Kinderbetreuung in der Hauptstadt: Warum Berlins Kita-Eltern auf die Straße gehen
Zu wenig Erzieher, fehlende Betreuungsplätze: Eltern und Erzieher wollen am Sonnabend in Berlin gegen die Kita-Krise demonstrieren. Ein Überblick über die aktuellen Probleme der Kinderbetreuung.
Den Eltern reicht’s: Unter dem Motto „Kitakrise Berlin“ wollen sie am Sonnabend demonstrieren. Sie starten um 10 Uhr am Dorothea-Schlegel-Platz, um 11 Uhr folgt eine Kundgebung am Brandenburger Tor (siehe Grafik). Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der Landeselternausschuss Kita, der Dachverband der Kinder- und Schülerläden und die Gewerkschaft Verdi unterstützen die Eltern in ihren Forderungen nach mehr Geld für Erzieherinnen, einem besseren Betreuungsschlüssel, mehr Räumlichkeiten für Kitas durch Investitionen in den sozialen Wohnungsbau und einem zentralen Kitaplatzsuchsystem.
Wie viele Plätze werden noch gebraucht?
Aktuell fehlen rund 2500 Kitaplätze. Das ergibt sich aus der Differenz zwischen ausgestellten Kitagutscheinen und derzeit nicht belegten Plätzen. Die Senatsverwaltung für Jugend weist darauf hin, dass diese Zahl nicht belastbar sei, weil Eltern selbst entscheiden, ob und wann sie einen Kitagutschein in Anspruch nehmen. Insgesamt gibt es in Berlin 174.279 Kitaplätze mit Betriebserlaubnis, davon können aber nur 163.717 belegt werden – unter anderem weil es keine Erzieher gibt.
Wie ist die Lage in den Bezirken?
Knapp ist es überall. Auf eine Tagesspiegel-Anfrage haben sich sieben der zwölf Bezirke zurückgemeldet: Charlottenburg-Wilmersdorf, Neukölln, Steglitz- Zehlendorf, Reinickendorf, Spandau, Treptow-Köpenick und Friedrichshain- Kreuzberg. Zudem liegen die Daten aus Mitte vor. In diesen Bezirken stehen hunderte Familien auf Vormerklisten dzu er Jugendämter, weil sie bisher keinen Platz gefunden haben: In Spandau sind das 520 Kinder, in Treptow-Köpenick 453, in Friedrichshain-Kreuzberg 319, in Neukölln 280, in Charlottenburg-Wilmersdorf 272, in Reinickendorf 226, in Mitte 200 und in Steglitz-Zehlendorf 50. Auf den Kita-Wartelisten dürften noch weit mehr Familien stehen, weil sich viele bei mehreren Einrichtungen anmelden.
In den nächsten Jahren wird der Bedarf weiter steigen. Spandau rechnet damit, dass bis 2022 noch 3700 zusätzliche Plätze benötigt werden. In Neukölln fehlen allein bis Ende 2018 etwa 1500 bis 2100 Plätze, in Steglitz-Zehlendorf werden bis 2019 1300 Plätze mehr gebraucht, in Charlottenburg-Wilmersdorf sind es 1800 Plätze bis 2020. Reinickendorf prognostiziert einen Mehrbedarf von 1750 Plätzen in den kommenden zwei Jahren und will bis dahin 2700 Plätze ausbauen. Friedrichshain-Kreuzberg rechnet mit 1550 zusätzlichen Plätzen bis 2021. In Mitte werden bis 2021 mehr als 2600 Betreuungsplätze benötigt, in diesem Jahr noch mindestens 1000.
Warum gibt es zu wenig Plätze?
Einer der vielen Gründe ist das immense Bevölkerungswachstum durch Zuzug und Geburtenboom. Der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab dem ersten Lebensjahr und die Abschaffung der Kitagebühren tragen ebenso dazu bei, dass mehr Kinder in den Kitas angemeldet werden. Und ein weiterer Grund ist der Fachkräftemangel: Da es nicht genügend Erzieher gibt, können Plätze nicht vergeben werden, Neugründungen verzögern sich, weil kein Personal zur Verfügung steht.
Warum gibt es zu wenig Erzieher?
Der Erzieherberuf gilt als unattraktiv, weil das Gehalt weniger steigt als die Anforderungen: Von Bewerbern wird inzwischen das Abitur verlangt. Hinzukommt, dass die Ausbildung nicht vergütet wird: Zuletzt brach ein Viertel der angehenden Erzieher die Ausbildung ab. Zudem wurde die Ausbildung zunehmend auf freie Träger verlagert, deren Schulplätze bis August 2016 kostenpflichtig waren. Zur Verknappung dürfte auch beigetragen haben, dass es wenig Schulplätze gab: Erst als der Erziehermangel ab 2009 unübersehbar war, wurden die schulischen Kapazitäten erhöht. Zur Personalknappheit trägt auch bei, dass viele Erzieherinnen in andere Berufe oder Einsatzorte abwandern: Sie werden auch in Schulhorten und Jugendeinrichtungen benötigt. Zudem werden auch Stellen, die für Sozialpädagogen gedacht sind, oft mit Erzieherinnen besetzt, weil Sozialpädagogen ebenfalls knapp sind.
