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Digitale Schule. In Berlin funktioniert dies nur begrenzt.
© imago/MiS

„Um neun Uhr gibt es den ersten Videochat“: Homeschooling in Berlin und Finnland – ein Vergleich

Fast überall in Europa sind die Schulen zu. Doch in Finnland wird der Unterricht fortgesetzt - digital. Ein Interview mit Botschaftsrätin Tanja Huutonen.

Tanja Huutonen ist Botschaftsrätin für Presse und Kultur der finnischen Botschaft in Berlin. Momentan ist sie im Homeoffice in Finnland und vergleicht von dort den digitalen Unterricht der Lehrer mit dem Homeschooling in Berlin.

In Berlin beklagen sich viele Eltern und Schüler über den schlecht organisierten Unterricht zu Hause während der Coronakrise. Vor allem wird die mangelnde Digitalisierung kritisiert. Wie funktioniert das momentan in Finnland? Waren die Schulen dort besser auf die Schließung vorbereitet? 
Diese Situation ist für alle neu. Niemand konnte sich darauf einstellen. Aber es zeigt sich nun, dass unser System insgesamt bereit war, eine Schulschließung zu bewältigen. In der Digitalisierung sind wir sehr viel weiter als Deutschland. Es gibt eine flächendeckende Internetverbindung. Und Lehrer und Schüler wissen, wie sie den Unterricht mit digitalen Mitteln gestalten können.

Alle Haushalte und Schulen sind mit Geräten ausgestattet. Und Schüler, die bisher keinen eigenen Laptop oder Computer hatten, konnten sich einen von der Schule ausleihen. Digitalisierung ist in Finnland obligatorisch, die Schulen sind dazu verpflichtet, digitale Mittel anzuwenden und werden dabei finanziell unterstützt. Spontan haben auch alle Verlage gratis alle Lernbücher und Unterrichtsmaterialien ins Netz gestellt.

Was genau läuft beim finnischen Unterricht anders?
Seit fast 20 Jahren nutzen die finnischen Lehrer und Eltern zum Beispiel eine Internetplattform, die heißt Wilma. Die gibt es auch als App, oder man loggt sich über den Computer ein. Darüber verschicken die Lehrer Hausaufgaben, schreiben Nachrichten an die Eltern oder geben Feedback zu den Arbeiten und Lernerfolgen der Kinder. Lehrer und Eltern sind darüber in regelmäßigem Kontakt.

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Wichtige Informationen, wenn das Kind krank ist oder persönliche Probleme hat, können darüber ausgetauscht werden. Das ist nicht so wie in manchen Berliner Schulen, wo Eltern ihrem Kind einen Zettel mitgeben müssen, damit sie mit der Lehrerin sprechen können. Von meinen Berliner Kollegen habe ich gehört, dass es Lehrer gibt, die nicht einmal ein Handy haben. Oder andere haben, als feststand, dass die Berliner Schulen schließen müssen, einfach nur zu den Schülern gesagt: Mach bitte diese 30 Seiten Mathematik und ich rufe in zwei Wochen an. Das läuft bei uns ganz anders. 

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Wie sieht der Alltag einer finnischen Lehrerin oder eines Lehrers während der Coronavirus-Krise aus? Abgesehen von der Ferienzeit.
Die Schule beginnt auch während der Schulschließung in Finnland um neun Uhr. Damit auch tatsächlich alle gleichzeitig mit dem Unterricht anfangen, gibt es zu Beginn den ersten Videochatkontakt mit den Lehrern oder Lehrerinnen. Der Kontakt mit den Lehrern und der Klasse ist sehr wichtig für die Kinder, damit sie motiviert sind. Sie freuen sich darüber, dass sie  einander sehen und miteinander sprechen können. Die Lehrerin oder der Lehrer verteilt dann die Aufgaben mit der Wilma-Plattform oder anderen Programmen. Benutzt werden auch Google Classroom, Seesaw oder andere. Darüber verschicken sie Videos, Zeichnungen und andere Materialien.

Tanja Huutonen ist Botschaftsrätin für Presse und Kultur der finnischen Botschaft in Berlin
Tanja Huutonen ist Botschaftsrätin für Presse und Kultur der finnischen Botschaft in Berlin
© Bernhard Ludewig/ Finnische Botschaft

Später schicken die Schüler die Aufgaben wieder zurück, die dann von den Lehrern bewertet werden. Alle Lehrer kümmern sich um ihre Fächer. Auch Sportlehrer verschicken Aufgaben. Es kann zum Beispiel sein, dass ein Schüler draußen eine Übung machen soll und dann davon ein Video an den Lehrer schickt.  Der normale Stundenplan läuft im Prinzip weiter, nur dass unsere Bildungsministerin die Lehrer extra dazu aufgefordert hat, die Kinder nicht zu überfordern. Die Schultage sind also nicht so lang wie sonst.

