Das A100-Dilemma: Zerreißprobe für die Berliner Grünen
"Es geht darum, klar und ehrlich zu sagen, was man will", hatte Volker Ratzmann, Grünen-Fraktionschef, vor der Wahl gesagt. Die A100 wollte er auf keinen Fall. Nun könnte die Autobahn trotzdem Teil des Koalitionsvertrags werden.
Geschnittene Gurken liegen auf einem Tablett neben roten Paprikascheiben und Karottenhälften. Vor den neun Mitgliedern des Grünen-Landesvorstands stehen grüne Kaffeetassen mit gelben Sonnenblumen, dazwischen zwei tiefrote Plastikkannen. An diesem Tisch in der Landesgeschäftsstelle wird der Kompromiss geschmiedet, der den Weg für eine rot-grüne Koalition freimachen soll. Und was das Gemüse betrifft, ist es an diesem Montag schon mal eine harmonische Partnerschaft.
Zweieinhalb Stunden später treten Renate Künast, die Landeschefs Daniel Wesener und Bettina Jarasch sowie die Fraktionsvorsitzenden Volker Ratzmann und Ramona Pop wieder vor die Tür. Mit strahlenden Gesichtern verkünden sie, dass ein Kompromiss über die Stadtautobahn A 100 gefunden wurde. Die Formel lautet: Das Projekt wird „nicht grundsätzlich“ aufgegeben. Man will sich aber dafür einsetzen, dass die Bundesmittel für den Weiterbau dieses 3,2 Kilometer langen Teilstücks beispielsweise für Lärmschutzmaßnahmen umgewidmet werden.
Es liegt damit an Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer, einem CSU-Mann, ob die rot-grüne-Koalition in Berlin sich ein Problem geschaffen hat, das zur Zerreißprobe werden könnte. Und Ramsauer lässt es sich denn auch nicht nehmen, auf die Projektgebundenheit der 420 Millionen Euro zu verweisen. Geld gebe es nur für „das konkrete Projekt A 100.“
Ist das der Kompromiss, den die grüne Basis mitträgt? Die träumt sich am Dienstag, 16 Stunden später, ein wenig durch die Mittagspause. Zwei Kolleginnen vom Urban-Krankenhaus, Mitte 40, Kurzhaarfrisuren, blinzeln ins Sonnenlicht. Klar haben sie Grün gewählt, wie immer, auch weil sie keine Autobahn möchten mitten in der Stadt. Über den koalitionären A-100-Kompromiss sagt die eine: „Da geht schon Glaubwürdigkeit verloren.“ Die andere will beim nächsten Mal vielleicht die Piraten wählen, dann ist die Mittagspause vorbei.
Das ist schon die härteste Form von Missbilligung, die im grünen Kreuzberg zu hören ist mit 35,5 Prozent Zweitstimmen. Frank Dietrich, 50, lange Haare, steht vor seinem Weinladen in der Körtestraße und kann sehr ausschweifend differenzieren zwischen einer „grundsätzlichen Ablehnung von Autobahnen“ und der Notwendigkeit politischer Kompromisse. „Ich möchte lieber die Grünen in der Koalition sehen als die CDU.“ Da sei der zugegeben merkwürdige Kompromiss zur A 100 eben das kleinere Übel.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum einige Grüne eine Koalition mit Autobahn besser finden würden als gar keine.
Es gibt offenbar größeres Ungemach als die Autobahn: die steigenden Mieten und das Häusermonopoly. Frank Dietrich würde sich gerne eine Eigentumswohnung kaufen, kann sich aber keine mehr leisten, weil Investoren und Immobilienspekulanten dieses Geschäft inzwischen unter sich ausmachen. Das Abtauchen des rot-roten Senats in dieser Debatte empfindet Dietrich als „peinliche Katastrophe“. Allerdings hat er wenig Hoffnung, dass den inzwischen etablierten Grünen dazu mehr einfällt.
