Fehlende Betreuungsplätze: Wie Berlins Eltern um Kitaplätze kämpfen
Alex Jones und Christine Kroke sind zwei von tausenden Eltern in Berlin, die keinen Kitaplatz finden. Die Suche bestimmt ihr Leben – und das ihrer Kinder. Eine Reportage.
An einem Tag im Februar kapituliert Alex Jones. Er schreibt die E-Mail, die er nie schreiben wollte. Mehr als 600 Tage sind vergangen, seit Jones und seine Frau sich um einen Kitaplatz beworben haben. Nun gibt er seinen Job als Englischlehrer auf und wird Vollzeitvater. Bald wird sein Sohn Tom zwei Jahre alt.
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Jones daheim in Reinickendorf resigniert, setzt sich Christine Kroke in Friedrichshain an ihren großen Esstisch aus dunklem Holz, neben sich eine Glasvase voll Tulpen, vor sich das silberne Notebook, und es platzt aus ihr heraus: „F**ck all ya“. Fickt euch alle. Sie schreibt die Worte auf Facebook und stellt sie „öffentlich“, einsehbar für jeden, der will.
Ihr Sohn Carl wird im September ein Jahr alt. Kroke hat mit der Suche nach einem Kitaplatz während der Schwangerschaft angefangen. Kroke sagt: „Ich war so wütend, auf die Stadt, den Senat, die allgemeine Situation.“
Jones sagt: „Die Frage war, wer von uns seine Karriere beendet. Es war hart für mich, aber auch klar, dass meine Frau unbedingt wieder arbeiten muss.“
Die Stadtregierung spricht vom „hohen Stellenwert“, „den Kitas für den Senat haben“.
So ist das in Berlin. Bis zu 3000 Kinder, die einen Platz benötigen, werden in diesem Jahr ohne dastehen, schätzt der Paritätische Wohlfahrtsverband. Seit dem 1. August 2013 hat jedes Kind ab dem ersten Geburtstag einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz.
„Ich weiß nicht, bei wie vielen Kitas wir angefragt haben, aber es waren sehr viele“, sagt Alex Jones, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Nach der Geburt blieb zunächst seine Frau zu Hause. Vier Mal war Jones inzwischen beim Jugendamt. „Sie waren sehr mitfühlend, aber sie konnten uns einfach nicht helfen.“
In ganz Berlin warten Familien vergeblich auf einen Kitaplatz für ihr Kind. In einigen Bezirken ist die Lage schlimmer als in anderen. Reinickendorf gehört dazu: Es gibt weder räumlich gesehen genügend Plätze noch genügend Erzieher. Die Eltern können dagegen klagen. Doch Berlins Verwaltungsgericht wies Ende Februar eine erste solche Klage zurück.
Wegen des Erziehermangels in der Stadt sei es dem zuständigen Bezirk und damit dem Staat unmöglich, seiner eigenen, in einem Gesetz festgeschriebenen Kitaplatz-Garantie nachzukommen. Erziehermangel, so liest sich der Gerichtsbeschluss, scheint ein unabänderliches Naturgesetz zu sein, das es dem Staat nicht erlaubt, sich an seine eigenen Regeln zu halten. Am Donnerstag kassierte Berlins Oberverwaltungsgericht diesen Beschluss.
Eltern von Arbeitslosigkeit bedroht
Lange hoffte Alex Jones, dass sich das alles irgendwie regeln ließe. Der 35-Jährige arbeitet freiberuflich. „Ich hatte mir in den fünf Jahren, seit wir nach Berlin gezogen sind, einen Kundenstamm aufgebaut“, sagt er. „Es ist frustrierend, dass ich den jetzt verloren habe.“ Anfangs, nach Toms Geburt, versuchte er, spät abends Sprachtrainings zu vereinbaren. Aber das ging nicht gut.
Jones’ Frau ist Programmiererin. Wenn sie jetzt nicht wieder in ihren Beruf zurückkehre, befanden beide, verliert sie womöglich den Anschluss in ihrer Branche.
Einen Monat, bevor Jones aufgegeben und Kroke ihren Wutanfall bekommen hat, twittert Monika Herrmann ihren eigenen. „Ich habe wieder Eltern bei mir, die von Arbeitslosigkeit bedroht sind, weil sie keinen Kita-Platz finden.“ Monika Herrmann ist der Staat, sie ist die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg und damit das Oberhaupt jener Verwaltung, von der Christina Kroke verwaltet wird.
Sie sitzt in einem Besprechungszimmer im Rathaus an der Frankfurter Allee und sagt: „Der Babyboom in Friedrichshain war legendär und hält bis heute an.“ 2016 zählte der Bezirk fast 18 000 Kinder unter sechs Jahren. Rund 15 000 werden in Kitas im Bezirk betreut. Vor zehn Jahren waren es nur halb so viele. Und während es vor drei, vier Jahren noch die Möglichkeit gab, sich vom Jugendamt einen Platz „zuweisen“ zu lassen, wenn man selbst keinen finden konnte, hat die dafür zuständige Mitarbeiterin längst kapituliert, kümmert sich nur noch um Härtefälle wie Alleinerziehende.
