Interview mit Innensenator Geisel: „Wir werden nicht warten, dass aus Brandanschlägen Morde werden“
Taten wie die rechtsextremen Anschläge in Neukölln wurden lange unterschätzt, sagt der Innensenator. Und erklärt, was die Serie mit dem Lübcke-Mord verbindet.
Herr Geisel, die Bilanz der Regierung über rechtsextreme Straftaten im ersten Halbjahr ist erschütternd. Neonazis verübten 8605 Straftaten, darunter 363 Gewaltdelikte. Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2018 ist das eine Zunahme von mehr als 900 rechten Delikten. Woran liegt das Ihrer Meinung?
Das Klima hat sich verändert. Wir beobachten eine sogenannte Entgrenzung des Rechtsextremismus. Meinungen, die noch vor einigen Jahren tabuisiert waren und im öffentlichen Diskurs nicht vorkamen, rücken immer mehr und immer lauter in die Mitte der Gesellschaft. Es beginnt mit Worten und endet mit Taten.
Besonders in Neukölln ist eine neue Anschlagsserie zu verzeichnen. Die erste war zwischen 2009 und 2012. Die mobile Beratung gegen Rechtsextremismus und das Bezirksamt zählten seit 2016 mehr als 50 rechtsmotivierte Angriffe wie Brandstiftungen, Morddrohungen, Wandschmierereien. Aber aufgeklärt ist bisher noch kein einziger Fall. Können Sie sich das erklären?
Als eine der ersten Maßnahmen nach meiner Amtsübernahme habe ich die Ermittlungsgruppe Resin beim Landeskriminalamt gegründet und die Operativgruppe Rex bei der örtlichen Polizeidienststelle wieder eingesetzt...
Diese Gruppe wurde unter ihrem Vorgänger Frank Henkel von der CDU abgezogen ...
Ja. Ich stelle bei den Polizisten vor Ort, zum Beispiel in der Hufeisensiedlung, eine hohe Motivation fest. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Beamten sich nicht mit dem Thema befassen, wie es ihnen vorgeworfen wird. Es gibt durchaus Ergebnisse. Wir haben Verdachtsmomente, es gab Durchsuchungen. Aber die Beweislage hat richterlich nicht ausgereicht. Wir kennen die handelnden Personen. Die Frage ist, ob es noch mehr gibt und wer die Taten ausgeführt hat. Und es wurmt mich total, dass wir da noch nicht weitergekommen sind. Denn diese rechte Anschlagsserie soll genau die Menschen einschüchtern, die sich für die Zivilgesellschaft und für unsere Demokratie engagieren.
Sie sagten im März im Parlament, dass es sich um Anschläge handelt, die als Terrorismus eingeschätzt werden können. Sie wollten sich an den Generalbundesanwalt wenden. Was ist seitdem passiert?
Der Generalbundesanwalt war der Auffassung, dass die Taten noch nicht schwer genug seien, um sie als Terrorismus einzustufen. Ich glaube, dass sich die Situation verändert hat. Vor dem Hintergrund des Mordes an Regierungspräsident Lübcke werde ich mich erneut an den Generalbundesanwalt wenden und darlegen, dass genau diese Taten wie in Neukölln in den vergangenen Jahren unterschätzt wurden. Wir werden nicht warten, dass aus Brandanschlägen Morde werden.
Der Brandanschlag auf das Auto des Linken-Politikers Ferat Kocak im Februar 2018 war nicht der einzige. Die Brände hätten auf Wohnhäuser überspringen können. Obwohl der Verfassungsschutz die mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge observiert hatte, soll es wieder einmal eine Informationspanne zwischen Verfassungsschutz und Polizei gegeben haben. Hätte man den Anschlag verhindern können?
Ich würde es nicht Panne nennen. Die vorliegenden Informationen wurden vom Verfassungsschutz an die Polizei übergeben. Aber zuerst mit einer Vertraulichkeitseinstufung, sodass sie für die LKA-Beamten nicht unmittelbar verwendbar waren. Ich habe das per Weisung geändert. Der Schutz von Menschenleben steht über dem Schutz der Information. Der Verfassungsschutz arbeitet nachrichtendienstlich und muss seine Quellen schützen. Dafür habe ich Verständnis. Aber wenn es um Taten geht, in denen Menschen zu Schaden kommen können, ist die Unversehrtheit des Lebens höher einzustufen.
