„Mein ganz persönlicher Mauerfall“: Ein Sonderzug nach Pankow, der voller Geschichten steckt
Zwei Zeitungen, ein Zug, ein Ziel: Menschen ins Gespräch bringen. Es kamen viele – vom Wendebaby bis zur Lehrerin, die den Unterricht in den Osten verlegte.
Eine U-Bahn, voll mit Menschen - und voller Geschichten. Anlässlich des Wendejubiläums luden der Tagesspiegel und die „Berliner Zeitung“ zur gemeinsamen Fahrt im „Sonderzug (von und) nach Pankow“. Drei Stunden lang pendelte die dekorierte U-Bahn als rollende Redaktion zwischen Ruhleben und Pankow. Und die Mitfahrer kamen in großer Zahl – manchmal zufällig, meist aber ganz gezielt. Das waren jene, die mit Fahrplan in der Hand direkt in einen der vorderen Wagen einstiegen, die bald so voll waren, dass es in den Bahnhöfen Warndurchsagen gab. Drinnen erzählten viele Fahrgäste Geschichten aus Ost und West, ganz persönliche Mauerfall-Erinnerungen – teils kurios, teils bewegend.
Wir haben die schönsten Passagiergeschichten gesammelt
„Mein Herz ist in Berlin geblieben“
„Ich zelebriere hier heute meinen ganz persönlichen Mauerfall“, sagt Sybille Thomczyk unter Tränen. Sie ist in Berlin-Tempelhof aufgewachsen, aber nach ihrer Ausbildung nach Frankfurt am Main gezogen. Das war kurz vor dem Mauerfall.
Der Grund: Jobs in der IT („das hieß damals noch EDV“) habe es in Berlin zu dem Zeitpunkt kaum gegeben. Ihr Herz sei aber in der Stadt geblieben.
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Den Fall der Berliner Mauer hat sie vor dem Fernseher verfolgt. “Das war für mich schlimm", sagt sie, als sie sich daran erinnert, am Tag der Wende nicht in Berlin gewesen zu sein. Da sie gerade erst in der neuen Firma zu arbeiten begonnen hatte, konnte sie auch in der Zeit darauf nicht in ihre Heimatstadt fahren.
Noch immer wohnt sie in Frankfurt am Main. Um die vor 30 Jahren verpasste Gelegenheit nachzuholen, den Fall der Mauer zu feiern, ist sie nach Berlin gekommen. „Egal, was passiert, wir dürfen uns nie wieder auseinandertreiben lassen“, sagt sie noch.
„Mir ist es wichtig, dass mein Sohn die Geschichte seiner Stadt kennt“
Auch Lavinia Steiner fährt im Sonderzug mit - zusammen mit ihrem kleinen Sohn. So ganz versteht er noch nicht, was hier eigentlich los ist und wie das mit der Mauer war. Aber den Zug findet er schon mal super. „Mir ist es sehr wichtig, dass mein Sohn nicht in Berlin groß wird, ohne die Geschichte dieser Stadt zu kennen“, sagt Steiner.
Ihre Großmutter wohnte in Leipzig, auch wenn Steiner zu DDR-Zeiten noch ein Kind war, erinnert sie sich gut an die Besuche und die vielen Kontrollen an der innerdeutschen Grenze. Heute besucht sie mit ihrem Sohn oft die Bornholmer Straße, ein Ort, der wie kaum ein zweiter für die Wiedervereinigung stehe.
„Was wir Deutschen geschafft haben, ist ganz erstaunlich“
„Ich weiß jetzt schon, dass ich heute Abend betrunken sein werde“, sagt Jens Starke, „vor Freude. Aber Alkohol mag ich auch ganz gerne.“ Starke prostet mit seinem Piccolo in die Luft. „Ich finde es toll, wie Menschen zusammenkommen, ganz ohne Mauern und Grenzen.“ Geschlafen hat der in Ostberlin geborene Starke in letzter Zeit nicht viel, die ganzen guten Wende-Filme seien immer nachts gelaufen.
„Was wir Deutschen geschafft haben, ist ganz erstaunlich, ohne Tote, ohne Lynchjustiz, auch nach der Wende nicht.“
Ein Straßenbahnfahrer berichtet von seinem Mauerfall-Dienst
Eins der ersten Wendebabys
Sarah Nadler ist eines der ersten Wendebabys. Sie wurde am 11. November 1989 geboren und besucht heute mit ihren Eltern ihre Schwester in Berlin. „Wir haben im Krankenhaus die Bilder im Fernsehen gesehen, wie die Menschen über die Mauer kletterten“, erzählt ihr Vater, „das war schon ganz besonders“. Kurz nach der Wende dann hat die Familie die Mauer noch bemalt: In Lichtenberg schrieben sie alle ihre Namen auf den Beton.
Wende verpennt
Martina Wolff lebte Ende der 80er in der Chausseestraße in Mitte - ganz nah an der Grenze zu Westberlin. Sie hatte zwar im Radio von den aktuellen Ereignissen gehört, wie viele andere glaubte sie aber nicht, dass die Grenzen wirklich offen seien. Als sie abends aus dem Fenster guckte, schien dort nichts los zu sein. Überzeugt davon, dass nichts passiere, ging sie schlafen. „Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war alles zu mit Autos.“
Auf der Arbeit war niemand, alle waren drüben in Westberlin. Auch ihr Sohn, den sie in die Schule geschickt hatte, stand nach einer halben Stunde wieder auf der Matte: niemand da, weder Lehrer, noch Schüler. Am nächsten Tag fuhr dann auch sie über die ehemalige Grenze, um sich die andere Seite Berlins anzusehen.
Der Unterricht fiel auch in einer Schöneberger Grundschulklasse aus. „Deutsch und Mathe sind heute unwichtig“, erzählte eine Lehrerin, die 30 Jahre später ebenfalls im Sonderzug mitfuhr, ihren Schülern am Morgen des 10. November. „Wir erleben jetzt Weltgeschichte.“ Dann ging sie mit ihnen zur Friedrichstraße. Ganz ohne Kontrollen.