Angst vor Superspreadern: Was Deutschland sich bei den Schulen von seinen Nachbarn abschauen kann
In Kitas und Schulen herrscht nach dem Corona-Lockdown noch kein Alltag. Für Schüler in der Schweiz oder Dänemark sieht das ganz anders aus. Ein Überblick.
Nach den Sommerferien soll nicht nur in Berlin, sondern deutschlandweit für alle schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen der Unterricht im Normalbetrieb weitergehen. Ohne Trennung der Klassen und Abstandsregeln.
Zuletzt hat eine Studie von vier baden-württembergischen Universitätskliniken gezeigt, dass Kinder seltener infiziert sind und weitere Erkenntnisse geliefert, dass zumindest die jüngeren Kinder (unter zehn Jahren) eher nicht als Treiber des Infektionsgeschehens in Betracht kommen.
Viele europäische Länder sind aufgrund der gleichen Erkenntnis schon früher zum normalen Schulbetrieb zurückgekehrt, andere sind noch zögerlich.
Hier ein Überblick, welche Erfahrungen gemacht wurden:
Dänemark: Erstes europäisches Land mit Schulöffnungen nach dem Lockdown
Dänemark gilt als besonders familienfreundlich und so verwunderte es nicht, dass der nördliche Nachbar als erstes europäisches Land seine Schulen öffnete, gleich mit den allerersten Lockerungsmaßnahmen.
Seit dem 15. April besuchen dort die Grundschüler (bis Klasse 3) wieder regelmäßig die Schule – die Kitas öffneten zeitgleich.
Seit Mitte Mai sind auch die Schüler der oberen Jahrgänge bis zur zehnten Klasse zurückgekehrt und seit dem 27. Mai dürfen landesweit alle Bildungseinrichtungen, also Schulen, Hochschulen, Weiterbildungseinrichtungen und Sprachschulen, wieder öffnen. Allerdings unter besonderen Auflagen, wie Abstands- und Hygieneregeln (zum Beispiel lüften, Hände waschen und Gebäudereinigungen). Wer sich krank fühlt, soll unbedingt zu Hause bleiben.
Über ein Meldesystem werden Coronainfektionen registriert. Die Umsetzung der Richtlinien, etwa ob eine Klassenteilung erfolgt, wird von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedlich gehandhabt.
Viele schulische Aktivitäten finden derzeit im Freien statt. So hatte beispielsweise der Tivoli-Park, ein großer Freizeitpark in Kopenhagen, relativ schnell nach dem Lockdown wieder geöffnet, um Kitakindern mehr Platz zum Spielen zu bieten.
Nach Einschätzung der dänischen Gesundheitsbehörde, dem Serum-Institut (SSI), hat die Öffnung der Schulen nicht zu einer stärkeren Ausbreitung des Coronavirus geführt. Die Anzahl der Corona-Infizierten ist seitdem sogar stetig gesunken, heißt es.
Laut Medien gab es nur drei Fälle von mit Corona infizierten Schulkindern, in ganz Dänemark. An den betroffenen Schulen mussten alle Kontaktpersonen in Quarantäne.
Italien: Längste Schulschließung im Europa-Vergleich
Mit mehr als 34 000 Toten ist Italien mit das am stärksten von der Pandemie betroffene europäische Land. Landesweit wurden dort die Schulen am 4. März geschlossen, in den nördlichen Regionen schon im Februar.
Öffnen werden sie erst wieder im September und somit ist Italien das Land mit der längsten Schulschließung im europäischen Vergleich.
Diese Maßnahme sei eher präventiv zu betrachten, heißt es bei der Botschaft. Bei den heißen Temperaturen im Sommer, von bis zu 40 Grad, wolle man die Kinder nicht vorzeitig zurückholen, sondern ihnen ihre Ferien gönnen.
Bis zu den Ferien fand ein digitaler Fernunterricht statt, der je nach Region, Schule und Lehrer unterschiedlich gut gehandhabt wurde.
Die italienischen Gesundheitsbehörden stufen Kinder nicht als treibende Kraft in der Pandemie ein. Bereits vor der Schulschließung wurden Grundschulen oder Kindergärten nicht als Infektionsherde ausgemacht.
Schweiz: Unterschiede bei der Umsetzung je nach Kanton
Seit dem 11. Mai sind auch in der Schweiz die Schulen wieder geöffnet. Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit (BAG) berief sich dabei auf die allgemeine Einschätzung von Virologen, dass Kinder unter zehn Jahren sich kaum anstecken und das Virus kaum weiterverbreiten würden.
Je nach Kanton gab es bei der Umsetzung der Schulöffnung Unterschiede. In der deutschsprachigen Schweiz kehrte man in den Bildungseinrichtungen gleich zum Normalbetrieb in voller Klassenstärke zurück.