Aber hätte der Anschlag verhindert werden können?
Das haben wir untersucht. Die vorliegenden Informationen enthielten keine Hinweise auf einen geplanten Anschlag. Auch keine direkten Hinweise darauf, wem der Anschlag hätte gelten sollen.
Sie haben im Mai eine 30-köpfige Sondereinheit, eine „besondere Aufbauorganisation“ eingerichtet. Was macht die Ermittlergruppe Fokus?
Sie überprüft die Fälle aus der Vergangenheit, aus den letzten zehn Jahren, und soll mögliche Verbindungen zu aktuellen Fällen untersuchen. Die Frage ist, ob in der Vergangenheit irgendwo ein Beweis nicht in das vorhandene Puzzle eingefügt wurde. Gibt es lose Enden von unterschiedlichen Fällen, die verknüpft werden können?
Betrifft das auch den Mord an Burak Bektas im April 2012? Der 22-jährige Berliner wurde auf offener Straße in Neukölln erschossen.
Die Sondereinheit überprüft auch diesen Fall. Das ist eine schwierige kriminalistische Untersuchung. Ich verstehe natürlich die Betroffenheit der Angehörigen. Aber die Vermutung, dass es in der Polizei Kräfte gibt, die mit den Tätern zusammenarbeiten, kann ich nicht bestätigen. Das haben wir schon geprüft.
Die Anschläge in Neukölln treffen Politiker und Privatpersonen. Allen ist gemein, dass sie sich gegen rechts engagieren. Viele dieser Bürger haben ihr Vertrauen in die Polizei verloren und demonstrieren regelmäßig vor dem LKA. Auf den Schildern sieht man Sätze wie „Arbeiten LKA und Nazis zusammen?“ Warum geht die Polizei oder die Politik nicht auf die Bürger zu?
Das tun wir. Die Polizeipräsidentin und der Vize-Präsident waren vor Ort bei den Demonstranten. Ich habe einige der Opfer in die Innenverwaltung eingeladen und mich mit ihnen getroffen. Wir haben intensiv miteinander gesprochen. Ich verstehe die besondere psychische Belastungssituation, seit Jahren Ziel von Anschlägen zu sein. Aber daraus den Umkehrschluss zu ziehen, dass es eine Zusammenarbeit zwischen LKA und Neonazis gibt, geht zu weit.
Polizeipräsidentin Slowik sagte, dass es Einzelfälle von Beamten gebe, die für rechte Straftaten verantwortlich sind. Um wie viele geht es da?
Die mir bekannten Fälle können Sie an einer Hand abzählen. Natürlich suchen wir nach Verbindungen, es gibt interne Befragungen. Wir kennen die Fälle aus Hessen, wo es mutmaßlich rechte Netzwerke bei der Polizei gegeben hat. Diese Netzwerke konnten wir in Berlin bisher nicht feststellen. Das ist der aktuelle Kenntnisstand.
Die Linke will einen Untersuchungsausschuss, um Versäumnisse bei den Ermittlungen zum Nazi-Terror in Neukölln zu überprüfen. Was halten Sie davon?
Ich verstehe die Betroffenheit der Opfer, die einen Untersuchungsausschuss fordern. Aber als jemand, der für die laufenden Ermittlungen politisch verantwortlich ist, halte ich einen Untersuchungsausschuss für kontraproduktiv. Ein Untersuchungsausschuss kann immer nur rückblickend aufarbeiten, was in der Vergangenheit möglicherweise schiefgelaufen ist. Wir sind aber noch mitten in den Ermittlungen. Hinzu kommt der personelle Aufwand bei der Polizei. Beim Amri-Untersuchungsausschuss zum Beispiel sind mit der Aufarbeitung der Akten 40 Polizisten beschäftigt. Sollte es einen weiteren Untersuchungsausschuss geben, müssten noch mehr Beamte dafür abgestellt werden. Ich brauche diese Beamten aber für die tägliche Arbeit, wir sind mitten in den Ermittlungen. Ich habe selbstverständlich den Ehrgeiz, die Täter der rechten Anschläge zu stellen.