Vernachlässigte Verkehrsteilnehmer: Fußgänger verdienen den ganz großen Auftritt
Wer in der Stadt zu Fuß unterwegs ist, verpestet keine Luft, überfährt niemanden und beansprucht kaum Platz. Doch Fußgänger haben keine Lobby. Ein Plädoyer für mehr Bürger(steig)rechte.
Jeder tut es. Und keiner merkt es. Der Fußgänger ist der wichtigste Verkehrsteilnehmer Berlins. Ein Drittel aller Wege legen die Einwohner zu Fuß zurück. Nicht mitgerechnet die Schritte zum U-Bahnhof und zur Bushaltestelle, die werden den Öffentlichen zugeschlagen. Langsam, wie er ist (Durchschnittsgeschwindigkeit: fünf Stundenkilometer), überholt der Fußgänger damit alle anderen Mobilisten.
Und doch ist es, als gäbe es ihn nicht. Die Medien nehmen kaum Notiz von ihm, es sei denn, es wird mal wieder einer überfahren. Dem schnittigen Radler dagegen werden täglich große Artikel, Titelseiten und Ausstellungen gewidmet. Seine Lobby ist gewaltig. So schlagkräftig, dass sie jetzt Deutschlands erstes Mobilitätsgesetz angestiftet hat. Über die Autolobby muss man gar nicht reden.
Und der Fußgänger?
Angebrüllt, angehupt und überrollt
Unsexy, unschnittig, lahm. Das Aschenputtel unter den Verkehrsteilnehmern. Wenn er überhaupt als solcher begriffen und nicht nur als Hindernis der eigenen Fortbewegung betrachtet und entsprechend angebrüllt und angehupt und überrollt wird. Ist von Fußgängern die Rede, könnte man meinen, dass es nur die Alten und Kranken, die Armen und Kinder sind, die ihre Beine als Fortbewegungsmittel nutzen. Die, denen halt nichts anderes übrigbleibt. Weil sie den Buggy schieben müssen (was immer noch mehr Mütter als Väter machen) oder den Rollator oder sich kein Auto leisten können. Oder weil es blöde Touristen sind, die ratlos durch die Gegend stolpern.
Dabei sollte man dem Fußgänger den roten Teppich ausrollen. Mithilfe der ältesten und natürlichsten Fortbewegungsart der Welt kümmert er sich um seine eigene Gesundheit und die seiner Gesellschaft, stinkt nicht (in der Regel), verpestet keine Luft, überfährt niemanden, beansprucht den geringsten Platz. Und er ist derjenige, der mehr als jeder andere für die Lebendigkeit einer Stadt sorgt, ihr auch am stärksten ausgesetzt ist. Niemand riecht, hört, sieht sie so intensiv wie der wandelnde Zweibeiner. Der Autofahrer rauscht an den Eindrücken ja einfach vorbei.
Das Zufußgehen ist etwas, worauf man stolz sein kann: Erhobenen Hauptes durch die Welt zu laufen. Sich mit Muße die Stadt zu erobern, ist ein Akt der Emanzipation gewesen. Der Bürgersteig heißt nicht zufällig so. Im Zuge der Französischen Revolution wurde das Zufuß- und Spazierengehen als Tugend des Bürgertums gefeiert – der Adel ließ sich kutschieren. Auch dass Frauen ohne Begleitung spazieren gehen konnten, ohne für ein liederliches Wesen gehalten zu werden, ist eine Form der Freiheit, die ihnen erst Ende des 19. Jahrhunderts vergönnt wurde. Vorher waren sie vor allem ans Haus gebunden.
Die Bewegung setzt das Hirn in Gang
Unermüdlich erinnern Mediziner daran, wie gesund es ist, sich per pedes fortzubewegen. 10 000 Schritte, drei Mal täglich zehn zügige Minuten, es gibt vielerlei Rezepte, um Krankheiten so vorzubeugen. Schon Franz Hessel, Berlins bekanntester Flaneur, empfahl seinen Lesern, eine Station vor dem eigentlichen Ziel aus dem Bus oder der U-Bahn auszusteigen. Es ist ein denkbar einfache und gelenkschonende Form des Sports, leicht in den Alltag zu integrieren, erfordert kein zusätzliches Equipment, kostet keine Studiogebühren.