Bis auf die stärker betroffenen Kantone Zürich und St. Gallen – dort wurden die Kinder zunächst noch in kleineren Gruppengrößen unterrichtet. Doch auch hier läuft mittlerweile der Betrieb bis zu den Ferien normal weiter.
In den französischen wie italienischen Kantonen war man aufgrund der höheren Infektionszahlen vorsichtiger und startete den Betrieb mit kleineren Klassen.
Laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) wurden dort, wo die Schulen wieder ganz normal geöffnet wurden, nur „wenige Infektionen bei Kindern“ festgestellt. Die Übertragungen fanden laut Behörde nicht über die Schulen statt. Die wenigen Kinder, die sich infizierten, seien von ihren Eltern angesteckt worden, heißt es. Zu Schulschließungen kam es nicht.
Auch über die Kindergärten, die in der Schweiz nie flächendeckend geschlossen waren, fanden laut BAG keine Übertragungen statt.
Für den Unterricht gelten bestimmte Hygienemaßnahmen (Hände waschen sowie regelmäßiges Lüften). Abstand halten müssen Grundschulkinder nicht. Lehrer sollen zum eigenen Schutz einen Mindestabstand von zwei Metern einhalten. Vorgeschrieben wird außerdem eine konstante Zusammensetzung der Gruppen.
Die Schweizer Gesundheitsbehörden wollen statt strenger Auflagen das Virus in allen Bereichen durch viele Testungen und das Nachverfolgen der Infektionsketten eindämmen. Schulen, insbesondere Grundschulen, wolle man nicht wieder schließen.
Island: Grundschulen und Kitas nie ganz geschlossen
Island ist das einzige europäische Land, das das Virus mit einem relativ milden Lockdown besiegt hat. Gelungen ist dies durch eine schnelle Grenzschließung und einen enormen Testaufwand. Rund 15 Prozent der 360.000 Einwohner wurden innerhalb kürzester Zeit auf das Coronavirus getestet.
Die Grundschulen und Kitas waren in dem dünn besiedelten Inselstaat nie ganz geschlossen – allerdings wurden während des Lockdowns die Kinder in kleineren Gruppen unterrichtet und betreut.
An den Oberschulen, ab der 10. Klasse, und an den Universitäten wurde bis Anfang Mai ausschließlich digital unterrichtet.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
Seit dem 4. Mai laufen Grundschulen und Kitas wieder im Normalbetrieb – ganz ohne Einschränkungen. Dies geschah auf Empfehlung der verantwortlichen Epidemiologen, die sich auf die bereits viel zitierten Forschungsergebnisse isländischer Wissenschaftler bezogen, wonach Kinder eine untergeordnete Rolle als Überträger in der Sars-CoV-2-Pandemie spielen.
Den Wissenschaftlern gelang es relativ gut, die Infektionsketten nachzuverfolgen, dabei wurden auch die verschiedenen Virusstämme (etwa 40) ausgemacht.
Kinder waren demnach zwar auch infiziert und erkrankt, es gab aber kaum Fälle, bei denen nachweislich ein Kind einen Erwachsenen angesteckt hatte, in der Regel war es andersherum.
Seit der Aufnahme des Normalbetriebs in Schulen hat es keine Ansteckungen unter Schülern gegeben. Was auch nur schwer möglich wäre, denn Island ist momentan coronavirusfrei. Die Zahl der Neuinfektionen liegt bei null.
Damit das trotz der in dieser Woche erfolgten Grenzöffnung so bleibt, wird jeder Einreisende auf das Virus getestet. Bis Ende des Monats übernimmt die Kosten dafür (rund 100 Euro) der Staat. Danach muss jeder Gast selbst dafür aufkommen.
Finnland: Schulöffnung am 14. Mai – für knapp drei Wochen
Finnland hat seine Schulen am 14. Mai komplett wieder aufgemacht. „Das Risiko, dass ein Kind einen Erwachsenen ansteckt, ist nicht realistisch“, begründete der finnische Chef-Epidemiologe Mika Salminen die Entscheidung auf einer Pressekonferenz am 29. April.
Allerdings war die Schulöffnung in Finnland nur ein knapp dreiwöchiges Zwischenspiel, weil dort Anfang Juni traditionell die Sommerferien beginnen, die in dem nordischen Land etwa zweieinhalb Monate dauern.
Der Unterricht ging innerhalb dieser kurzen Zeit landesweit in normalen Klassenstärken weiter. Lehrer wurden ganz normal eingesetzt – eine pauschale Krankschreibung für vorerkrankte Lehrer gab es in Finnland von vornherein nicht, da zu Beginn der Pandemie ohnehin aus dem Homeoffice unterrichtet wurde.
Unterrichtseinbußen hatten die Kinder hier kaum, weil der normale Stundenplan nahtlos über digitalen Unterricht fortgesetzt wurde.
