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Was auf den Straßen passiert, kommt Harald Martenstein wie ein Spiegelbild der Gesellschaft vor. Jeder verfolgt seine Ziele und verbrämt seinen Egotrip mit selbstgerechtem Gefasel.
© Fotos und Montage: Mike Wolff

Egoismus auf der Straße: Wie Berlins Verkehr die Persönlichkeit spaltet

Auf dem Rad hasst unser Autor die Autofahrer. Im Auto die Radler und Fußgänger. Als Fußgänger das Leben und vor allem den Bus. Ein Selbstversuch.

Die Entfernung zwischen meiner Berliner Wohnung und meinem Büro beim Tagesspiegel beträgt nur ungefähr 3,5 Kilometer. Von so einer komfortablen Situation träumen Millionen Pendler. Ich könnte sogar laufen, das habe ich auch ein paar Mal gemacht. Meistens bleibe ich auf dem Rückweg in dem Biergarten „Brachvogel“ hängen, der ungefähr auf halber Strecke liegt. Ich laufe ungefähr 50 Minuten, bestenfalls 45. Weil ich meistens wenig Zeit habe oder ein paar Bücher mitschleppe, tue ich dies selten.

Der mobile Mensch hat eine multiple Persönlichkeit. Als Fußgänger ärgere ich mich über die rücksichtslosen Radfahrer auf den Gehwegen. Die sind wirklich das Letzte und gehören ohne Rückfahrkarte auf den Mond geschossen. Da dürfen sie meinetwegen fahren, wie und wo sie wollen. Sobald ich aber selbst ein Rad besteige, beobachte ich an mir diese Persönlichkeitsveränderung. Mein Ärger über die Radfahrer ist wie weggeblasen. Mehr noch, ich spüre eine unbändige Lust, schiefen Gehwegplatten oder Kopfsteinpflaster auszuweichen, indem ich den Gehweg benutze. Ich gebe zu: Ich habe gesündigt. Der Fußgänger in mir wird dann sehr sauer auf mich. Er verlangt von mir, mich durchschütteln zu lassen. Je länger ich auf dem Rad sitze, desto leiser wird die weinerliche Stimme des Fußgängers und desto lauter höre ich das sonore, selbstbewusste Organ meines inneren Radfahrers. Er sagt: Nichts kann dich stoppen, mein Freund.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein

Auch die Autofahrer sind eine Pest. Überall stehen sie im Weg, wollen parken, wollen abbiegen, als ob es keine Busse und U-Bahnen gäbe in dieser Stadt. Sobald ich mich aber in mein Auto setze, werde ich wieder ein anderer Mensch. Ich sehe jetzt neue, aufregende Dinge – mein innerer Autofahrer zeigt sie mir. Diese Radfahrer halten sich ja tatsächlich an keinerlei Regeln, überholen links und rechts, fahren, als seien sie lebensmüde, verlangen von allen anderen Rücksicht und ständige Aufmerksamkeit, ohne aber selbst den anderen Verkehrsteilnehmern ein bisschen was von diesen lobenswerten Verhaltensweisen zurückzugeben. Pfui!

So ist das, oder? Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Was jeden Tag auf den Straßen passiert, kommt mir vor wie ein Spiegelbild der Gesellschaft. Jeder verfolgt seine Ziele, die bisweilen durchaus egoistisch sind, und verbrämt seinen Egotrip mit selbstgerechtem Gefasel, bisweilen aufgehübscht durch eine Ideologie. Ohne die ordnende Hand des Staates würden wir übereinander herfallen und am Ende würden die Stärksten und Skrupellosesten siegen, in Berlin sowieso. Ich habe ein pessimistisches Menschenbild, oh ja.

Als ich den Führerschein machte, mussten wir den Paragrafen eins der Straßenverkehrsordnung auswendig lernen: „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. Wer am Verkehr teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder, mehr als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“

Dieser Paragraf ist für mich einer der großen utopischen Texte der Menschheitsgeschichte, so was wie die Bergpredigt, das Kommunistische Manifest oder die Erklärung der Menschenrechte.

