30 Jahre Mauerfall: So feiert Berlin das Jubiläum
Schlafende Rockstars, geschichtsversessene Passanten und feiernde Touris – normal war dieser 9. November nicht. Impressionen des Tages
Es gibt so Zufälle, die wirken wie bestellt. Zum Beispiel die Sache mit Udo: Da lief doch am Mittwoch, mitten in der Mauerfall-Festwoche, in der Astor Film Lounge die Pressevorführung des Biopic „Lindenberg! Mach dein Ding“. In einer frühen Szene sieht man den kleinen Udo – er dürfte um die acht Jahre alt sein – in einer Kinovorstellung des Hollywoodfilms „Die Glenn Miller Story“ mit James Stewart.
Und was spielt die Swingband da gerade, während der Junge begeistert mitwippt? „Chattanooga Choo Choo“, das Original zu Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“.
Rockstars schlafen noch am Morgen
Nein, kein Udo in der U2 an diesem 9. November, zu einer Stunde, da Rockstars gemeinhin noch schlafen. In den ersten Waggons hätte er ja auch kaum noch Platz, und gerade dort spielt heute die Musik, jedenfalls im übertragenen Sinne: Sonderfahrt der BVG zwischen Pankow und Ruhleben, zweimal hin, einmal zurück, vornedrin das rollende Redaktionsbüro von Tagesspiegel und „Berliner Zeitung“.
Also Zeitzeugengespräche an verschiedenen Stationen, Erinnerungsaustausch, von einer leider nicht sehr durchsetzungsfähigen Tonanlage in die Menge der Fahrgäste übertragen. Und die ist gerade in den vorderen Wagen groß, so wird schon in der Station Mendelssohn-Bartholdy-Park per Lautsprecher gewarnt und das Einsteigen hinten empfohlen.
Denn viele, sehr viele haben sich extra zwecks Ost-West-Reise in den Sonderzug begeben, so auch der seine Stadt an diesem Tag der Tage noch einmal auf Geschichtstour durchquerende Lothar Stoffers, der leider – vor 30 Jahren machte er gerade Urlaub auf Mallorca – nicht mit eigenen Mauerfallerfahrungen aufwarten kann. Obwohl, eigentlich doch: Denn als die Nachrichten aus Deutschland abends über die TV-Bildschirme liefen, hätten die Spanier Beifall geklatscht.
Dazu, findet er noch immer, sei ja auch aller Grund gewesen, das jetzt um sich greifende Genöle und Gemeckere über Ost-West kann er jedenfalls nicht verstehen.
Ein Tag, den man so oder so feiert
Auch drei junge Belgier, zwei Frauen, ein Mann, er in Hamburg lebend, sie in Berlin und übrigens beide 1989 geboren, sind eigens in diesen Zug gestiegen, schon in Pankow, ihre persönliche Jubiläumstour. Auch für sie eben kein Tag wie jeder andere, sondern einer, den man so oder so feiert. Abends zum Brandenburger Tor? Die Drei schütteln den Kopf: „Zu viel Gedränge.“
Doch es gibt viele Orte in der Stadt, heute der Geschehnisse vor 30 Jahren zu gedenken, sich zu informieren, auch den Emotionen von damals nachzuspüren, wenngleich das mit zunehmendem zeitlichen Abstand schwieriger wird. Nicht immer liegen diese Orte in der Nähe der alten Mauer. Der Breitscheidplatz war noch am 8. November 1989 Welten von Ost-Berlin entfernt, doch einen Tag später für unzählige Grenzgänger mit dem Kurfürstendamm der wichtigste Anlaufpunkt, das Ziel der „Sehnsüchte & Hoffnungen“, wie das Kurzfilmprogramm im Jubiläumspavillon neben der Gedächtniskirche heißt.
