Behörden melden Rekord-Infektionszahlen: Verliert Schweden die Kontrolle über die Corona-Pandemie?
In dieser Woche verzeichnete die Statistik eine Höchstzahl bei den neu am Virus Erkrankten. Damit verstärkt sich ein beunruhigender Trend.
Schweden verzeichnete am Mittwoch die bislang höchste Anzahl von Corona-Neuinfektionen binnen eines Tages. 1474 Erkrankungen seien hinzugekommen, teilt die Gesundheitsbehörde mit. Der Rekord-Anstieg sei eine „direkte Konsequenz vermehrter Tests“. Dadurch seien auch Fälle erfasst worden, bei denen die Betroffenen nur milde Symptome gezeigt hätten. Insgesamt seien nunmehr 48.300 Infektionen bestätigt.
Zum Vergleich: Deutschland mit rund acht Mal so vielen Einwohnern meldet derzeit rund 300 Neuinfektionen pro Tag. Aber der Mittwoch war kein Ausreißer nach oben. Vielmehr wirft das Infektionsgeschehen in Schweden in den vergangenen zwei Wochen die Frage auf: Entgleitet dem Land die Kontrolle in der Pandemie?
Der „schwedische Sonderweg“ in der Pandemie wurde bestimmt vom zuständigen Staatsepidemiologen Anders Tegnell. Seine Einschätzung hat das Land international in die Schlagzeilen gebracht. Seit mehr als drei Monaten wird weltweit genau verfolgt, wie sich die Pandemie in dem Land mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern entwickelt.
Schweden hat in der Pandemie einen anderen Kurs gefahren als die meisten anderen Länder: Anstelle eines vollständigen Lockdowns setzte man vorwiegend auf Eigenverantwortung und Freiwilligkeit bei den Maßnahmen.
Skandinavische Nachbarn kommen besser als Schweden durch die Krise
Laut Zahlen der Zeitung aftonbladet.se befinden sich derzeit 1367 Infizierte in Krankenhäusern, 268 von ihnen auf der Intensivstation. Zum Vergleich: Im benachbarten Norwegen, das sich wie die meisten europäischen Länder zu einem vorübergehenden Lockdown entschieden hatte, sind bislang insgesamt knapp 8600 Infektionen bestätigt, in Dänemark gut 12.000. Die Zahl der Neuinfektionen pro Tag liegt in diesen Ländern im niedrigen zweistelligen Bereich.
Die Zahl der Corona-Toten in Schweden kletterte den Angaben zufolge um 19 auf 4814. Pro 100.000 Einwohner sind das etwa 47 Tote - deutlich mehr als in den benachbarten nordeuropäischen Ländern - und auch mehr als in Deutschland.
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Hier liegt die Zahl bei 10, während sie in Norwegen bei 4,5 liegt. 3200 der in Schweden verstorbenen Covid-19-Patienten waren älter als 80 Jahre. Weitere 1000 zwischen 70 und 79 Jahre alt.
Kritiker bezeichnen Schwedens Sonderweg als „Experiment mit Menschenleben“
Für Tegnells Kritiker ist die Sache längst klar: Sein Weg, in Schweden anders als in anderen Ländern nicht auf einen kompletten Lockdown zu setzen, sei ein riskantes Experiment mit Menschenleben.
Schon vor Wochen hat Tegnell zugegeben, dass seine Behörde von den hohen Zahlen überrascht worden sei. „Wir sind in einer schrecklichen Situation gelandet“, sagte er unlängst und bezog sich dabei vor allem auf die hohe Zahl der Covid-19-Toten unter Pflegebedürftigen.
Niemand habe zunächst damit gerechnet, dass das Virus derart in Heimen wüten könnte und ältere Menschen „so extrem anfällig“ sein würden. In dieser Woche gab er außerdem zu, man habe gerade in den Betreuungsanstalten Fehler gemacht, „es gibt ganz klar Verbesserungspotenzial“.
Das Infektionsgeschehen hat möglicherweise auch Auswirkungen auf diplomatischer Ebene: das Auswärtige Amt weist auf seiner Internetseite darauf hin, dass das EU-Land derzeit die „Pandemiekriterien“ für eine Aufhebung der Reisewarnung nicht erfülle.
„Überschreitet ein Land die Neuinfiziertenzahl im Verhältnis zur Bevölkerung von weniger als 50 Fällen pro 100.000 Einwohner kumulativ in den letzten 7 Tagen, bleibt die Reisewarnung bestehen oder wird wieder ausgesprochen. Dies gilt aktuell für Schweden“, heißt es dort.
Das Ziel: „Plana ut kurvan“, also die Kurve abflachen
Aber was genau macht Schweden anders? Einerseits sagt Tegnell immer wieder, habe Schweden letztendlich genau das gleiche Ziel wie alle anderen: Die Infektionskurve flach zu halten, um das Gesundheitssystem und vor allem die Intensivstationen nicht zu überlasten. Allerdings habe man akzeptiert, dass es nicht die Lösung sei, alles dicht zu machen. „Wir schließen so viel wie möglich auf freiwilliger Basis.“
Gebetsmühlenartig wiederholt Tegnell bei seinen Pressekonferenzen die Richtlinien seiner Behörde für die Bürger. Seit Beginn der Pandemie wurde auf deren Vernunft gesetzt und an ihr Verantwortungsbewusstsein appelliert, soziale Kontakte zu minimieren und Abstand zu halten. Menschen über 70 sollten zu Hause bleiben. Kindergärten, Schulen für Kinder unter 16 Jahre und Geschäfte sind geöffnet. Dies gilt unter Auflagen auch für die Gastronomie.