Vor etwas mehr als zehn Jahren gab es die fatale Prognose, dass Berlin in allen Bezirken schrumpfen werde. „Es wurden tausende Plätze abgeschafft. Erzieherinnen wurden umgeschult, Kitas abgerissen, vor allem im Ostteil“, sagt Herrmann. Etwa gleichzeitig wurden die so genannten „Kita-Eigenbetriebe“ eingeführt. „Damit hatten die Bezirke keine Handhabe mehr, direkt auf die Träger“ – die Kita-Betreiber – „einzuwirken.“
Herrmann, eine Grüne, die damals Bildungsstadträtin war, und ihre Mitarbeiter hielten die Prognose für grundfalsch. „Wir haben lange gegen die Wand geredet“, sagt sie und meint damit die seit 1996 von SPD-Politikern geleitete Senatsverwaltung für Bildung.
Als sie merkten, dass es von dort keine ausreichende Unterstützung geben würde, haben sie im Alleingang Kitas ausgebaut. 5000 Plätze hätten sie in den vergangenen zehn Jahren geschaffen. Bis zum Sommer kämen noch einmal 300 dazu, weitere seien in Planung. Mit Bildungssenatorin Sandra Scheeres führt Monika Herrmann eine Art Briefdebatte – aber keine besonders freundliche. Beide schreiben sich gegenseitig Forderungen. Scheeres wollte etwa, dass Herrmann Grundstücke angibt, auf die Kita-Neubauten passen. Doch der Bezirk sei in den letzten Jahren so dicht bebaut worden, dass es solche Grundstücke einfach nicht gebe. „Wir brauchen individuelle Lösungen hier“, sagt Herrmann.
Wartelistenplatz 394
In Reaktion auf das jüngste Urteil des Oberverwaltungsgerichts, das den Staat in die Pflicht nimmt, erklärte Scheeres am Freitag: Ihre Aufgabe sei es, die Rahmenbedingungen zu setzen. Für die Umsetzung seien Bezirke und Träger zuständig. Das Land dürfe die Verantwortung nicht auf die Bezirke abwälzen, sondern müsse selbst aktiv werden, kommentieren dagegen die Berliner Grünen.
400 Plätze in Hermanns Bezirk können nicht belegt werden, weil es zwar Raum, aber nicht genug Erzieher gibt. In Berlin verdienen die ungefähr die Hälfte von dem, was Grundschullehrer bekommen. „In Brandenburg verdienen sie bis zu 500 Euro mehr als hier“, sagt Herrmann.
Scheeres vorläufige Lösung lautet: „Wir benötigen punktuelle Überbelegung.“ Bereits im Dezember hat die Bildungsverwaltung ein „Platzgewinnungsprogramm“ vorgestellt – Kitas, die mehr Kinder aufnehmen, bekommen eine Art Bonus. Christine Kroke beobachtet: „Die Erzieher sind oft fast so verzweifelt wie ich.“
Kroke sitzt wieder an ihrem großen Esstisch, an dem sie vor einigen Wochen so wütend geworden war. Sie dreht den Laptop und zeigt die Antwort-E-Mail einer Kita, in der steht, dort würden 700 Kinder auf einen Platz warten – und wenn einer frei werde, würden zunächst Geschwisterkinder berücksichtigt. Kroke öffnet eine andere Mail einer anderen Kita: Für 2018 ist Carl auf Wartelistenplatz 394, für 2019 auf Platz 74. „Ich habe etwa 100 Kitas kontaktiert, nur in einer handvoll haben sie gesagt, dass es 2018 überhaupt die Möglichkeit gibt, dass neue Kinder aufgenommen werden.“
Die 36-Jährige ist Pressesprecherin bei einem IT-Unternehmen, hat in ähnlichen Funktionen auch schon für den SPD-Parteivorstand und die Spielautomatenindustrie gearbeitet. „Wenn ich lese, dass der Senat einen Überschuss erwirtschaftet …“, sagt sie. „Gebt den Erziehern mehr Geld. Dann sagen auch mehr Leute: ‚Ja, ich werde Erzieher.’ Und es wandern nicht mehr so viele nach Brandenburg ab.“
Die Forderung steht auch in einer von Kroke initiierten Online-Petition. Bis Freitagabend wurde sie von mehr als 35.000 Menschen unterzeichnet. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts begrüßt Christine Kroke sehr. Die Not der Eltern werde endlich erkannt. „Es tut sich was. Jetzt muss die Politik nur noch handeln.“
2500 Plätze fehlen
Kroke und ihr Mann teilen sich die Elternzeit jeweils zur Hälfte. Sie geht meistens bis 14 Uhr ins Büro, wenn sie nach Hause kommt, fängt er an, zu arbeiten. Der 41-Jährige ist freiberuflicher Architekt. Etwa 1500 Euro weniger werden sie ab September zur Verfügung haben, wenn sie keinen Kitaplatz finden. Dann läuft das Elterngeld aus, das sie zurzeit beziehen. Sie würden dann immer noch über die Runden kommen, haben sie ausgerechnet – aber nur, weil sie einen alten, vergleichsweise günstigen Mietvertrag haben. 1500 Euro weniger, das heiße: kein Urlaub mehr, nichts mehr fürs Alter zurücklegen.