Gehen macht glücklich. Und klug.
Kierkegaard, Nietzsche, Rousseau, sie alle waren überzeugte Fußgänger. Nur auf den Beinen sind ihnen nach eigenem Bekenntnis gute Gedanken gekommen. (Und, wie Kierkegaard sagte, die schlechten, störenden abhanden gekommen.) Die Bewegung setzt das Hirn in Gang. Jeder weiß, wie gut sich Vokabeln und Gedichte im Rhythmus der Schritte lernen lassen.
Von wegen, nicht cool!
Je langsamer der Verkehr, desto lebendiger die Stadt
Für den dänischen Stadtplaner Jan Gehl ist der Fußgänger das Maß aller Dinge. An dessen Größe, Proportion, Tempo und Bedürfnissen sich seine Kollegen orientieren sollten. Die Lösungen der Planung sind nach Ansicht des Dänen alle im menschlichen Körper angelegt, etwa in punkto Proportionen.
„Der Fußgängerpapst“, wie die „Süddeutsche“ ihn nannte, macht sich genauso für Radfahrer stark, er fordert eine integrierte Planung, eine, die nicht nur bestimmte Zielgruppen bedient. So tingelt er als Lobbyist für die menschenfreundliche, und das heißt: abwechslungsreiche, gemischte, kleinteilige, sichere Stadt durch die Welt. „Städte für Menschen“ lautet der Titel seines berühmtesten Buches. „Wenn ein Ort voller Leben sein soll, braucht man vor allem kurze, direkte und logisch angelegte Wege, maßvolle Dimensionen und eine klare Hierarchie von kleinen und großen Räumen.“
Für den 81-Jährigen, der Kopenhagen als Musterstadt geprägt hat, den Metropolen von New York bis Melbourne als Berater anheuern, gilt die Faustregel: Je langsamer der Verkehr, desto lebendiger die Stadt. Denn nur bei einer bestimmten Geschwindigkeit kommt es zur Begegnung, Interaktion, einfach zur Wahrnehmung.
Deswegen hält auch Stein Kolstø die gerade gehypten Fahrradautobahnen für keine so gute Idee. Der Stadtplaner in Oslo fährt selber jeden Tag mit dem Rad zur Arbeit. Doch seiner Meinung nach sollten alle ihr Tempo drosseln statt es weiter anzutreiben. Und lernen, rücksichtsvoll miteinander umzugehen.
Was den pedestrian glücklich macht
So wie im Berliner Gleisdreieckpark. Dessen Entwicklung wurde in einem jahrelangen, mühevollen Prozess in Diskussionen mit den Anwohnern entwickelt. Dort kann man die friedliche Koexistenz der unterschiedlichsten Gruppen beobachten: Radfahrer, Fußgänger und Skater, Alte und Junge, Trampolinspringer und Tischtennisspieler, Ureinwohner und Migranten. Es ist ein Ort, wo man dem Anderen begegnet. Demokratischer geht’s nicht.
Wenn man den Park aber verlässt und die parallel verlaufende Flottwellstraße entlangläuft, hat man das Gefühl, aus einer Oase in die Wüste zu kommen. Ein sonniger Morgen – und alles tot. Die meisten schicken Neubauten zeigen dem Passanten die kalte Schulter. Vorhänge zugezogen, Rollläden runtergelassen, Jalousien auf Halbmast und die übrigen Fenster mit blickdichtem Material verschlossen. Dazwischen Garageneinfahrten, die bekanntlich auch keine Augenweide sind, oder gleich eine massive Wand. So gut wie keine Läden und Cafés, die dem Passanten zwar Gehweg wegnehmen, aber für Leben sorgen.