Ein indirekter Beitrag zum Mauerfall-Gedenken
Der kleine Raum ist jetzt, gegen Mittag, bis auf den letzten Platz besetzt, das heißt, ein Platz wird gerade frei, als ein älterer Herr hörbar entrüstet über den „Quatsch“ auf der Leinwand den Raum verlässt. Nun ja, der gezeigte Film erschließt sich nicht sofort, ein Kameramann hat einen Langzeitarbeitslosen bei einer Umschulung begleitet, doch hat man nicht den Eindruck, dass sie sehr effektiv war.
Ein mehr indirekter Beitrag zum Mauerfall-Gedenken, Reflexionen über die sozialen Folgen der Wende, wenn man so will.
An der Bornholmer Straße wimmelt es von geschichtsversessenen Passanten
Also weiter zu einem Ort, an dem der Bezug zum 9. November 1989 offensichtlicher, ja nicht zu übersehen ist. Hin zur Bornholmer Straße, zur Bösebrücke, an der es vor 30 Jahren, Punkt 23.30 Uhr, hieß: „Wir fluten jetzt!“ Die S-Bahn hat sich dankenswerterweise auf das hier vorherrschende Hauptinteresse der den Zug verlassenden Fahrgäste eingestellt und rät per Laufschrift, welchen Ausgang man am besten nutzen solle.
Nein, so viel wie heute ist hier sonst nicht los, und es laufen auch keine Kameraleute und Reporter übers Trottoir. Doch nun wimmelt es von geschichtsversessenen Passanten mit ebenso vielen Geschichten, die die Informationstafeln studieren, sich vor den wenigen Resten der Grenzanlagen fotografieren lassen oder auch ihrem Nachwuchs die Sache mit der Mauer zu erklären versuchen.
Weitere Texte zu 30 Jahre Mauerfall:
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So wie Bernd Altman-Kaufhold, der mit seinem achtjährigen Sohn Johannes zur Brücke gekommen ist, offenbar zur besseren Illustrationsmöglichkeit auch gleich sein iPad dabei hat. Heute arbeitet er im Bundesumweltministerium, damals war er knapp 20 Jahre alt und wohnte in Erfurt. Das Abitur hatte man ihm damals verweigert, da er nicht zur Jugendweihe und auch nicht zur paramilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik wollte.
Wenn alle nach Mallorca fahren, können wir ja nach Israel
Stattdessen war er in der katholischen Kirche engagiert, nahm auch an der Erfurter Variante der Montagsdemonstrationen teil, die dort in Thüringen donnerstags stattfanden, so auch am 9. November 1989. Nach der Demo, so erzählt er, mitgerissen von den Erinnerungen, habe seine Gruppe sich noch zusammengesetzt, dabei von der Maueröffnung gehört.
Das habe erstmal alle geschockt, voller Sorge auf das von ihnen befürchtete Chaos, das nun losbrechen werde. Bis jemand sich ermunterte und zu bedenken gab: „Wenn jetzt alle nach Mallorca und sonst wohin fahren, dann können wir ja nach Israel, ins Heilige Land.“ Das löste die Spannung, plötzlich war die Euphorie auch in der Erfurter Kirchengruppe ausgebrochen.
Die Reise nach Israel ließ dann doch noch auf sich warten, aber wenige Wochen nach der Maueröffnung habe der Pfarrer einen Bus gechartert und auch private Unterkünfte bei Göttingen organisirt. Den Moment, als er das Ortsschild der kurz vorher noch Welten entfernten niedersächsischen Universitätsstadt gesehen habe, vergesse er nie, schwärmt Bernd Altmann-Kaufhold, der später doch noch Abitur machen konnte.
Der Mauerfall – für ihn sei er perfekt gewesen. Geschichten über Geschichten also, die er seinem Sohn erzählen kann, der auch geduldig zuhört , jetzt aber doch wissen will, warum dort oben im Baum da ein Reifen hängt. Mit acht steckt die Welt eben noch voller Rätsel.