Mein innerer Autofahrer kritisiert mich, weil ich mich rechtfertige

Am ersten Tag dieser Versuchsreihe habe ich das Auto genommen. Der große Vorteil des Autos: Man kann Gepäck mitnehmen, so viel man will, und das Wetter spielt keine Rolle. Wenn ich den Laptop dabeihabe, der nicht nass werden und nicht auf den Boden fallen sollte, tendiere ich zum Auto. Ein wichtigerer Grund ist mein Hund, den ich manchmal mit ins Büro nehme, weil er sich mit der Putzfrau und mit Handwerkern nicht versteht und weil er depressiv wird, wenn man ihn alleine ins Arbeitszimmer sperrt. Er ist alt, hüftsteif und kriegt nach einem Kilometer Radfahren Schnappatmung, nach drei Kilometern wäre er womöglich ein Fall fürs Krematorium. Ich könnte ohne Auto auch deshalb nicht klarkommen, weil ich oft in Brandenburg bin, die öffentlichen Verkehrsverbindungen in unser Dorf sind ein Angebot nur für Menschen mit einem unbegrenzten Zeitbudget. Ich bin auch nur mittelsportlich. Ziele, die weiter entfernt sind als zehn Kilometer, liegen außerhalb meines Fahrrad-Radius. Ich würde zu Gesprächsterminen nass geschwitzt erscheinen.

Mein innerer Autofahrer kritisiert mich, weil ich mich rechtfertige. Eigentlich sollte man das nicht tun. Autofahren ist legal, oder? Wenn keiner mehr Autos kauft, bricht zuerst die deutsche Wirtschaft zusammen und bald darauf, mangels Steuereinnahmen, das Sozialsystem. Ich lehne es ab, zum Wohle der Allgemeinheit ein Auto zu kaufen und es dann nicht zu fahren. Das Rad und der öffentliche Nahverkehr werden das Auto nie ganz ersetzen können, allein schon wegen der Alten, der Behinderten und vor allem der Familien. Wer mit zwei Kindern plus Kinderwagen einen Ausflug zur Oma in Dingsda unternehmen möchte, der hat es mit Auto viel einfacher. Wer kein Auto besitzt, wählt in solchen Fällen vielleicht Carsharing. Eine Politik, die das Auto zum Teufelswerk erklärt, ist altenfeindlich, krankenfeindlich und familienfeindlich, das wollte mein innerer Autofahrer einfach mal gesagt haben.

Wo Tagesspiegel-Leser im Berliner Verkehr auf Gefahren stoßen:

Ich verlasse die Wohnung um 9.40 Uhr. An diesem Tag habe ich einen Parkplatz direkt gegenüber der Wohnung, das kommt manchmal vor. Auf der Strecke muss ich zehn Ampeln, einen Artisten und eine Baustelle überwinden. Weil am Halleschen Tor meistens Stau herrscht, wähle ich einen Schleichweg, den ich in wochenlangen Forschungsarbeiten herausgefunden habe und niemandem verrate, dadurch verlängert sich die Strecke um etwa einen Kilometer.

Die größte Hürde stellt wieder mal das Ausparken dar. Wenn man aus einer Parklücke herausmanövriert, dann stoppen andere Autofahrer manchmal und lassen einen hinaus. Entweder sind sie auf den Parkplatz scharf, oder sie sind einfach nett – man fasst es kaum. Radfahrer stoppen fast nie. Sie nützen die kleinste Lücke. Sie gehen davon aus, dass der Autofahrer sie sieht und schon anhalten wird. Es kann aber kein Mensch gleichzeitig nach links und nach rechts schauen. Probieren Sie es mal! Wenn man gleichzeitig links und rechts von Radfahrern überholt wird, dann stellt dies eine gewaltige kognitive Aufgabe dar. Beim Ausparken aus einer vertikalen Parklücke wird die Sicht von anderen parkenden Autos versperrt. Man muss sich Zentimeter für Zentimeter aus der Lücke herausschieben, in der Hoffnung, dass die lebensmüden Radfahrer mindestens zwei Zentimeter Abstand zum Heck des Autos haben.

