Eberhard Diepgen und Wolfgang Wieland im Interviews: „Wir haben in Berlin nicht zu viele Flüchtlinge“
Die Flüchtlingsbeirats-Mitglieder Eberhard Diepgen und Wolfgang Wieland sprechen im Interview über Versäumnisse, Lehren aus den 90ern, Verteilung in Stadt und Peripherie und Helmut Schmidt.
Herr Diepgen, Herr Wieland, Sie gehören beide dem Beirat für Flüchtlinge an. Wie geht das zwischen CDU und Grün?
Diepgen: Gut. Wir ergänzen uns mit unseren Erfahrungen. Und wir stimmen in der Analyse der Lage überein. Auch in unseren Wünschen an den Senat übrigens. Vor allem fordern wir eine Gesamtverantwortung der Landesregierung. Es hat zu viel Denken in Einzelressorts gegeben. Außerdem sollten Flüchtlinge möglichst dezentral in der Stadt verteilt werden. Wer in Wohnungen lebt, integriert sich schneller als jemand in einer Massenunterkunft.
Wieland: Was mich im Beirat gefreut hat, dass Eberhard Diepgen sagte, wir unterscheiden nicht zwischen guten und schlechten Flüchtlingen.
Diepgen: Wobei es selbstverständlich Unterschiede gibt. Es gibt Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte, für die das Recht auf Asyl gilt. Und es gibt andere Herausforderungen durch Völkerwanderungen des Hungers und Elends.
Was ist mit Islamisten? Fanatiker aus Tschetschenien haben Syrer in einem Berliner Heim angegriffen. Ähnliche Attacken gab es in Eisenhüttenstadt in Brandenburg.
Wieland: Die Flüchtlinge kommen eben in dieser Mischung an – auch mit islamistischen Kämpfern aus dem Nahen Osten. Doch so lange ihr Asylverfahren läuft, haben sie ein Recht, untergebracht zu werden. Und die Betreiber der Heime sagen uns, besser sind gemischte Unterkünfte. Also eben keine Trennung nach Nationen und Religionen. Das würde die Aggression gegen andere nur verstärken.
Diepgen: Dennoch muss in bestimmten Fällen der religiöse, ethnische und politische Hintergrund berücksichtigt werden. Das dringendste Problem ist aber die überforderte, ausgedünnte Verwaltung. Die Ämter haben oft das Richtige getan, aber selten das Ideale tun können. Und so musste auch das Landesamt für Gesundheit und Soziales, also das Lageso, irgendwann Prioritäten setzen.
Sie spielen auf die Lageso-Affäre an. Hätte Sozialsenator Mario Czaja (CDU) sagen sollen: Mag sein, dass das Lageso in der Hektik umstrittene Absprachen mit den Betreibern neuer Heime getroffen hat, die Alternative aber wären massenhaft obdachlose Flüchtlinge gewesen?
Diepgen: Eine Bemerkung dazu: Helmut Schmidts herausragende Leistung bei der Sturmflut in Hamburg 1962 war, dass er sich nicht an alle Bestimmungen gehalten hat – und so die Stadt gerettet hat.
Wieland: Er hat das aber selbst angeordnet, das ist der Unterschied. Czaja sagte jedoch, das Lageso habe de facto allein gehandelt, weil in den vergangenen Jahren so viele Flüchtlinge kamen.
Was bedeutet das für die Zukunft?
Diepgen und Wieland: Vorsorge!
Diepgen: Man hat in der Vergangenheit versäumt, sich auf Flüchtlingswellen vorzubereiten. Besser wäre es nun, es gäbe genug Heime. Solche Heime müssen auch nicht immer voll sein, können dann aber bei Bedarf genutzt werden. Und dafür kann man ruhig mal Ärger mit dem Rechnungshof riskieren. Ähnliches gilt beim Personal. Es war ein Fehler, so viele Fachstellen in der Verwaltung abzubauen. Dafür kann der aktuelle Senat allerdings wenig.
