Verkehrsclub über Berlins Straßen: "Im Verkehrsbereich sind wir ein Failed State"
Ob Radler, Fußgänger, Busfahrer: Harald Walsberg vom Verkehrsclub Deutschland im Interview über den täglichen Ärger auf Berlins Straßen.
Im September soll der Mordprozess gegen die Raser beginnen, die im Februar auf der Tauentzienstraße einen Unbeteiligten umgebracht haben. Wir sitzen hier zusammen, weil Sie nach einer Meldung über die anschließenden Schwerpunktkontrollen am Ku'damm kritisiert haben, dass die Polizei ein Desaster als Erfolg verkauft. Was gibt es einzuwenden, wenn nach so einem Vorfall verstärkt kontrolliert wird?
Die angebliche Erfolgsbilanz der Polizei ist reine Augenwischerei: knapp 400 Einsätze klingen für den Laien doll, aber wenn dabei nur 4100 Autos kontrolliert wurden, kann das nichts Großes gewesen sein. Bei genauem Hinschauen steht da außerdem, dass es nur 79 Geschwindigkeitskontrollen gab. Auf die kommt es aber an. Nach vielen Gesprächen mit Polizei und Politik weiß ich, dass sich die Polizeiführung extrem bemüht, das Thema Verkehrssicherheit schönzureden, um die verantwortlichen Politiker zu schonen. Die Entwicklung in Berlin ist insgesamt desaströs. Ein einzelnes hartes Urteil kann keine Besserung bewirken. Die könnte nur durch die Politik und Polizeiführung erreicht werden.
Die Zahl der Unfälle und der Opfer ist zwar hoch, aber doch über die Jahre einigermaßen konstant.
Nicht ganz: Von 2000 bis 2003 sind die Zahlen sehr konstant gesunken. Ab 2004 schwächt sich dieser Trend ab, und 2007 hat er sich umgekehrt. Seitdem steigen die Unfallzahlen. Als ich 2001 nach Berlin kam, war ich fasziniert, wie konsequent hier Tempolimits eingehalten und Radfahrer beachtet wurden. Das kannte ich aus Braunschweig nicht. Dann fiel mir die erwähnte Trendumkehr auf, die auch für jeden Verkehrsteilnehmer erkennbar war: Die Polizei verschwand wegen des Personalabbaus immer weiter aus dem Straßenbild. Nachdem ich dann 2006 als Radfahrer zweimal von Rasern und zweimal von Rechtsabbiegern fast überfahren worden war, bin ich an die Öffentlichkeit gegangen.
Warum echauffiert Sie das Thema so?
Vielleicht hat mein Interesse damit zu tun, dass ich nur dank eines langsamen Autofahrers noch lebe: Als Sechsjähriger bin ich aus einem Wald auf die Straße gerannt – genau vor ein Auto, das Tempo 30 fuhr, obwohl 50 erlaubt war. Es hat mich noch angestoßen und umgeworfen, aber nicht mehr. Ein Stundenkilometer mehr und ich wäre überfahren worden. Und ich wohne an einer Ecke, an der früher nachts himmlische Ruhe war. Da sind die Leute auf der Kopfsteinpflasterstraße nämlich 30 gefahren wie vorgeschrieben. Das macht jetzt keiner mehr, sodass es dramatisch lauter geworden ist. Ich bin sicher, dass der übergroße Teil der nächtlichen Lärmbelästigung an Berlins Straßen durch Verkehrsverstöße erzeugt wird: Roll- und Windgeräusche durch Raser, Reifenquietschen, Hupen, aufheulende Motoren, lärmgetunte Fahrzeuge.
Aber der Anteil der erwischten Schnellfahrer bei Polizeikontrollen hat sich über die Jahre sogar halbiert, nämlich von knapp zehn auf fünf Prozent.
Die Polizei erklärt das selbst mit dem gewachsenen Verkehrsaufkommen: Man kann oft gar nicht schnell fahren, und im Pulk bremsen die Vernünftigen die Raser. Ich habe aber auch den Eindruck, dass weniger scharf kontrolliert wird, sodass viele Autofahrer die Kontrollstellen rechtzeitig erkennen oder unbehelligt weiterfahren dürfen, weil zu wenig Personal da ist, um alle Schnellfahrer anzuhalten.
Die Erosion der Verkehrsdisziplin fällt am ehesten auf, wenn man nicht selbst im Auto sitzt: Mindestens einer brettert bei Rot durch, Abbieger fahren Fußgängern fast über die Hacken, Radspuren werden zugeparkt. Liegt das eher an fehlenden Kontrollen oder an zu geringen Strafen?
Die Leute, die den Rechtsstaat mit Füßen treten, testen aus, wie weit sie gehen können. Also wird inzwischen auch vor Polizeigebäuden gerast oder wie in der Perleberger Straße die Radspur direkt vor dem Abschnitt zugeparkt. Das gilt ebenso auf Busspuren, die blockiert werden. Die Verantwortlichen bei der BVG sind verzweifelt, weil ihre Busse hinter Falschparkern im Stau stecken. Das ist doch Wahnsinn, dass der öffentliche Nahverkehr unzuverlässiger wird, weil der Staat keine Regeln mehr durchsetzt. Selbst unsere im internationalen Vergleich lächerlichen Strafen könnten etwas bewirken, wenn man als Raser oder Falschparker wirklich oft erwischt würde. Die Wirkung war ja früher zu sehen, als an temporären Busspuren um 15 Uhr Polizei und Abschlepper bereitstanden. Inzwischen leben wir im Verkehrsbereich längst im Status eines „Failed State“. Was in Deutschland geduldet wird, dürfte einmalig sein.