Wie viele Erzieherinnen fehlen?
Schätzungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands besagen, dass sich der Mangel aktuell auf 1000 Kräfte beläuft. Für 2019 werde die Lücke bereits auf rund 2000 bezifferte, berichtet Geschäftsführer Martin Hoyer. Ein Bezirk wie Friedrichshain-Kreuzberg begründet seinen Platzmangel inzwischen ausschließlich mit fehlenden Erzieherinnen.
Warum wurde das Gehalt nicht angehoben?
Die Bezahlung der Berliner Erzieherinnen wird über den Tarifvertrag der Länder geregelt. Ein einzelnes Bundesland kann nicht einfach ausscheren. Im Fall der Lehrer ist dies zwar gelungen; diese Ausnahme wurde aber nur zugelassen, weil Berlin durch die Nichtverbeamtung der Lehrer einen besonderen Konkurrenznachteil gegenüber den anderen Bundesländern hat. Mit einer besseren Bezahlung der Erzieherinnen ist für 2019 zu rechnen, da alle Länder unter Erziehermangel leiden und daran interessiert sind, die Abwanderung potentieller Fachkräfte in andere Berufe zu verhindern. Für eine deutliche Anhebung der Gehälter spricht auch, dass die Flächenländer ihre Erzieherinnen wesentlich besser bezahlen als die Stadtstaaten.
Was fordert die Opposition?
Die CDU hat einen Sieben-Punkte-Plan vorgelegt. Sie plädiert für höhere Erziehergehälter und eine Ausbildungsvergütung. Zudem solle der Senat mehr Anstrengungen unternehmen, um die Tagespflege zu stärken: Die Betreuung in Kleingruppen sei zu erleichtern. Zudem sollten die Jugendämter Gewerberäume mieten, um die Einrichtung weiterer Großpflegestellen zu ermöglichen.
Die FDP fordert, dass Kitaleitungen durch kaufmännische Mitarbeiter unterstützt werden: Dadurch könnten kurzfristig „rund 400 Vollzeitstellen für Erzieheraufgaben“ frei werden. Zudem fordert die FDP eine Ausweitung der Schulpflicht auf das letzte Kitajahr und eine Stärkung der vorschulischen Bildung. Dadurch würde der Erzieherberuf aufgewertet, was eine bessere Bezahlung ermöglichte. Die FDP will zudem eine Entrümpelung der bürokratischen Vorschriften, um Kitagründungen zu vereinfachen.
Was plant der Senat?
Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) will sich in der nächsten Tarifrunde für eine bessere Bezahlung der Erzieher einsetzen. Sie hat außerdem in der Fachministerkonferenz auf Bundesebene einen Antrag für eine Fachkräfteoffensive eingebracht. Die Kitaplätze sollen weiter ausgebaut werden. Aus verwandten Berufen sollen noch mehr Erzieher gewonnen werden, auch Quereinsteiger werden weiterhin gesucht. Als kurzfristige Maßnahmen wurde eine Kita-Taskforce eingerichtet, die 180 Plätze für Notlagen vermittelt. Die Träger wurden gebeten zu prüfen, ob die Gruppen temporär vergrößert werden können. Außerdem zahlt das Land den Trägern Prämien, wenn sie zusätzliche Plätze schaffen.
Wie viele Klagen gibt es?
Angesichts der vielen Eltern, die seit Monaten nach einem Kitaplatz suchen, ist die Zahl der Klagen steigend: Von einer höheren zweistelligen Zahl ist auszugehen, wenn man die Meldungen aus verschiedenen Bezirken hochrechnet. Allerdings wird von einer weiteren Zunahme an Klagen ausgegangen, weil Eltern, die den Rechtsweg beschreiten, bei der Vergabe von Plätzen unter Umständen bevorzugt werden. Zudem hat Bildungssenatorin Scheeres verkündet, dass die 180 Plätze, die von ihrer Kita-Taskforce vergeben werden, vor allem an klagende Eltern gehen sollen.
Wie ist die Lage im Bund?
Kitaplätze fehlen bundesweit und vor allem in den Metropolen, wobei Berlin mit seiner Mangelquote noch im Mittelfeld liegt, und Bremen die größten Probleme hat, die Kinder zu versorgen. Das Institut der Deutschen Wirtschaft errechnete für das Jahr 2016, dass deutschlandweit etwa 300.000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren fehlten.
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