Die Graefestraße gehört zum Wahlkreis des grünen Direktkandidaten Dirk Behrendt. Fast 50 Prozent der Erststimmen hat der Parteilinke hier geholt. Es gibt gemütliche Cafés, einen Lakritzladen, Plakate gegen Atomkraft und große selbstorganisierte Pflanzbeete. Im Bioladen „Laib und Käse“ duzen sich alle. Inhaber Markus Domsch kam 1989 nach Kreuzberg und fing an, umweltgerecht zu wählen. Mit dem Kompromiss zur A 100 fange sein grünes Herz jetzt nicht an zu bluten. Sollen sie doch die Autobahn schlucken, wenn sie dafür von der SPD mehr Schutz gegen die steigenden Mietpreise aushandeln, sagt er. So gehe es eben zu in Koalitionen. Klassischer Kuhhandel. „Siehe Hamburg, da wurde auch das Kohlekraftwerk gebaut.“
Schwach findet Domsch nur, dass SPD und Grüne die Entscheidung an den Bund delegieren. „Das ist kein Kompromiss. Da wird anderen etwas in die Schuhe geschoben.“
Ein Bio-Kunde in schwarzem Unterhemd, Handwerker, 47, große feurige Augen, als wolle er gleich die Revolution ausrufen, outet sich als grüner Autobahnlobbyist. „Wenn die gut gebaut ist, ist doch super. Das entlastet doch die anderen Straßen.“ Grünen-Wähler würden eben heute auch Auto fahren. Die Autos der Zukunft würden außerdem mit Strom fahren, also nicht mehr die Umwelt verpesten.
Mister 50-Prozent, Dirk Behrendt selbst, freut sich. Der Kreuzberger Abgeordnete sagt, dass „dieser Kompromiss eine realistische Chance ohne den Weiterbau der A 100 hat“.
Noch am Montagabend unterrichtete die Grünen-Spitze ihre Kreisvorstände in der Landesgeschäftsstelle. Es habe „große Zustimmung“ gegeben, berichtet Norbert Schellberg, der Kreisvorsitzende aus Steglitz-Zehlendorf. „Es ist schon erstaunlich, dass in dieser schwierigen Lage ein solcher Kompromiss gefunden wurde.“ Am Freitag, davon gehen alle Kreisvorstände aus, wird der Parteitag der Grünen sich „ziemlich sicher“ für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der SPD aussprechen.
Franz Schulz ist ein Urgrüner und der wiedergewählte Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg. Sein Bezirk hat gemeinsam mit anderen Verbänden eine Klage beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht, um den Weiterbau zu verhindern. Für Schulz ist das, was die Sondierungsgruppe der Grünen ausgehandelt hat, ein „Scheinkompromiss“. Aber da ist er einer der wenigen. „Wir werden in die gefährliche Situation kommen“, fährt er fort, „dass die Baureife da ist, wenn die Bundesgelder nicht umgewidmet werden können.“ Und wenn die Grünen-Spitze nicht deutlich machen könne, dass die Umwidmung auch wirklich gelinge, sagt Schulz, dann „muss nachverhandelt werden“.
So kritisch wie Schulz dagegen sehen andere Kreuzberger Grüne das Verhandlungspaket nicht. Nicht mal Hans-Christian Ströbele, der das dritte Mal in Folge in Kreuzberg sein Direktmandat für den Bundestag gewonnen hat und eigentlich immer querschießt, wenn ein Mangel an Klarheit besteht. Jetzt spricht er von einem „Kompromiss als Einstieg in die Möglichkeit, die A 100 zu verhindern“. Verstanden? Später ruft er noch einmal an, stellt klar: „Ich will die A 100 nicht.“ Und da hätten die Grünen ja klare Aussagen im Wahlkampf gemacht.
Lesen Sie auf Seite 3, welche persönlichen Pläne an das Zustandekommen von Rot-Grün gekoppelt sind.
In der Tat. Eineinhalb Wochen vor der Wahl hatte die Spitzenkandidatin Renate Künast im RBB-Fernsehduell mit Wowereit ein Signal gegeben: Die A 100 gehöre zwar zu den Essentials bei den Koalitionsverhandlungen. Aber Hauptsache sei doch, die Grünen könnten in Berlin mitregieren. Damit hatte sie ihren eigenen Kampf um das Rote Rathaus aufgegeben. Das irritierte schon etwas. Was wollten die Grünen denn dann noch?