Je lebendiger und sicherer ein Ort ist, desto mehr Menschen lockt er an. Und je mehr Leute sich an einem Ort aufhalten oder bewegen, desto lebendiger und sicherer wird er. Trist dagegen bleibt trist. Kein Zufall, dass Erdgeschosszonen ein wichtiger Aspekt des eben beendeten Berliner Festivals „Make City“ waren. Die Schnittstelle zwischen öffentlichem und privatem Raum droht zunehmend zu verkümmern.
Der Fußgänger will auch stehen und sitzen
Der Fußgänger, der der Stadt auf Augenhöhe begegnet, wird damit abgestoßen. Genau wie von schnurgeraden Straßen und eintönigen Fronten. An denen geht man so schnell wie möglich vorbei oder meidet sie von vornherein.
Aber der Fußgänger will ja nicht nur gehen, sondern auch stehen und sitzen. Ob und wo, das kann er jederzeit spontan entscheiden, kann er doch abrupt anhalten, ohne den Hintermann zu gefährden und ohne erst einen Parkplatz zu suchen. Es geht um mehr als rasch von A nach B zu kommen: zu reden, zu gucken, sich niederzulassen, zu flanieren. Dazu muss man die Menschen allerdings ermuntern, das hat schon Franz Hessel festgestellt. „Hierzulande geht man nicht wo, sondern wohin.“ Wenn er im gemächlichen Tempo einherschlendere, halte man ihn oft für einen Taschendieb. Dabei schreit das Trottoir danach, zu trotten.
Jan Gehl empfiehlt, für die Zweibeiner Einladungen zu schaffen. Schöne, bequeme Bänke mit Aussicht, und zwar auf andere Menschen, auch informelle Stützen – Poller, an die man sich anlehnen, Stufen, auf die man sich hocken kann. Es geht darum, den Boden für soziale Kontakte zu schaffen, für Zufallsbegegnungen, um, so Gehl, „die soziale Funktion des öffentlichen Raums zu fördern“. Die immer wichtiger wird im Zeitalter der Digitalisierung, des demographischen Wandels, der häuslichen Vereinzelung – in 49 Prozent der Berliner Haushalte lebt ein Mensch allein.
Wandeln ist eine Lust
Was den pedestrian glücklich macht? Bestimmt nicht die Fußgängerzone, ein Lieblingskind der Nachkriegszeit. Allein der Name! Als wolle man den Fußgänger wegsperren. Auf dass er möglichst viel konsumiert. Nichts anderes sind die Zonen ja, Bereiche zur Belebung des Kommerzes, nicht der Stadt. Studenten der Beuth-Hochschule haben daher auch ein Gegenmodell zur angedachten Fußgängerzone Unter den Linden entworfen, das das zivilisierte Miteinander fördert, deren Herzstück eine Promenade ist.
Denn das Wandeln ist eine Lust. Das haben selbst die New Yorker vor einigen Jahren entdeckt. Es gibt wohl kaum eine westliche Metropole, in der die Leute so viel laufen. Auf diese Weise kommt man in Manhattan oft schneller als mit dem Taxi voran. Spaß macht das allerdings nicht. Man rennt im Pulk, von Block zu Block, schiebt sich an Touristen vorbei, über die rote Ampel, hat nur Augen für die Bedrohung des Autoverkehrs.
Und dann wurde die Highline eröffnet, der erste Abschnitt 2009, eine Promenade auf stillgelegten Hochbahngleisen. Plötzlich erlebten die New Yorker, wie es ist, mitten in der Stadt mal nicht zu hetzen, und an jeder Kreuzung abzubremsen, sondern zu schlendern, am Stück, im Grünen, mit Blick auf die Stadt, sich zwischendurch hinzusetzen, ohne was konsumieren zu müssen. Das schlug ein. Bei fünf Millionen Besuchern im Jahr. Was bedeutet, dass man sich dort jetzt eher wie auf der Fifth Avenue zur Rushhour vorkommt als auf einem Spazierweg. Wieder vorbei mit dem Lustwandeln.
Die nächste Generation bereitet Sorgen
Berliner haben es dagegen richtig gut. Weil die Stadt weitgehend erst im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, fallen Straßen und Bürgersteige so großzügig aus, von vielen Bäumen flankiert. In den USA macht man sich vielerorts noch immer verdächtig, wenn man, mangels Trottoir, am Straßenrand marschiert, oder wird für hilfsbedürftig gehalten.