Wieland: Dazu kommt noch die Tankermentalität der Verwaltung. Ein Amt kann nicht einfach ein anderes um unbürokratische Hilfe bitten – selbst nicht in einer erkannten Notsituation. Da müssen der Personalrat, die Frauenvertretung und und und gefragt werden. Das ist misslich.
Diepgen: Demokratie ist ein Prinzip der Langsamkeit. Die im Normalfall gültigen Regeln sollten in Notlagen aber ausgesetzt werden können.
Haben wir eine solche Notlage in Berlin?
Wieland: Zumindest fehlt angesichts der Flüchtlingszahlen die nötige Flexibilität. Die von uns empfohlene Zusammenarbeit im Senat läuft an, aber langsam.
Helfen wir den Falschen? Neben Kriegsflüchtlingen aus Libyen, Nigeria, Syrien und Irak kommen vor allem Roma vom Balkan, die ohnehin kein Asyl bekommen.
Wieland: Sicher, die Armutsflüchtlinge aus Südosteuropa kosten Kapazitäten. Doch den Balkan abzuschotten, klappt nicht. Es hilft mehr, in den Ländern dort über das deutsche Asylrecht aufzuklären.
Was läuft sonst falsch?
Wieland: Es gibt noch zu wenig Wege, Flüchtlinge in Arbeit zu bringen.
Diepgen: Die Bundesmittel für Sprachkurse sind zu gering und laufen aus. Außerdem sind bei den Kursen die Zugangsbedingungen so erschwert, dass sie einer schnellen Integration im Wege stehen.
Arbeitssenatorin Dilek Kolat (SPD) möchte Lotsen, die in den Heimen die Flüchtlinge nach ihrer Qualifikation fragen.
Diepgen: Warum so spät? Es sollte schon beim Erstaufnahmegespräch nach Ausbildung, Berufserfahrung und Bildungsbereitschaft gefragt werden.
Wieland: Es gibt zudem noch zu viele Barrieren bei der Anerkennung der Berufsabschlüsse. Wir brauchen Fachkräfte – etwa in der Pflege.
Herr Diepgen, Sie waren in den 90ern Regierender Bürgermeister der Stadt. Damals gab es eine Flüchtlingswelle aus Jugoslawien. Haben wir von damals gelernt?
Diepgen: Damals wurde Wirklichkeit, was wir erwartet hatten: Die meisten Flüchtlingen sind nach wenigen Jahren wieder in ihre Heimat gezogen. Das ist heute anders. Was die Vorsorge angeht: Im Nahen Osten hat der Westen staatliche Strukturen dauerhaft zerstört, da hätte man in Europa und in Deutschland mit großen Flüchtlingsbewegungen rechnen müssen.
Wieland: Viel hat man in den 90er Jahren eben nicht gelernt. Niemand hat Notunterkünfte geschaffen, die man nun hätte belegen können.
Diepgen: In diesem Punkt stimme ich zu. Wir brauchen in Berlin eine Vorsorge mit größeren Einrichtungen der Erstaufnahme.
Wieland: Ich hatte als langjähriger Innenpolitiker in Berlin und im Bund auch mit Katastrophenschutz zu tun. Die Frage, wie schützen wir unsere Infrastruktur im Notfall, stellen wir uns doch, bevor etwas passiert. Ähnlich hätte man sich fragen sollen: Wo bringen wir Flüchtlinge unter, wenn es nötig wird? Ein großes Notaufnahmelager wäre die Alternative zu Turnhallen und Traglufthallen.
Diepgen: Endlich werden aber Gelände in den Blick genommen, die im Senat bislang nicht im Fokus standen. Das hatte viel mit Egoismen der Ressorts zu tun.
Bislang hat Senatschef Michael Müller (SPD) wenig zur Flüchtlingsfrage gesagt. Wann wird das Thema nun Chefsache?
Wieland: Vorsicht. Das ist eine Aufgabe des ganzen Senats. Es läuft noch nicht gut, aber es läuft besser. Das Verhältnis zwischen Arbeitssenatorin Dilek Kolat und Sozialsenator Mario Czaja ist noch verbesserungsfähig. Da wirkt noch immer der Streit um das von Flüchtlingen besetzte Camp auf dem Oranienplatz nach. Einige wollten Czaja danach vor die Wand fahren lassen.