Radfahrer werden nie angebettelt

An der Ampelkreuzung Zossener Straße, am Kanal, steht meistens ein Artist, in der Regel ein Jongleur. Manchmal haben die Jongleure eine Freundin dabei, die am Straßenrand sitzt und nicht jongliert. Auf dem Heimweg, auf der Gegenseite, steht fast immer ein Bettler oder eine Bettlerin mit Kopftuch an der Kreuzung. Die Bettler haben immer eine Krücke dabei, augenscheinlich ist es dieselbe Krücke, die von einem zum anderen weitergereicht wird und mit deren Hilfe sie mit unterschiedlichem Talent eine Gehbehinderung simulieren. Dass in dieser Gruppe, die ähnlich gekleidet ist und zur gleichen Ethnie zu gehören scheint, jedes einzelne Mitglied die exakt gleiche Gehbehinderung hat, kommt mir wenig wahrscheinlich vor.

Ich mag diese Bettler nicht, weil sie einen Mann vertrieben haben, der vorher an dieser Kreuzung bettelte. Er hatte schlechte Zähne und ein sympathisches Lächeln, war klapperdürr, ging ebenfalls nur mit Mühe und sprach mit einen Akzent, den ich nicht einordnen konnte. Ich gab ihm jedes Mal etwas, und wir wechselten während der Rotphase ein paar Worte, scheiß Wetter heute, pass auf dich auf, bis morgen. Ich wollte immer mal rechts ranfahren und ihn auf ein Bier einladen, zum Essen, oder was sonst er mochte, ich wollte seine Geschichte erfahren. Eines Tages war er verschwunden, und die Krückenmannschaft hatte die Kreuzung übernommen.

Radfahrer werden nie angebettelt, mir ist es auf dem Rad jedenfalls nie passiert. Wenn ich mit dem Rad fahre, komme ich an dieser Kreuzung ohnehin nicht vorbei. Ich hatte ein paar Mal überlegt, wegen des Bettlers einen anderen Weg zu nehmen, nun ist es zu spät.

Vor dem Büro finde ich selten einen Parkplatz, ich parke im Halteverbot und werde etwa jedes fünfte Mal aufgeschrieben. Der Radfahrer in mir hat immerhin genug Macht, um dafür zu sorgen, dass ich nie einen Radweg zuparke. Außer in absoluten Notfällen. Als ich die Tür zu meinem Büro öffne, sind 22 Minuten vergangen.

Als Radfahrer im gesetzlosen Rudel

Mit dem Fahrrad ist man in Berlin oft schneller - lebt aber auch gefährlicher.
Mit dem Fahrrad ist man in Berlin oft schneller - lebt aber auch gefährlicher.
© Britta Pedersen/p-a/dpa

Am nächsten Tag nehme ich das Rad. Die Sonne scheint. Wenn ich schon so viele Sünden gestanden habe, warum nicht auch diese: Ich fahre nicht Rad, wenn es bullenheiß ist oder schweinekalt, ich fahre nicht bei Schnee, Regen oder drohendem Regen. Ich bin ein Weichei. Damit bleiben in Berlin vielleicht 100 Tage zum Radfahren, in guten Jahren.

Als Radfahrer versuche ich, mich dem Berliner Stil anzupassen. Während ich im Auto zumindest die meisten Regeln einhalte – ich fahre selten zu schnell und nie absichtlich über rote Ampeln, ich stoppe an Zebrastreifen, nur beim Parken bin ich ein asoziales Element –, bin ich als Radfahrer Teil eines gesetzlosen Rudels. Rote Ampeln ignorieren wir, wo immer es geht, wir nehmen den kürzesten Weg, egal, ob er für Radfahrer gesperrt ist oder nicht. Fast alle tun es. Wozu den Verkehrsmoralapostel spielen? Der Polizei ist es auch egal. Ich kann nicht auch noch die Arbeit der Polizei übernehmen, sagt mein Radfahrer.

