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Bereits 2017 liefen in Spandau Neonazis auf, um des 30. Todestages von Rudolf Heß zu gedenken.
© Paul Zinken/dpa
Exklusiv

Verdächtige für Neuköllner Anschlagsserie: Streit um Anklage schmälert Ermittlungserfolg gegen Neonazis

Ermittler haben die Hauptverdächtigen der Anschlagsserie von Neukölln bei Schmierereien beobachtet. Das ist ein Teilerfolg. Doch in der Justiz gibt es Ärger.

Die rechten Anschläge gegen Nazigegner in Berlin-Neukölln beunruhigen die Stadt schon seit Jahren, doch die Täter sind offenbar nicht zu fassen. Gerade erst ist ein Bericht der Soko „Fokus“ erschienen, da ist von 72 Straftaten die Rede, darunter 23 Brandstiftungen.

Nun können Polizei und Staatsanwaltschaft nach Informationen des Tagesspiegels bei den Ermittlungen einen Teilerfolg vorweisen, der bislang nicht bekannt war. Der jetzt allerdings in Gefahr gerät, geschmälert zu werden - durch einen Dissens in der Justiz.

Die Berliner Staatsanwaltschaft hat im November 2019 gegen die zwei möglichen Haupttäter der Anschlagsserie, die Rechtsextremisten Sebastian T. und Tilo P., Anklage erhoben. Nicht wegen der Brandstiftungen, die sind bekanntlich bislang nicht nachzuweisen, aber immerhin wegen Sachbeschädigung und der Verwendung von Nazisymbolen.

Es geht um insgesamt 14 Fälle. Die Polizei hatte im August 2017 während einer monatelangen Observation von Sebastian T. und Tilo P. mitbekommen, dass die beiden in Neukölln an Gebäude Parolen sprühten, um Rudolf Heß zu verklären, den einstigen Stellvertreter Adolf Hitlers in der NSDAP.

Die Neonazis verunzierten mit Sprüchen wie „MORD AN HESS!!!“ unter anderem das Einkaufszentrum Gropiusstadt, einen Eingang des U-Bahnhofs Zwickauer Damm, einen Reiterhof und einen Dachdeckerbetrieb.

Der frühere NPD-Politiker Sebastian T. und der Ex-AfD-Bezirkspolitiker Tilo P. schreckten auch nicht davor zurück, eine Kindertagesstätte in der Groß-Ziethener Chaussee zu beschmieren. Sie brachten zudem  Aufkleber an, auch mit Werbung für NPD und AfD. Die Polizei ist sicher, T. und P. eindeutig als Täter identifiziert zu haben. 

Die Buchstaben S in "Hess" gesprüht wie das Symbol der SS

Das Amtsgericht Tiergarten hat allerdings im Januar nur drei der 14 Anklagepunkte für einen Prozess zugelassen. Das betrifft die drei Schmierereien, in denen Sebastian T. und Tilo P. die beiden „S“ in „Hess“ als doppelte Sigrune sprühten, dem Symbol der einst für Auschwitz und die weiteren Konzentrationslager zuständigen Nazi-Organisation SS.

Bei den elf weiteren angeklagten Delikten lehnte das Amtsgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Im Beschluss des Gerichts steht, die Observation sei im Rahmen eines anderen Verfahrens erfolgt, wegen der Fälle politisch motivierter Brandstiftung in Neukölln.

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Die beobachteten Schmierereien seien „Zufallsfunde“. Solche Delikte seien nur verwertbar bei Straftaten „von erheblicher Bedeutung“. Das müssten Delikte sein, die „mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität“ zuzurechnen sind, die den Rechtsfrieden empfindlich stören und geeignet seien, „das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen“.

Das sieht das Amtsgericht lediglich in den drei Fällen, in denen es um Sachbeschädigung und auch die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen geht. Sachbeschädigung alleine reicht dem Gericht nicht, da sie nur mit maximal zwei Jahren Haft bestraft wird.