Diepgen: Noch Anfang des Jahres gab es ein Gegeneinander im Senat, nun wird’s besser. Und dass Senator Czaja für die Unterbringung neue Stellen bekommt, klappt nur, weil der Finanzsenator mitmacht und nun der ganze Senat dahintersteht. Aber das alles muss weitergehen. Wenn es schneller gehen soll, brauchen wir auch mehr Personal bei der Ausländerpolizei und den Verwaltungsgerichten. Denn es werden noch mehr Flüchtlinge kommen.
Wieland: Schon im nächsten Winter wird es wieder dramatisch. Doch die Berliner tun viel. Es gibt Nachbarschaftshilfen und Willkommensinitiativen. Es gibt so viele Ehrenamtliche, dass wir in der Stadt eine Stelle brauchen, die all das Engagement sinnvoll koordiniert.
Benötigen wir einen Ehrenamt-Koordinator des Senats?
Wieland: Ja. Viele wollen sich engagieren, auch wenn sie nicht in der Nähe eines Heims wohnen. Diese Bereitschaft ermutigt uns auch. Diese Stelle könnte auch bei einem Wohlfahrtsverband angesiedelt sein.
Diepgen: Unser Sozialstaat hält manchmal zu viele Regeln bereit, die zu Beschwernissen und Belastungen der betroffenen Menschen führen, denen wir eigentlich helfen wollen. Es klemmt grundsätzlich noch an vielen Einzelpunkten. Da hatte etwa eine Flüchtlingsfamilie eine Wohnung gefunden, die ihnen der Vermieter auch geben würde. Doch das Amt genehmigte das nicht, weil die Wohnung für die vielen Kinder zu klein gewesen sein soll.
Wie viele Flüchtlinge kann Berlin aufnehmen? Bald gibt es 30.000 Männer, Frauen und Kinder, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen. In diesem Jahr allein werden 26.000 neue Flüchtlinge erwartet.
Diepgen: Derzeit haben wir in Berlin objektiv nicht zu viele Flüchtlinge. Die Politik muss aber darauf achten, dass es subjektiv nicht trotzdem zum Problem wird. Irgendwann muss sie sich fragen, wie sie auf die Massenflucht aus dem Süden reagieren will und wo die Grenze der Aufnahmebereitschaft liegt. Wir dürfen aber das Grundrecht auf Asyl nicht aushöhlen, indem wir es mit arbeitsmarktpolitischen Interessen und Fragen von Aufnahmefähigkeit vermengen.
Wieland: Unsere Aufgabe als Beirat ist es ja auch, den Dialog mit den Menschen zu organisieren. Es gibt Ängste und Besorgnisse, aber doch eine viel größere Aufnahmebereitschaft als vor 20 Jahren.
Diepgen: Die Politik muss vordenken. Dazu gehört eine gezielte Ansiedelung. Vor allem in Brandenburger Städten stehen ganze Wohnblöcke leer, zugleich werden in einigen Orten Pflegekräfte gebraucht. Doch statt dass sich die Kommunen unter den Flüchtlingen gezielt ausgebildete Schwestern suchen können, werden Asylbewerber starr nach Quoten verteilt.
Wieland: Richtig. Wer unseren Föderalismus nicht kennt, fragt sich verwundert, warum in Berlin alte Baracken hergerichtet werden, während in Brandenburg leere Wohnungen warten.
Eberhard Diepgen (CDU) wurde 1984 Nachfolger Richard von Weizsäckers als Regierender Bürgermeister von Berlin und blieb mit zweijähriger Unterbrechung bis 2001 im Amt. Wolfgang Wieland hat die Alternative Liste mitbegründet, später war er Berliner Fraktionschef und Bundestagsabgeordneter für die Grünen. Gemeinsam sitzen sie im "Berliner Beirat für Zusammenhalt" (BZZ), der sich mit Flüchtlingsfragen befasst.