Zumindest auf den Berliner Bürgersteigen ist inzwischen das gesellschaftliche Ziel der Inklusion voll verwirklicht, ein Nebeneinander von fitten Fußgängern, Fußgängern mit Handicaps aller Art, stahlharten Rennradlern, langsamen Gelegenheitsfahrern wie mir, dazu hin und wieder Skateboards, Hunde, Kinderwagen oder Fahrzeuge, für die ich keinen Namen habe.

Ein großes Problem: Lieferfahrzeuge

Die Radwege sind ja in Kreuzberg wirklich fast durchweg schlecht, obwohl es in der Blücherstraße tatsächlich für einige Meter einen Neubau gibt. Der neue Radweg verläuft zum Teil zwischen der Geradeausspur und der Rechtsabbiegerspur für die Autos, ich habe also auf beiden Seiten Autoverkehr. Die Rechtsabbieger kreuzen beim Spurwechsel den Radweg und tendieren dazu, ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Ampel zu konzentrieren, die sie natürlich bei Grün erwischen wollen. Das kommt mir wenig durchdacht vor. Der alte, bucklige und löchrige Weg ist immerhin sicherer, manche benutzen den immer noch. Mit Privatautos, die Radwege zuparken, habe ich selten Probleme, das liegt wohl vor allem an der Strecke, die zum Teil am Kanal entlangführt, wo Parken unmöglich ist.

Ein großes Problem stellen, zum Beispiel in der Stresemannstraße, die Lieferfahrzeuge dar. Sie bringen Waren zu den Geschäften oder gehören zu den Paketdiensten. Die Fahrer haben keine Wahl, das sehe ich ein, sie können ihren schweren Kram nicht 50 Meter weit schleppen. Weil die Leute immer mehr im Internet bestellen, gibt es immer mehr Lieferwagen. Sie nutzen jede Einfahrt und blockieren oft gleich auch noch den Gehweg. Entweder aus Ignoranz oder weil es nicht anders geht, das variiert. Ein Verkehrskonzept, das dieses Problem nicht löst, kann man vergessen. In Berlin sollen ja Fahrradrikschas einen großen Teil der Lieferungen übernehmen, das möchte ich sehen. Ich glaube, es handelt sich bei dieser Idee um eine der Seifenblasen, die von Zeit zu Zeit über dem Berliner Politikhimmel aufgehen und nach einer Weile lautlos platzen.

Das größte Problem für mich als Radfahrer sind die anderen Radfahrer. Die Schnellen schneiden die Langsamen, fast niemand zeigt Richtungswechsel an. Man wird auch oft angepöbelt, weniger von Fußgängern oder Autofahrern, sondern von den radelnden Mitbürgern. Der Preis für besonders rücksichtsloses Fahren, der früher den BMW-Piloten zustand, gebührt heute den Besitzern teurer – vermutlich handgefertigter – Edelräder mit mundgeblasenen Sonnenbrillengläsern, verbissen blickenden Männern mit Kopfhörern und schicken Helmen, vor denen ich echt Angst habe.

Am Mehringplatz bin ich einen Moment unaufmerksam

Schlimm sind auch die Fußgänger. Die tapern auf den Radweg, ohne auch nur im Geringsten darauf zu achten, ob da jemand kommt. Auf Autos achten sie. Weil die stark und gefährlich sind, noch stärker als die Männer mit den Kopfhörern. Was sagt dies über die Gattung Mensch aus? Ich bin in Gedanken, und am Mehringplatz bin ich einen Moment unaufmerksam. Ich sehe eine Bodenwelle nicht, am Mehringplatz gibt es davon so viele wie auf einer bolivianischen Andenhochstraße – ich war in Bolivien, ich weiß das. Dann haut es mich hin. Das ist mir bisher nie auf dem Weg zum Büro passiert, höchstens auf Touren. Ich war halt in Gedanken. Das Fahrrad liegt auf mir, der Inhalt meiner Jackentaschen liegt um mich verstreut.

