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Der Bundesvorsitzende der Jusos und Mitglied der BVV Tempelhof-Schöneberg für die SPD, Kevin Kühnert.
© Kitty Kleist-Heinrich

Kiezspaziergang durch Lichtenrade mit Kevin Kühnert: „Sie waren froh, als jemand Junges kam“

Wegen der GroKo kennt plötzlich ganz Deutschland Kevin Kühnert. In Lichtenrade kennt man den Juso-Vorsitzenden schon lange. Hier hat er viel bewirkt – und noch viel vor.

Er trägt Jeans und eine schwarze Sportjacke mit Reißverschluss, hinter sich zieht er einen Rollkoffer. Ein paar Wochen ist es her, dass wir uns zum Spaziergang verabredet haben. Mitten in der Tour durch Deutschland gegen die große Koalition ist Kevin Kühnert nach einem Abstecher zum Willy-Brandt-Haus für einen Spaziergang in seine Heimat gekommen, nach Lichtenrade. Das ist der südlichste Zipfel von Tempelhof-Schöneberg, dort, wo Berlin auf Brandenburg trifft und Hoch- auf Einfamilienhaus. Noch weiß Kühnert nicht, dass sich die SPD bald für die Groko entscheiden wird.

Hier ist er aufgewachsen, mit 28 Jahren derzeit bekanntester Jungsozialist der Bundesrepublik. Mit Rollkoffer spaziert es sich schlecht, also biegen wir am S-Bahnhof Lichtenrade ab und laufen an der Alten Mälzerei vorbei zu Kühnerts Elternhaus, den Koffer abgeben.

Das schlichte Einfamilienhaus mit Eisentor steht genau an der Grenze zwischen bürgerlicher Idylle und Platte. Seine Eltern sind beide Beamte, die Mutter beim Arbeits-, der Vater beim Bezirksamt. Daher könnte eine gewisse Affinität für die Bezirkspolitik kommen. Aber Kevin Kühnert ist das erste Parteimitglied in der Familie.

„Meine Eltern würde ich eher als Wechselwähler bezeichnen“, sagt Kühnert. Sein Engagement steckte an – sein Opa trat der SPD bei, nachdem Kühnert ihm „unkommentiert Beitrittsunterlagen zuschickte“. Am vergangenen Wochenende half er, die Stimmen auszuzählen.

Vom Schülersprecher zum Bezirksverordneten

Kühnert wohnt mittlerweile in Schöneberg, zentraler. „Mit 28 muss ich nicht in Lichtenrade wohnen“, sagt er. Tempelhof-Schöneberg bleibt er jedoch treu, seit 2016 ist er als Bezirksverordneter im Rathaus. Die Politik begann für Kühnert aber im Nachbarbezirk Steglitz-Zehlendorf, wo er bis zum 12. Lebensjahr wohnte. Mit 14 wurde er zum Schülersprecher an seinem Lankwitzer Gymnasium gewählt.

Kühnert und seine Kumpels vom Bezirksschülerrat engagierten sich für ein Kinder-Jugend-Büro in Steglitz-Zehlendorf. „Es war uns damals ein Ärgernis, dass wir keine Mitsprache hatten.“ Die Unterstützung der SPD beeindruckte den Jugendlichen, er fühlte sich ernst genommen.

Nach einem Schülerpraktikum beim Ortsverein entschied er sich, in die Partei einzutreten. 2005 war das, kurz vor der Abwahl Schröders. „Viele Leute treten in schlechten Zeiten in die Partei ein“, sagt Kühnert – so wie heute wieder. Warum er sich für die SPD entschied? „Ich wollte in eine Partei eintreten, die mitregieren möchte“, sagt er, der die letzten Wochen quer durch die Republik reiste, um genau das dieses Mal zu verhindern.