Normal ist dieser 9. November nicht
An der Gedenkstätte Berliner Mauer hat währenddessen die offizielle Jubiläumsfeier mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel stattgefunden. Die Absperrungen stehen noch, die eingesetzten Polizeikräfte, verteilt auf mehrere Dutzend Fahrzeuge, sortieren sich gerade zur Abfahrt , und der Besucherstrom beginnt sich zu normalisieren.
Das heißt, normal ist dieser 9. November durchaus nicht, die Gedenkstätte voller Menschen, TV-Teams aus Frankreich, Reisegruppen aus Spanien, dazwischen ein paar Mexikaner, die vor den Stahlstäben der stilisierten Mauer posieren. Eine Atmosphäre voller Neugier, echtem Interesse an der Geschichte, gemischt vielleicht noch immer mit etwas Sensationslust und Gruselbedürfnis, auch 30 Jahre danach.
Und dies, obohl der anhaltende Sprühregen längere Spaziergänge im Freien nicht gerade nahelegt. Und nur wenige der durch die Gedenkstätte spazierenden Besucher sind so gut gegen Feuchtigkeit gewappnet wie die soeben zum Rundgang startende Reisegruppe aus Norwegen, denen ihr Veranstalter „Aktive Fredsreiser – Travel for Peace“ eigens für die Berlinfahrt Regenjacken mit der Aufschrift „30 Jahre Mauerfall“ spendiert hat.
Filme am Alexanderplatz
Weiter zum Alexanderplatz, seit der Riesendemo vom 4. November 1989 einer der zentralen Stätten der Wende, deren Bilder nachts auf die Fassaden der umliegenden Häuser projiziert werden. Auch hier laufen Filme im Jubiläumspavillon, auch hier vor vollen Sitzreihen.
Doch während am Breitscheidplatz nach dem Eindruck einer Pavillonhostess an diesem Sonnabend weniger los ist als an den Tagen zuvor, vielleicht wegen der abends anstehenden Party am Brandenburger Tor, ist hier auf dem Alex größerer Andrang, aber das mag, so mutmaßt eine dort eingesetzte Helferin, am Wochenende liegen. Vielleicht auch am Bühnenprogramm, das es hier gibt, auch wenn musikalisch gerade nichts los ist. Aber bald schon wird Terra Brasilis trommeln, eine neunköpfige, der Ufa-Fabrik verbundenen Percussion-Truppe, verstärkt um 40 Jugendliche mit geistiger Behinderung, ein Inklusionsprojekt. Auch sie hat mit der Mauervergangenheit zu tun, sogar viel.
Wendeepisoden überall
Man muss eben heute nur irgendwen ansprechen, schon stößt man auf die nächste Wendeepisode, in diesem Fall erzählt von Manfred Spaniol und Sarah Ullrich. Ihre Trommeltruppe gab es schon vor 30 Jahren, unmittelbar nach dem Mauerfall waren sie drei Tage lang am Brandenburger Tor aufgetreten, oben auf der Mauer.
Und wenige Monate zuvor, im Rahmen des Friedensprojekts Mir-Karawane, waren sie als erste westliche Band auf dem Roten Platz in Moskau aufgetreten – wohl ein kleiner Baustein in Gorbatschows Perestroika-Politik, wie Manfred Spaniol vermutet.
Noch rasch zum Brandenburger Tor? Vielleicht am Abend. Aber für einen Abstecher ins Sony-Center ist noch Zeit. Der rbb empfängt dort gerade mit Musik, Ulli Zelle lässt die Grauen Zellen rocken, gibt den David Bowie, „Let’s Dance“. Schon ok, aber wie wär’s mit dem „Sonderzug nach Pankow“. Der übrigens im Lindenberg-Film nicht gespielt wird, der Film endet mit der „Andrea Doria“-Zeit. Aber sein Mädchen aus Ost-Berlin, das darf der Udo noch treffen.