Bei SS-Symbolen sind hingegen bis zu drei Jahre fällig. Das Amtsgericht beruft sich auf die Rechtsprechung des Kammergerichts und des Bundesgerichtshofs in anderen, allerdings unpolitischen Fällen. Die Staatsanwaltschaft will das nicht hinnehmen.

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„Bei den vielen Anschlägen in Neukölln ist jede rechtsextreme Tat geeignet, die Bevölkerung noch mehr zu verunsichern“, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner. Auch bei einer auffällig gesprühten Rudolf-Heß-Parole „nimmt die Angst vor rechten Angriffen weiter zu“.

Steltner warnt, in Neukölln verliere die Bevölkerung das Vertrauen in den Rechtsstaat. Erst recht, wenn die Polizei endlich einige Taten aufklären konnte, aber die meisten dann doch nicht bestraft würden, weil es Zufallsfunde bei einer Observation waren.

Am 01.02.2018 brennt das Auto von Linken-Politiker Ferat Kocak in Berlin-Neukölln.
Am 01.02.2018 brennt das Auto von Linken-Politiker Ferat Kocak in Berlin-Neukölln.
© Ferat Kocak/Die Linke Berlin/dpa

Das Amtsgericht, sagt Steltner, „hätte die Anklage nach unserer Auffassung mit allen 14 Punkten zulassen können“. Nach dem Beschluss habe die Staatsanwaltschaft eine Beschwerde an das Landgericht als nächst höhere Instanz geschickt. Dass die Glorifizierung eines Nazi-Verbrechers wie Rudolf Heß in mehreren Fällen straflos bleiben solle, sei nicht akzeptabel.

Heß ist für die Neonazis eine Kultfigur

Käme es so, wäre die Häme der rechten Szene gewiss. Für sie ist Rudolf Heß eine Kultfigur. Neonazis verehren ihn als vermeintlichen „Friedensflieger“ und behaupten, er sei 1987 im damaligen Kriegsverbrechergefängnis Spandau ermordet worden.

Heß war 1941 offenbar eigenmächtig nach Großbritannien geflogen, um einen Frieden im Sinne des NS-Regimes zu erreichen. Im Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg wurde Heß 1946 zu lebenslanger Haft verurteilt. Am 17. August 1987 erhängte er sich in einer Gartenlaube auf dem Gelände des Gefängnisses in Spandau.

Heß war bis zuletzt überzeugter Nazi. Das macht ihn in der rechten Szene populär. Jedes Jahr im August veranstalten Neonazis in Deutschland Aufmärsche, um Heß zu glorifizieren. Schmierereien vor und nach den Demonstrationen sind eine übliche Begleiterscheinung.

800 Neonazis beim Heß-Aufmarsch in Berlin

So war es auch im August 2017 in Berlin. Sebastian T. und Tilo P. wollten offenbar mit den in der Nacht vor dem Aufmarsch am 19. August gesprühten Heß-Parolen die Stimmung anheizen.

Zur Demonstration in Spandau anlässlich des 30. Todestages von Heß kamen mehr als 800 Rechtsextremisten. An der Spitze des Aufzugs zeigten Neonazis ein Transparent mit dem Heß-Zitat „Ich bereue nichts“.

Ob es nun zu einem Prozess gegen Sebastian T. und Tilo P. wegen 14 oder nur drei Straftaten kommt, bleibt zunächst offen. Man könne den Fall „so oder so sehen“, sagt die für den Bereich des Strafrechts zuständige Sprecherin der Berliner Gerichte, Lisa Jani.

„Deshalb sieht das Gesetz einen Beschwerdeweg vor“, sagt die Gerichtssprecherin. Jani betont, über Beschwerden werde „relativ schnell entschieden“. Vermutlich werde das Landgericht bis Ostern mitteilen, ob es die Anklage komplett zulässt - oder nur so, wie es das Amtsgericht beschlossen hat. Von den Verteidigern der beiden Rechtsextremisten war keine Stellungnahme zu bekommen. 

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