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Da die Schulen nur knapp drei Wochen geöffnet waren, lässt sich kaum beurteilen, welches Infektionsrisiko mit der Schulöffnung einherging. Während dieser Zeit gab es laut der Gesundheitsbehörden an sechs Schulen Risikofälle, das heißt, dass ein Kind oder Lehrer Kontakt zu Infizierten hatte.
An zwei Schulen im Großraum Helsinki mussten einzelne Schüler und Lehrer in Quarantäne, weil es infizierte Personen an der Schule gegeben hatte.
Da die Behörden in Finnland alle Fälle gut nachverfolgen können, geht man in dem nordeuropäischen Land davon aus, dass man die Lage gut im Griff hat.
Momentan gibt es nur wenig Neuinfektionen und rund 1000 aktive Fälle, hauptsächlich im Großraum Helsinki. Die Kitas öffneten ebenfalls am 26. Mai für alle Kinder. Schließungen wegen Infektionen gab es auch hier nicht.
Schweden: Schulen bis zur neunten Klasse blieben offen
Schweden ist das einzige europäische Land, das im Rahmen seiner vergleichsweise lockeren Lockdown-Strategie die Schulen bis zur neunten Klasse offen hielt.
Wissenschaftlich begleitet wurde dieses europaweit einmalige Experiment nicht. Begründet hatte die Gesundheitsbehörde die damalige Entscheidung mit der Erkenntnis, dass Kinder und Jugendliche nur selten an Covid-19 erkranken. Und der schon damals geltenden Annahme, dass die meisten Kinder nur selten von Erwachsenen angesteckt werden und dann nur milde Symptome haben.
Diese Erkenntnis habe sich innerhalb der letzten Monate bestätigt, heißt es bei den schwedischen Gesundheitsbehörden. Es habe sich gezeigt, dass Kinder nur selten andere Kinder anstecken und dies in geringerem Umfang als Erwachsene.
Die Schulen haben sich nicht als Infektionstreiber erwiesen. Auch das Personal, das in der Schule tätig ist, war nicht in höherem Maße als andere Berufsgruppen von Covid-19 betroffen.
Schweden hat allerdings insgesamt deutlich höhere Infektionszahlen als andere europäische Länder. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl hat das skandinavische Land deutlich mehr Corona-Tote zu beklagen als Deutschland, insgesamt mehr als 5000.
Frankreich: Schrittweise Rückkehr seit dem 11. Mai
In Frankreich wurden seit dem 11. Mai schrittweise die Schulen und Kindergärten geöffnet. Je nach Departement und Infektionsgeschehen gab es unterschiedliche Einschränkungen. In Paris konnten Kita- und Schulkinder nur tageweise die Einrichtungen besuchen.
Ab kommenden Montag sollen alle Kinder zum Normalbetrieb in die Schulen und Kitas zurückkehren. Ausgenommen sind nur die letzten Jahrgänge der Oberschulen. Viele Eltern sehen das kritisch, da sie Angst vor einer weiteren Pandemie-Welle haben.
Eine französische Studie hat gezeigt, dass ältere Schüler das Virus sehr wohl weiterverbreiten können. Rückblickend wurde analysiert, dass sich vor dem Lockdown in einem nordfranzösischen Gymnasium innerhalb von fünf Wochen 38,3 Prozent der Schüler und 43,4 Prozent der Lehrer infiziert hatten. Dass Jugendliche ab 15 Jahren häufiger infiziert sind, ist seit Längerem bekannt.
Israel: Insbesondere Oberschulen als Infektionsherde ausgemacht
Israel geriet erst kürzlich wegen Schulschließungen in die Schlagzeilen. In dem am Mittelmeer gelegenen Land wächst momentan die Sorge vor einer zweiten Corona-Welle.
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Da kürzlich fast 130 Schulen und Kindergärten wieder geschlossen werden mussten, werden insbesondere die Schulen als Infektionsherde ausgemacht. 347 Schüler und Lehrer waren während der Infektionswelle Anfang Juni positiv auf das Coronavirus getestet worden. Mehr als die Hälfte der Infektionen entfielen auf Jerusalem, davon wiederum drei Viertel auf ein einzelnes Gymnasium.
Medienberichten zufolge wird vermutet, dass ein Lehrer als „Superspreader“ besonders viele andere Menschen infiziert hat.
In Israel gelten relativ strenge Regelungen für Schulen, sobald eine einzige Person infiziert ist, muss die gesamte Schule geschlossen werden. Mit anderen Hygienemaßnahmen wurde offenbar etwas lax umgegangen, heißt es in den israelischen Medien. Sofern Schüler infiziert waren, soll es sich mehrheitlich um ältere Schüler gehandelt haben.