Die Glasfront des SPD-Büros soll Transparenz signalisieren

Vom Haus der Eltern laufen wir an Einfamilien- und Reihenhäusern vorbei. Es sind zehn Minuten bis zur John-Locke-Straße, wo das Büro der SPD-Parlamentarierin Melanie Kühnemann ist, für die er im Abgeordnetenhaus arbeitet. Das Büro ist an einem kahlen, betonierten Platz, daneben ein Supermarkt, Norma.

Dass Kühnemann ihr Büro im September 2016 hier, mitten in der Hochhaussiedlung, eröffnete, hat zwar finanzielle Gründe – die Mieten an der zentralen Bahnhofstraße sind zu hoch – aber auch soziale: „Hier ist die politische Unterstützung notwendiger“, sagt Kühnert und betrachtet die gläserne Front. Die soll Transparenz signalisieren: Wir helfen jedem mit seinem Anliegen.

Doch in der Silvesternacht hat jemand das Büro attackiert, vermutlich mit einem Böller. Noch immer werden Zeugen gesucht. „Wir wissen noch immer nicht, wer hinter dem Anschlag steckt“, sagt Kühnert. In der Nachbarschaft fühlten sie keine Feindseligkeit. Nur manche wunderten sich, dass das Büro noch immer da ist, die Bundestagswahl sei schließlich vorbei.

Manchmal auf Zuständigkeiten pfeiffen

Viele wenden sich mit ihren Problemen direkt an die Abgeordnete, sagt Kühnert, „wenn die Tochter Schimmel in der Wohnung hat oder wir ihnen erklären sollen, wie Briefwahl funktioniert“. Dann ist es egal, ob Kühnemann dafür zuständig ist oder nicht. Das Rathaus Schöneberg, wo die bezirklichen Entscheidungen getroffen werden, ist für die Menschen sehr weit weg. Da müsse man manchmal auf Zuständigkeiten pfeifen und Sachen selber erledigen.

Kühnert geht die gewohnten Wege ab, weiter zum Gemeinschaftszentrum am Lichtenrader Damm. Ein etwas verfallener brauner Klotz aus den Neunzigern, links der Eingang zum Jugendclub, rechts das Seniorenzentrum. Hier tagt einmal im Monat der SPD Ortsverein Lichtenrade-Marienfelde. „Sie waren froh, als jemand Junges kam und dann auch noch kleben blieb“, sagt Kühnert.

Er ist es gewohnt, in der Partei der Jüngste zu sein. Der Jugendclub war dagegen nie seins: „Mein soziales Netzwerk ist der Sportverein.“ Beim VfL Lichtenrade spielte er lange Handball, schon der Vater war Trainer einer Mannschaft.

Wir laufen weiter zur alten Dorfkirche von Lichtenrade: Ein zugefrorener Weiher, auf dem Enten watscheln, hinten die Handwerkerhäuser aus Backstein – deutsche Idylle. Kühnert kommt hier nicht unbedingt zum „Chillen“ her, aber er preist die „unglaubliche Atmosphäre“ des Weinfestes an, im Sommer kommen dafür Leute aus der ganzen Umgebung nach Lichtenrade.

Das Dörfliche mag er, nennt sich selber einen „Stadtrandmenschen“. In manchen Bezirken, in Mitte oder Kreuzberg, könne er sich gar nicht vorstellen zu leben, sagt er, das sei ihm zu hektisch. Doch er merkt auch an, dass es schwieriger ist, Neuerungen durchzusetzen, in einem Ortsteil der so „strukturell konservativ“ ist wie Lichtenrade.

Aber auch dieser Ort verändert sich: „Früher zogen hier Menschen hin, die sich ihr Häuschen im Grünen kaufen wollten und dabei das Berlinerische behalten wollten“, sagt Kühnert. Jetzt kommen wohl mehr und mehr Leute, die sich nicht unbedingt gewünscht haben, nach Lichtenrade zu ziehen. Doch sie müssen, weil die Mieten weiter im Zentrum zu teuer werden. „Trotzdem finden sie hier vieles, das schön ist.“