Kroke dreht abermals den Laptop herum. „Bitte geben Sie die Wartelistennummern bei späteren Kontakten an“, schreibt eine Kita. Deshalb hat Christine Kroke eine Excel-Tabelle mit 80 Einträgen angelegt. Von den 100 Kitas, bei denen sie nachgefragt hat, haben sich „ etwa 20 gar nicht erst zurückgemeldet. Die Kitas bräuchten eigentlich alle eine Sekretärin, um mit den ganzen Anfragen fertig zu werden.“ Die Mütter ebenfalls. Kroke hat eine 75-Prozent-Stelle. „Die Kitaplatz-Suche ist wie ein kleiner Bürojob mit 25 Prozent.“ Und wenn Kroke und ihr Mann für Carl einen Platz finden, müssen sie den anderen 79 Kitas auf der Excel-Liste noch absagen. Wenn man hochrechnete, wie viele Stunden die Erzieherinnen, Kitaleitungen, Mütter und Väter dieser Stadt im Jahr mit dem Thema beschäftigt sind – wohin käme man wohl da?
„Ich würde mich gern um eine Festanstellung als Architekt bewerben“, sagt Krokes Mann. Für die Zeit nach der Elternzeit. „Aber das geht nicht, weil wir nicht wissen, ob wir einen Kitaplatz bekommen.“ Er sagt: „Es gibt halt das Internet, und man sollte es dringend mal benutzen.“ Das ganze Verfahren sei zum Kopfschütteln.
Aus einem Schreiben des Senats an die Bezirke geht hervor, dass Ende Januar „den nicht belegten circa 5500 angebotenen Betreuungsplätzen rund 8000 bewilligte Gutscheine“ – also 8000 Kindern und deren Eltern auf Kitasuche – gegenüberstanden. 2500 Plätze fehlen also.
Und wo die 5500 unbesetzten Betreuungsplätze sein sollen, findet man nicht so einfach heraus – es sei denn, man telefoniert sich durch 2500 Berliner Kitas. Monika Herrmann sagt: „Rein rechnerisch gibt es auch genug Plätze in Friedrichshain-Kreuzberg.“ Wären da nicht die mehr als 1000 Kinder aus anderen Bezirken, die ebenfalls hier in die Kita gehen.
Er hat von Bestechungen gehört
Alex Jones erzählt: „Wir kennen eine Familie, die hat nach drei Wochen Suche einen Platz bekommen. Was war bei denen denn anders?“ Es gibt Kitaplatz-Gutscheine über sieben und welche über neun Stunden. Weil in Toms Familie notgedrungen momentan nur ein Elternteil arbeitet, bekam er bloß einen Sieben-Stunden-Gutschein. „Das sagt natürlich keine Kita, dass sie einen deshalb nicht nehmen, weil das weniger einbringt. Die sagen nur, das Kind habe nicht in die Gruppe gepasst.“
Sogar von Bestechungen hat er schon gehört. „Da bieten Eltern Dienstleistungen und Sachspenden an und wie durch Zauberei ist ein Platz zu haben.“ Er weiß nicht, ob diese Geschichten stimmen. „Aber in der Atmosphäre, die bei der Kitaplatzsuche herrscht, neige ich dazu, sie zu glauben.“
Alex Jones gibt derweil als Vollzeitvater sein Bestes. Aber er sorgt sich, dass das nicht genug ist. „Ich bin doch kein Profi in Sachen Kleinkind-Pädagogik.“ Bei der Geburt seines Sohnes glaubte er noch, dass der einen Vorteil anderen Kindern gegenüber haben würde – weil er dreisprachig aufwächst. Inzwischen fürchtet er große Nachteile für ihn. Jones und seine Frau sprechen nicht gut genug Deutsch, dass sie ihrem Kind die Sprache beibringen könnten. Er wünscht sich, dass Tom in die Deutsche Kultur eintaucht, endlich lernt, auf Gleichaltrige zu reagieren. „Am Ende wird er noch als Problemkind eingestuft.“
Im Internet hat Alex Jones eine Menge Anbieter gefunden, die aus seiner Notsituation ein Geschäft machen und ihm die Suche abnehmen wollen. Einen hat er tatsächlich kontaktiert. 500 Euro wollte der als Anzahlung haben, ohne Erfolgsgarantie.
Gekämpft wird mit allen Mitteln – auch seitens des Senats. Vor ein paar Tagen hat Bildungssenatorin Scheeres bei einer Jobmesse für pädagogische Fachkräfte dafür geworben, in einer der Berliner Kitas zu arbeiten. Und dazu 1000 Pfannkuchen an die potenziellen Erzieher verteilt.