Aber die Berliner Fußgänger werden immer stärker an den Rand gedrängt von kommerziellen Interessen, ohne dass die Stadt einschreitet, wie der Tagesspiegel kürzlich in einem großen Report beschrieb: Leihräder, die auf dem Gehweg parken, Mopeds, Versandhändler, Lieferanten, Gastronomen, Ladeninhaber, Elektroladesäulen, monströse Klos. Auf den Berliner Gehwegen herrscht offenbar Wilder Westen.
Auch die nächste Generation bereitet Sorgen. Denn der Fußverkehr will gelernt sein. Das ging früher automatisch, auf dem Schulweg. Heute – und darüber wird tatsächlich viel berichtet – sitzen die Kleinen oft im Elterntaxi, das sie von Haustür zu Schultür bringt. Wobei die Eltern dann noch Bürgersteige und Rettungswege versperren, mit aggressivem Verhalten andere Schüler bedrängen. Nur: Auf der Rückbank lernt man nichts dazu.
Es ist nicht so, dass die Vorzüge des Fußgängers an der Berliner Senatsverwaltung vorbeigegangen wären. Im Jahre 2011 wurde eine Fußgängerstrategie verabschiedet. Darin geht es um die Stadt der kurzen Wege, der angenehmen Wege, der vernetzten Wege, um vielfältige Nutzungen, um Lebensqualität und lebendige Erdgeschosse – alles, um mehr Menschen zum Gehen zu animieren. Doch die Umsetzung schreitet viel zu langsam voran. Vieles ist auch Sache der Bezirke, nicht der Senatsverwaltung, die dann nur Empfehlungen aussprechen kann.
„Wir müssen unter Menschen sein“
Bisher stand die Sicherheit im Mittelpunkt, die Einführung neuer Zebrastreifen zum Beispiel, über 500 seit 2001. Der ungeschützte Fußgänger ist ein besonders verletzliches Wesen. Das haben sich auch Terroristen in den vergangenen Jahren immer wieder zunutze gemacht, in Nizza, Barcelona, Berlin. Aber es geht noch um viel mehr.
Enrique Penalosa, der 1998 zum ersten Mal Bürgermeister von Bogota wurde und es inzwischen zum dritten Mal ist, der die kolumbianische Hauptstadt so radikal verändert hat wie kaum jemand in seinem Amt, hat sich nicht weniger vorgenommen, als die Bewohner der Stadt happy zu machen. Sein Rezept? „Wir müssen gehen, genau wie Vögel fliegen müssen. Müssen unter Menschen sein. Brauchen Schönheit, Kontakt mit der Natur. Und vor allem dürfen wir nicht ausgeschlossen werden. Wir müssen eine gewisse Gleichberechtigung erleben.“ Das klingt wie ein Fußgängermanifest.
Geht auf die Straße, Leute!
In Berlin hat die Diskussion um strittige Pilotprojekte viel zu viel Energie und Aufmerksamkeit absorbiert. So wie jene über die kurze Begegnungszone in der Schöneberger Maaßenstraße, ästhetisch ein Desaster. Von anderen Projekten wie den Grünen Hauptwegen hört man wenig.
Nachdem die Radfahrer zuerst dran waren, wird jetzt im Rahmen des Mobilitätsgesetzes über die Fußgänger verhandelt; im Sommer sollen Eckpunkte vorgestellt werden. Im Beratungsgremium sitzt „FUSS“, ein verdienstvoller Verein, der einzige, der die Interessen des Trotters vertritt. Und der winzig ist: drei Mitarbeiter! Auf der Website werden freiwillige Helfer verzweifelt gesucht.
Also: Geht auf die Straße, Leute! Demonstriert für Eure Ansprüche und Rechte, formuliert Wünsche, meckert, wo es was zu meckern gibt. Engagiert Euch! Ihr seid keine Minderheit, Ihr seid fast 100 Prozent!
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