für Sozialberatung. Hier gebe es noch einfache Wohnungen im Hinterhof, zwei Zimmer für 500 Euro, erzählt eine Frau hinter verspiegelter Sonnenbrille, die ihre Schwester besuchen will. Die rege sich immer auf, wenn es in den Medien heiße, die Rigaer sei eine No- Go-Area. Edeka gibt es hier, dm-markt, Bio-Company. Für No-Go ist hier ziemlich viel Betrieb.
"Ein Gegengewicht gegen den Bauwahn"
Dann das: Eine Glasscheibe mit kreisrunden Bruchkanten. Sie gehört zu einem Laden, gegen den eines Nachts drei Pflastersteine flogen. „Sieht doch gut aus, oder?“ Das Lächeln, das zu diesem Spruch passen würden, bleibt aus. U. möchte die Inhaberin genannt werden. „Wir haben den Krieg hier schon richtig mitgekriegt.“ Ihr Auto parkt sie nicht mehr in der Straße. Jeden Morgen begleitet sie die Angst, es könnte wieder was passiert sein, ein Auto angezündet, eine Fassade mit Farbbeuteln beworfen. Sie will trotzdem bleiben. „Es gibt ein tolles soziales Umfeld, viele tolle Menschen, viele Künstler.“
Steinwürfe gegen den Laden
Ihre Nachbarin schaltet sich ein, es entspannt sich ein kurzer Streit über das, was legitimer Widerstand ist. „Gut, dass es ein Gegengewicht gibt gegen diesen Bauwahn, das ist das weitaus größere Verbrechen.“ Darauf U.: „Es trifft nur die Falschen.“ Die Nachbarin nickt. Sie ist gegen das von den Autonomen bekämpfte Bauprojekt der CG-Gruppe „Carré Sama-Riga“ in der Rigaer Straße. Es gebe viel zu wenig Grünflächen in Friedrichshain. U. hält dagegen: „Aber die Leute brauchen Wohnungen. hast du mal an deine Söhne gedacht? Wo sollen die später hin?“ Dann erzählt sie, sie habe sich gegen das Protesttrommeln am Sama-Riga-Bauzaun ausgesprochen. Der Grund für die Steinwürfe, vermutet sie. „Ich bin eigentlich für freie Meinungsäußerung, aber die wollen nicht mit mir reden.“
Die einschlägigen Plakate werden mehr, Soli-Aufrufe für Häftlinge, „Rebellische Strukturen verteidigen“, auch die CG-Gruppe hat plakatiert: „1. Großes Kiez-Projekt – sozial, ökologisch, ökonomisch, zukunftsorientiert“. Vor der Kneipe „Abstand“, die zum autonomen Hausprojekt Rigaer 78 gehört, sitzen Punks auf dem Bürgersteig, trinken Bier und unterhalten sich. Passanten schlängeln sich hindurch oder wechseln die Straßenseite. Er sei schon mal doof angemacht worden, sagt ein Vater mit Rad und Kind, aber insgesamt sei alles entspannt.
"Hier gibt es keinen Rassismus, keine Homophobie"
Die weißen Neubaublöcke mit Panoramafenstern an der Liebigstraße sind mit schwarzen Klecksen überzogen. Eine Mutter beklagt sich über zu viel Müll und Hundekacke, ein junger Mann in Nike- Shirt, kurze rote Haare, sagt: „Leute, die sich solche Wohnungen leisten können, sind nicht kompatibel mit der Kiezstruktur.“ Der Kiez sei schon immer alternativ geprägt. „Hier gibt es keinen Rassismus, keine Homophobie.“ Wer hier Ärger mache, seien die Polizisten. Name? Beruf? „Schreiben Sie Studierender.“
Das Haus neben der bunt bemalten Autonomen-Residenz Rigaer 94 ist eingerüstet. Das Dachgeschoss wird ausgebaut. Jemand hat in Schweinchenrosa ein Graffiti aufgesprüht: „Saubere Wände = hohe Mieten.“ Die Wand ist mit Graffiti übersät, „die Mieten steigen trotzdem“, sagt eine junge Frau, die auf dem Weg in die Schule ist. Sie will nicht wegziehen, es sei schließlich ihr Kiez.