Warum gibt es keinen Aufstand dagegen?
Weil die Autolobby alle Lebensbereiche durchdringt und den Rahmen schafft. Weil die lobbygeleitete Politik uns einlullt und die Polizei mit Showaktionen so tut, als wäre sie noch handlungsfähig. Da werden Blitzmarathons veranstaltet, die dem rechtstreuen Bürger weismachen sollen, dass man sich kümmert. Aber jeder notorische Raser weiß, dass er an allen anderen Tagen ungestraft rasen kann. Und die Autoindustrie will blöde, reiche Konsumenten. Sie bekommen das Versprechen unbegrenzter Freiheit verkauft und sollen sich auch mal austoben dürfen. Achten Sie mal auf die Werbung – wie da gerast wird! Das ist ja kein Zufall, sondern der Rahmen, der von Psychologen gesetzt wird, die in der Autoindustrie übrigens dreimal so viel verdienen wie im Gesundheitsdienst, wo sie Menschen helfen würden. Das setzt sich fort bei der Verkehrswacht, die den Kindern Warnwesten und Helme verpasst, aber die Frage der Kontrollen der Gefahrenverursacher ausblendet. Um die Raser kümmert sich in all den Fachgremien erstaunlicherweise kaum jemand. Da wird gern über neue Schilder debattiert, aber nicht, wie man deren Beachtung durchsetzt.
Innensenator Henkel hat sich zum Thema Verkehrssicherheit fast nie geäußert. Ausnahme war der erwähnte Unfall, nach dem er von „Idioten“ sprach und eine PS-Obergrenze für Anfänger ins Gespräch brachte.
Das ist lächerlicher Populismus eines Politikers, der ablenkt, statt seiner Pflicht nachzukommen. Diese Pflicht wäre, solche Idioten mit den Mitteln des Rechtsstaates einzufangen. Das tut Herr Henkel nicht. Herr Müller und Herr Henkel sind aufgefordert, die verheerenden Folgen der Personalkürzungen tausender Stellen der letzten 14 Jahre bei der Polizei rückgängig zu machen. Die Leute werden dringend gebraucht, und das Personal ist darüber hinaus weit aufzustocken. Polizeipräsident Kandt könnte dies fordern, statt sich wegzuducken.
In Berlin sterben jährlich rund 50 Menschen im Verkehr und etwa 18.000 werden verletzt, also praktisch die Bevölkerung eines ganzen Stadtteils. Wie weit ließen sich diese Zahlen realistischerweise senken, wenn die Regeln durchgesetzt würden?
Weit über 90 Prozent der Unfälle passieren nicht einfach, sondern werden aktiv verursacht. Nehmen wir mal an, dass man mit konsequenter Überwachung die Hälfte der durch Regelverstöße verursachten Unfälle vermeiden könnten. Dann hätten wir also schon mal die Hälfte der Opfer gerettet. Und die restlichen Unfälle wären längst nicht so schwer, sodass die Opferzahl tatsächlich wohl noch viel weiter sinken würde. Nehmen wir nur mal die Überlebenschance von Fußgängern bei verschiedenen Aufprallgeschwindigkeiten: Wenn das Auto 50 fährt, haben sie nur eine Chance von 20 Prozent. Bei Tempo 30 sind es etwa 80 Prozent. Das zeigt wieder, wie extrem viel wir durch mehr Kontrollen bewirken könnten. Schon die bloße Sichtbarkeit von mehr Polizei im Fließverkehr würde viel helfen.
Der Straßenverkehr ist praktisch der einzige Bereich unseres Alltags, in dem ein einziger kleiner Fehler tödlich sein kann. Das scheint einerseits grotesk – aber ebenso grotesk wäre, sämtliche Straßen einzuzäunen.
Tatsächlich wird ständig bloß nach der Infrastruktur geschaut und nach der Sicherheitstechnik. Aber wenn ich an einen Unfallschwerpunkt ein Stoppschild stelle, habe ich das Problem noch nicht gelöst, wenn die Leute nicht wirklich anhalten. Also braucht es auch da wieder Kontrollen. Gerade weil im Straßenverkehr schon kleinste Fehler so verheerende Folgen haben können, sind Prävention und Regeltreue so wichtig.
Vor allem Fußgänger fühlen sich vom Verhalten vieler Radfahrer auf Gehwegen und an Haltestellen drangsaliert..
… zu Recht. Dieses Verhalten ist nicht zu rechtfertigen. Ich fürchte, ich muss mich wiederholen: Auch dagegen helfen nur Kontrollen. Der Mensch ist nun mal so gestrickt, dass man ihm mit Strafen drohen muss, damit er sich an Regeln hält. Freundliche Nachsicht nützt jedenfalls nichts. Dann könnte man genauso gut Räucherstäbchen an die Straße stellen.