Gilt das nur für die älteren Schüler oder auch für die ganz Kleinen?
Das gilt auch für die Grundschüler. Auch Erstklässler erhalten digitalen Unterricht zu allen ihren Fächern. Sie brauchen natürlich noch etwas mehr Hilfe bei den Hausaufgaben. Aber von einer befreundeten Lehrerin, die auch Mutter von zwei Kindern ist, weiß ich, dass auch ihre Tochter in der ersten Klasse etwa vier Schulstunden pro Tag Unterricht bekommt. Dazu gehört auch, dass sie Youtube-Videos von den Lehrern bekommen, die ihnen bei Matheübungen weiterhelfen oder ähnliches.

Und die Eltern, was machen die?
In Finnland sagt man, Eltern sollen keine Lehrer sein. Eltern sollen nur sehen, dass Aufgaben erledigt werden, aber sie sollen keinen Unterricht mit den Schülern machen.  Die Lehrer arbeiten momentan genauso viel wie sonst auch. Vielleicht sogar noch mehr. Die Schüler müssen täglich ihre Aufgaben schicken und die Lehrer müssen ihnen ein Feedback geben. Falls ein Kind seine Aufgaben nicht erledigt, muss die Lehrerin nachhaken. Reagiert das Kind auf drei Nachrichten nicht, werden die Eltern kontaktiert. Hilft auch das nicht, wird die Schulsozialarbeiterin eingeschaltet. Dann wird geschaut, wie man die Familie unterstützen kann.

Finnland verfolgt ähnlich strikte Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus wie Deutschland. Ist es allerdings richtig, dass die Kindergärten weiterhin geöffnet sind und auch Kinder bis zur dritten Klasse weiterhin die Schule besuchen dürfen?
Die Empfehlung der Regierung ist, dass alle Kinder zu Hause bleiben sollen. Die offiziellen Regelungen dazu wurden gerade bis zum 13. Mai verlängert. Allerdings gibt es für Eltern, die zum Beispiel nicht im Homeoffice arbeiten können und die wichtige Berufe haben wie Polizisten, Ärzte oder Krankenschwestern, die Möglichkeit, ihre Kinder in der Kita oder in der Grundschule betreuen zu lassen. Es ist also wie in Deutschland, nur dass man auf die Vernunft der Eltern setzt. Und das funktioniert bei uns auch so.

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Zum Glück sind auch viele Arbeitgeber sehr flexibel. Momentan arbeiten 75 Prozent der Finnen im Homeoffice. Sie sparen so auch die Fahrtzeit, und die meisten können ihre Arbeitszeiten und Pausen zu Hause frei einteilen. So haben sie mehr Zeit für die Kinderbetreuung. Mütter und Väter wechseln sich mit der Betreuung ab, vielleicht ist das auch etwas, dass in Finnland etwas besser funktioniert, weil Frauen bei uns mehr arbeiten und sich ohnehin mehr mit dem Partner abwechseln müssen. Natürlich ist wegen der Doppelbelastung die Situation für Eltern in Finnland momentan sehr anstrengend.

Ihr Nachbarland Schweden verhält sich ziemlich konträr. Dort sind Läden und Restaurants noch geöffnet. Wie finden das die Finnen?
In Finnland war man ziemlich darüber empört, als vor zwei Wochen alle Skigebiete in Finnland schließen mussten, das Skifahren in Schweden aber überall noch möglich war.

Momentan geht man davon aus, dass das keine gute Linie ist, die die Schweden gerade fahren. Man hat Angst, dass sich das Coronavirus von Schweden aus weiter ausbreitet. Im Norden wird daher gerade die Grenze dicht gemacht. Nur Berufspendler dürfen, wenn nicht anders möglich, die Grenze passieren. Alle die sonst ins Land kommen, müssen zwei Wochen in Quarantäne.

Was könnten die Deutschen hinsichtlich des digitalen Unterrichts von den Finnen lernen?
Ich glaube, vieles muss gesetzlich festgelegt werden. Man kann nicht alleine auf die Freiwilligkeit der Lehrer setzen, bestimmte digitale Programme und Plattformen zu benutzen. Es braucht eine klare Linie von oben. Und man muss die Schulen natürlich finanziell ausstatten und die Lehrer für die Handhabung fitmachen. Wir haben viel mit den digitalen Startups zusammen gearbeitet, das könnte man in Berlin auch gut machen.

Vom Netzausbau könnte Deutschland auch etwas von den Finnen lernen. Wir bauen gerade mit Nokia das 5G-Netz aus. Dass man an irgendeinem Ort in Finnland nicht ins Netz kommt, wie an manchen Orten in Berlin, das gibt es dort so nicht. Ich bin mir aber sicher, dass Finnland und Deutschland beide viel durch die Krise lernen werden, auch, was den digitalen Unterricht betrifft.

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