Sofort eilen zwei Helferinnen aus verschiedenen Richtungen herbei. Berlin überrascht einen manchmal doch. Eine der Frauen ist um die dreißig, die andere schätzungsweise Mitte siebzig. Gemeinsam heben sie das Rad hoch und stellen es hin. Die Junge redet hochdeutsch, die Alte berlinert. „Brauchen Sie einen Arzt?“, fragt die Junge. „Das war sicher der Kreislauf, es ist ja so warm.“ Der Gedanke, dass diese Frau mich für einen geriatrischen Notfall hält, berührt mich, allerdings nicht auf angenehme Weise. Die Alte sagt: „Uffpassen – immer wichtig.“ Dann reicht sie mir mein Handy, es hat einen Sprung, und meine Zigaretten. „Jetzt rochste erst ma eine uff den Schreck“, sagt die Alte – und steckt sich auch eine an.

Dann gehen beide Engel in verschiedene Richtungen davon, und ich merke, dass Blut an meinem Arm hinabläuft. Der Ellbogen.

Am Mehringplatz gibt es ein Café, wo man draußen sitzen kann. Da gehe ich hin und hole mir einen Stapel Servietten, und damit die Frauen hinter der Theke mich nicht für einen Schnorrer halten, kaufe ich ein Mettbrötchen mit Zwiebeln, eine Verbeugung vor dem Berliner Spirit, zu Ehren des älteren Engels. Die Servietten wickele ich um den Ellbogen und befestige sie mit dem Kabel des Handy-Kopfhörers, das ich in meinem Rucksack finde. Dann denke ich daran, die Stoppuhr des Handys anzuhalten, mit der ich die Zeit von Tür zu Tür messe. Die ganze Sache dürfte fünf Minuten gedauert haben, die ziehe ich ab.

Auf dem Schreibtisch sammelt sich eine Blutpfütze

An der Kreuzung Stresemannstraße/Askanischer Platz ist die Ampel defekt, das kostet noch einmal Zeit, die ich aber mitberücksichtige, weil eine defekte Ampel der Normalfall ist und ein Sturz selbst verschuldet. Als ich die Bürotür öffne, sind 18 Minuten und 30 Sekunden verstrichen, seit ich die Wohnungstür geschlossen habe.

Oha. Mit dem Fahrrad bin ich offenbar schneller als mit dem Auto. Allerdings ist der Unterschied nicht riesig. Das Auto bietet Wetterschutz und Bequemlichkeit, das Rad einen gesundheitlichen Nutzen, einen umweltpolitischen Mehrwert und einen hohen Erlebnisfaktor. Auf dem Schreibtisch sammelt sich eine Blutpfütze, die ich von Zeit zu Zeit mit Klopapier auftupfe.

Bei einem zweiten Versuch lag der heimatliche Parkplatz weiter entfernt und ich lande mit dem Auto bei 30 Minuten. Mit dem Rad gebe ich richtig Gas, für meine Verhältnisse. Aber während ich beim ersten Mal in der Redaktion gleich einen Aufzug erwischt habe, muss ich diesmal ewig auf den Aufzug warten. Ergebnis: 18 Minuten. Das Rad liegt also, unterm Strich und bei Berücksichtigung aller Faktoren, auch der finanziellen, eindeutig vorne. Der Radfahrer in mir ist in Champagnerlaune. Wie schlägt sich im Vergleich der öffentliche Nahverkehr?

Verdruss zu Fuß und per Bus

Der Bus M41 fährt alle zehn Minuten direkt zum Askanischen Platz - laut Fahrplan.
Der Bus M41 fährt alle zehn Minuten direkt zum Askanischen Platz - laut Fahrplan.
© Kai-Uwe Heinrich

Die Haltestelle Körtestraße liegt nicht weit weg von der Wohnung, die Buslinie M41 führt zum Askanischen Platz, sie braucht offiziell elf Minuten, Umsteigen nicht nötig. Alle zehn Minuten kommt laut Fahrplan ein Bus. Ideale Verhältnisse, oder.