Kühnert repräsentiert Lichtenrade in der Bundesrepublik

Die Themen, die die Lichtenrader beschäftigen, rollen Kühnert von der Zunge, während wir wieder auf die Bahnhofstraße biegen: Die Flugtrasse vom BER, der Jugendarrest am Kirchhainer Damm, die Dresdner Bahn. Besonders Letzteres wäre eines, über das man sich gut aufregen könnte: Grünflächen müssen weg, da kommt eine Riesen-Lärmschutzmauer hin und am Ende bekommen die Lichtenrader vielleicht in zehn Jahren einen eigenen Regionalbahnhof. Dann sind sie ganz schnell in Dresden – wenn sie denn dort hinwollen.

Umso mehr freuen sie sich, dass Kevin Kühnert sie nun endlich in der Bundespolitik repräsentiert. Zumindest fühlt es sich so an, wenn auf allen Kanälen sein Gesicht zu sehen ist. „In der WhatsApp-Gruppe der Frauen-Handballmannschaft kursierte wohl letztens ein Video: Mensch, der Kevin war schon wieder im Fernsehen.“

Lichtenrade ist eben ein Dorf. „Irgendwann ist man jedem begegnet“, meint Kühnert. Und dann passiert eine Szene, die kein PR-Profi besser hätte arrangieren können. Auf der Bahnhofstraße begegnet uns ein junger, hochgewachsener Typ, die Baseballkappe schräg im Gesicht: „Ey, konntest du gestern nicht kommen? Schade, Mann. Nächstes Mal?“, ruft er Kühnert zu, es geht um ein Fußballspiel von Tennis Borussia.

Kühnert ist großer Fan des Oberligisten. „Ja, die nächsten paar Wochen wird’s echt nichts, da bin ich total verplant“, sagt Kühnert und scheint das ernsthaft zu bedauern. „Na ja, ich find’s gut, was du machst! Mach’s gut, Großer!“ Der Baseballkappen-Träger geht weiter in Richtung Kirchhainer Damm, ein anderer Passant schiebt seinen Kinderwagen an uns vorbei und ruft: „Ja, ich auch!“

Er hat etwas im Kiez verändert

Vielleicht hat er das ja wirklich alles organisiert. Doch nach wenigen Schritten in seinem Kiez ist klar: Er hat hier etwas verändert, auch wenn aus der NoGroko nichts wurde, wie ein paar Tage später klar sein wird. Nur ein Drittel der Genossen stimmte mit Kühnert. Frustriert wirkt er nicht, als er am Montag nach dem Mitgliederentscheid wieder in der Versammlung der Bezirksverordneten im Rathaus Schöneberg sitzt, vor ihm sein Laptop und eine Flasche Club Mate.

Entspannt sieht er aus, endlich wieder die gewohnte Basisarbeit, eine „schöne Abwechslung“, dass es mal wieder „nicht ums große Ganze geht“. Aber etwas hat sich doch verändert: Vor dem Rathaussaal halten ihn zwei Besucher an und freuen sich, mit dem berühmten Kühnert zu sprechen. Natürlich wird ein Selfie gemacht.

Und für noch etwas ist aus seiner Sicht wohl der richtige Zeitpunkt gekommen: Er hat seine Homosexualität öffentlich gemacht, per Interview mit dem Berliner Queer-Magazin Siegessäule. Es war ein anderer Lichtenrader, Klaus Wowereit, der einst sagte: „Ich bin schwul – und das ist auch gut so.“ Einen Meilenstein für sich selbst nennt Kühnert das.

Kein Urlaub nach dem Groko-Stress? Nein, erst an Ostern, sagt er. Es gibt weiterhin genug für ihn zu tun im Bezirk mit den 350.000 Einwohnern. Als Nächstes will Kühnert die Schulen besuchen und sich selbst ein Bild von der Situation machen. Hier im Rathaus Schöneberg regiert die Partei als stärkste Fraktion mit. Sieben von 15 Verordneten sind unter 35. „Wenn die Bundestagsfraktion so aussähe“, sagt er lachend. Er arbeitet daran.

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