Daraufhin erklärte Fraktionschef Volker Ratzmann drei Tage vor der Wahl mal eben den Verzicht auf die A-100-Verlängerung zur Bedingung für Rot-Grün. Er sagte: „Wir werden keinen Koalitionsvertrag unterzeichnen, der den Weiterbau der Stadtautobahn A 100 zum Inhalt hat. Wenn Klaus Wowereit die A 100 will, muss er das mit der Berliner CDU machen.“ Er sagte auch: „Es geht darum, klar und ehrlich zu sagen, was man will.“
Volker Ratzmann ist ein kluger Kopf, kein Sprücheklopfer. Er ist ein guter Redner, überlegt, bedächtig. Und er hat ein sicheres Gespür für Macht. Der 51-Jährige will nach vorne. Er will regieren und in Berlin Senator werden. Und er setzt alles darauf, dass seine enge Vertraute Renate Künast nicht allzu beschädigt wieder in die Bundespolitik zurückgehen kann. Die Grünen erreichten bei der Abgeordnetenhauswahl mit 17,6 Prozent zwar 4,5 Prozentpunkte mehr als vor fünf Jahren und ihr bislang bestes Ergebnis. Aber ihr Hauptziel hat die frühere Spitzenkandidatin deutlich verfehlt: Sie ist nicht zur Regierenden Bürgermeisterin gewählt worden. Es ist kein „Rekordergebnis“, wie es Künast sagte, kein zweiter Platz hinter Wowereit, sondern weit von der CDU entfernt. Um nicht völlig angeschlagen wieder den Rückzug auf die Bundestagsfraktionsebene anzutreten, muss Künast eine rot-grüne Lösung in Berlin moderieren.
Dass Volker Ratzmann sich ohne Not einige Tage vor der Wahl als Anti-A-100-Akteur festgelegt hat, versucht er nun zu revidieren. Er muss sich gewissermaßen selbst wieder einfangen und verteidigt den Kompromiss am Telefon vehement. Er gestehe der SPD zu, „dass sie das Projekt nicht endgültig und grundsätzlich aufgeben will“, sagt er. Und er sieht auch keinen Widerspruch zwischen seiner Aussage vor der Wahl und der Formulierung, dass der Autobahnbau „nicht grundsätzlich“ aufgegeben wird. Das sei alles kein Widerspruch. Er habe nur gesagt, es werde keinen Vertrag geben, in dem „festgeschrieben“ ist, dass die A 100 gebaut wird.
Und festgeschrieben ist noch gar nichts. Denn Wowereit hat nur gegenüber seinem SPD-Landesvorstand gesagt, es werde die Autobahn gebaut, wenn die Umwidmung der Gelder misslinge. Mit den Grünen war das nicht verabredet, sagt Ratzmann – von wegen festgeschrieben.
Das wollen die Grünen nun in den Koalitionsverhandlungen nachbessern. Und sie wollen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts abwarten, das im nächsten Jahr erwartet wird. Es ist ein Spiel auf Zeit. Zunächst wird das die grüne Basis wohl beruhigen. Aber was passiert dann?
Am Freitag treffen sich die Delegierten zu einem Parteitag, bei dem die Aufnahme der Koalitionsverhandlungen mit ziemlicher Sicherheit beschlossen wird. Hätte die Grünen-Spitze dagegen zu einer Mitgliedervollversammlung geladen, müsste sie vor dieser Abstimmung zittern. Ist die Stadt vor diesem Hintergrund rot-grün regierbar wie es Rot-Grün glauben macht? Oder werden sich Grüne und SPD alle zwei Wochen zu einem Koalitionsausschuss treffen, weil es mal wieder in dem Wunschbündnis hakt? Einige Grüne üben schon Formelkompromisse. Es gehe ja nicht nur um die Autobahn.
Sabine Beikler, Thomas Loy