Als Fußgänger verhalte ich mich erstaunlicherweise ähnlich wie ein Radfahrer, ich ignoriere rote Ampeln, außer, wenn ein Kind an der Ampel steht oder es sich um einen innerstädtischen Highway handelt. Ich stehe auch manchmal auf dem Radweg. Solche Entscheidungen trifft man nicht bewusst. Man sagt sich nicht: „Jetzt stehe ich auf eurem Radweg, weil ihr mir immer auf dem Gehweg das Leben schwer macht, Strafe muss sein.“ So denkt fast niemand. Man ist in diesem Moment einfach voll und ganz Fußgänger, man vergisst sein früheres Leben, ähnlich wie nach einer Wiedergeburt, die Buddhisten glauben ja daran. Der Mensch ist vielleicht doch eher gedankenlos als böse, von Ausnahmen abgesehen. An den Haltestellen allerdings haben Aus- und Einsteigende Vorrang vor den Radfahrern, da müssten diese notfalls stoppen oder eine langsame Kurve um die Fußgänger drehen. Mache ich das, wenn ich Rad fahre? Nein, ich schlängele mich durch, alle tun das. Ein Herdentier sind wir leider auch.

Der Fahrplan ist reine Theorie

Einen Wetterschutz gibt es nicht an meiner Haltestelle. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Zehn-Minuten-Rhythmus, den der Fahrplan verspricht, eine ähnliche Aussagekraft besitzt wie einst die Fünfjahrespläne der Sowjetunion. Das ist reine Theorie. Mal kommen drei Busse kurz nacheinander, dann kommt wieder zwanzig Minuten lang gar keiner. Wenn es regnet, können schon zehn Minuten Wartezeit an dieser Haltestelle recht ungemütlich sein. Ja, sicher, ein bisschen nett will man’s schon haben. Das Leben ist zu kurz, um tatenlos im Regen zu stehen.

An diesem Tag besteige ich den Bus genau zwölf Minuten nach dem Verlassen der Wohnung, ein gutes Ergebnis. Es gibt eigentlich immer nur Stehplätze, und in den Kurven musst du dich festklammern wie das Affenbaby an seiner Mama, da wird durchweg ein heißer Reifen gefahren. Ich lese im Bus meistens Zeitung, was einhändig ganz gut zu machen ist, umgeblättert wird immer an den Haltestellen. Zu dem reichen Anekdotenschatz über aggressive oder witzige Berliner Busfahrer kann ich wenig beitragen. Ich erwische immer schweigsame, irgendwie verbittert wirkende Chauffeure, die ihren Zorn in sich hineinzufressen scheinen und den Job einfach nur hinter sich bringen wollen.

Aber fast immer gibt es Streit unter den Passagieren. Jemand will jemanden nicht schnell genug durchlassen, jemand tritt jemandem auf den Fuß, jemand macht eine blöde Bemerkung – „Haste heute Knoblauch gefrühstückt?“ – und kriegt es meist in der gleichen Tonlage zurück: „Hilft gegen Verkalkung, kommt bei dir zu spät.“ Heute legt sich ein alter, augenscheinlich betrunkener Rollstuhlfahrer mit einem jungen Mädchen an. Sie trägt Kopftuch und der Mann versperrt ihr den Weg zum Ausgang, absichtlich, wie es scheint. Sie versucht, sich wortlos an ihm vorbeizuschlängeln. Ich würde gern erzählen, was er genau gebrüllt hat, aber er lallte einfach zu stark. Es war ein vulkanisches Gurgeln aus der Tiefe einer Seele, die ihr Leid der ganzen Welt heimzahlen möchte.

Busfahren deprimiert mich. Wenn ich am Morgen Bus gefahren bin, merkt man das den Texten an, die ich im Lauf des Tages schreibe, die haben dann auch einen leicht verbitterten Unterton.

Der Bus und die U-Bahn sind Transportmittel, die mal besser, mal schlechter funktionieren, in Berlin wohl zunehmend schlechter. Damit sie eine echte Alternative darstellen, müssen sie nicht nur pünktlich sein und zuverlässig. Sie müssen auch angenehm sein. Man muss ein gutes Gefühl haben, wenn man in den Bus steigt. Man muss sich zu Hause fühlen. Im Auto und auf dem eigenen Rad fühlt man sich ja auch zu Hause, man gestaltet diese Verkehrsmittel nach den eigenen Vorstellungen, man hält, wann und wo man will. Es stellt sich ein Gefühl ein, das in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert hat: Selbstbestimmung.

Der Bus wird das nie in gleicher Weise leisten können, aber es wäre auch schon ein Fortschritt, wenn die Busse mehr wären als leicht verlotterte Transportschachteln, wenn sie neu und freundlich aussähen, wenn man mit „Guten Tag“ begrüßt würde, wenn es genug Sitzplätze gäbe, zumindest außerhalb der Rush Hour. In Berlin vermisse ich das, in Berlin muss man oft froh sein, wenn sie überhaupt fahren. In Wien sind die Verkehrsmittel angenehmer, und es gibt eine Jahreskarte für 365 Euro, ein Euro pro Tag. Inzwischen gibt es dort mehr Besitzer einer Jahreskarte als Autofahrer. Die Jahreskarte der BVG kostet bei jährlicher Abbuchung zwischen 728 und 961 Euro.

Der Bus schneidet am schlechtesten ab

Ich sehe mich im Bus um. Es gibt kaum Leute, die leicht als Berufstätige zu erkennen sind, durch ihr Alter, die Kleidung, ihre Tasche. Fast niemand wirkt wohlhabend. Viele Alte, viele Kinder – mit und ohne Mütter – und Jugendliche. Menschen, die kein Auto haben.

Beim Verlassen des Busses werde ich fast von einem Radfahrer umgenietet. Das kennt man ja. So sind sie. Und dann meckert er auch noch! Als ich die Bürotür öffne, sind 30 Minuten vergangen, obwohl alles eigentlich optimal lief. Die Fußwege muss man ja einrechnen. Ich habe an anderen Tagen schon 45 Minuten gebraucht, da hätte ich auch laufen können.

Der Bus schneidet also am schlechtesten ab, Platz drei, er ist am langsamsten, die Fahrtzeit ist am schwierigsten vorherzusagen, er ist ungesünder als das Rad und unbequemer als das Auto. Das gilt selbstverständlich nur für diese Strecke, meinen Weg, andere Menschen aus anderen Bezirken werden andere Erfahrungen gemacht haben. Trotzdem scheint mir dieser subjektive Vergleich sinnvoll zu sein, denn jeder, der in Berlin lebt, stellt für sich solche Vergleiche an. Und wenn der öffentliche Nahverkehr schon in meinem, für den Bus ziemlich geeigneten Fall, ohne Umsteigen, so schlecht abschneidet, dann gibt das doch zu denken.

Der Senat hat große Pläne, der Nahverkehr soll ausgebaut werden. Der Berliner Planwirtschaft misstraue ich zutiefst, welcher Plan ist eigentlich in letzter Zeit realisiert worden? „Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun“, heißt es in der „Internationalen“, für Berlin trifft dies voll zu. Sie werden das Autofahren langwieriger machen, mehr Tempolimits, mehr Staus, weniger Parkplätze. Das schaffen sie.

Als Autofahrer ärgere ich mich über die anderen Autofahrer und über die Radfahrer. Als Radfahrer ärgere ich mich über die anderen Radfahrer, über die Lieferwagen und die Fußgänger. Als Fußgänger ärgere ich mich über die Radfahrer, die Mitfahrer im Bus und das Leben im Allgemeinen, obwohl es ja auch schöne Seiten besitzt. Eines Tages veranstalte ich einen Runden Tisch mit allen drei Personen, und damit die sich nicht an die Gurgel gehen, muss mein innerer ICE-Fahrer das moderieren. Der ist der Coolste.

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