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Überzeugungstäter. Kevin Kühnert ist so gefragt wie nie. Ein Privatleben habe er derzeit „nur nachts“.
© Emmanuele Contini/Imago/Zuma Press

Kevin Kühnert: Nie zuvor hatte ein Juso-Chef so viel Macht

Zuschauer mit Tränen in den Augen, Schlachtrufe, Jubel – Kevin Kühnert tourt durchs Land, um eine große Koalition zu verhindern. Der Vorsitzende der Jusos bürdet sich eine große Verantwortung auf.

In Darmstadt angekommen, muss Kevin Kühnert vor seinem Auftritt noch schnell eine rauchen. Einer der Jungsozialisten, der am Sonntagabend wartend vor der Seniorenbegegnungsstätte steht, begrüßt ihn mit Umarmung. Er hat Kühnerts Auftritt am Nachmittag im 50 Kilometer entfernten Oberursel gesehen. „Haste vorhin richtig gut gemacht, Digger. Vor allem deine Erwiderungen haben gesessen.“ – „War eine der kontroversesten Diskussionen bisher“, antwortet Kühnert, zertritt die Zigarette und muss auch schon rein.

Oberursel, vorhin, die Stadthalle war bis auf den letzten Platz besetzt, da saß eine grauhaarige Frau in der vorletzten Reihe, die sagte: Diesen Kevin Kühnert, den würde sie sich ja gerne mal vorknöpfen. Er blöke herum wie ein Marktschreier und habe doch keine Ahnung. Keine Vorstellung davon, was eine Partei ausmache. „Der Kühnert ist schlecht für die SPD“, sagte sie. Auch ihre Nachbarin schüttelte missbilligend den Kopf.

„Digger“ oder „Marktschreier“, Applaus oder Argwohn – das sind die Pole, zwischen denen der Juso-Vorsitzende Kühnert in diesen Tagen unterwegs ist, auf seiner NoGroko-Tour genannten Überzeugungsreise quer durch das Land. Im Taunusstädtchen Oberursel ruft er: „Ein Nein zur Groko ist ein Ja zu einem Politikwechsel!“ und „Wir können doch nicht immer wieder gegen dieselbe Mauer laufen!“

Sie haben eine Welle ausgelöst

Seit jeher waren die Jusos aufmüpfig, doch jetzt bringen sie die Parteispitze zum ersten Mal wirklich in Bedrängnis. Sie haben eine Welle ausgelöst. Beim Sonderparteitag in Bonn waren es 43 Prozent der Delegierten, die gegen Koalitionsgespräche mit der Union stimmten. Seit Anfang Januar sind mehr als 24 000 Neumitglieder in die SPD eingetreten. Und Kühnert, dieser oft wegen seines Alters belächelte junge Mann, hat plötzlich Macht.

Der 28-Jährige ist vom frisch gewählten und nahezu unbekannten Chef der Jungsozialisten in der SPD zum wichtigsten Gegner der Parteispitze geworden. In den Medien wird er mal als „Groko-Killer“ betitelt, mal als „Milchgesicht, das Merkel stürzen will“. Fast täglich ist er im Fernsehen, er kann gar nicht so viele Interviews geben, wie angefragt werden. Auch hier in Oberursel sind sie leicht verwundert über den Andrang. Sieben Fernsehteams und vier Radiosender seien für eine SPD-Veranstaltung im Hochtaunus dann ja doch eher ungewöhnlich, sagt der Bezirksvorsitzende.

Das hier ist Kühnerts zehnte Veranstaltung, und egal wohin er kommt dieser Tage, er wird bejubelt. Auch in Oberursel wird es laut, als Kühnert auf der Bühne vor dem schwarzsamtenen Vorhang kurz aufsteht und eine Verbeugung andeutet.

Er stellt sich – wie so oft in schwarzem Pullover und Turnschuhen – ans Rednerpult und beginnt seine Erzählung. Sie handelt von zwei Parteien, die ihre Gemeinsamkeiten aufgebraucht haben. Die großen Zukunftsthemen – Rente, Bildung, Digitalisierung – hätten Union und SPD immer wieder aufgeschoben. Die große Koalition, sagt Kühnert, sorge bei den Wählern für Verdruss, die Parteien seien kaum noch unterscheidbar. Die SPD finde keine Antworten auf sozialdemokratische Fragen mehr. Erneuerung müsse sein – das sei aus seiner Sicht nur in der Opposition möglich. Vor Neuwahlen dürfe man sich nicht fürchten. „Lass euch bei eurer Entscheidung nicht von Angst treiben!“, appelliert Kühnert. Großer Applaus, vereinzelt Jubel.

Er will nicht krawallig wirken

Kühnert verlässt nach dem Ende der Veranstaltung schnell den Saal, er muss noch kurz vor die Kameras, Selfies mit den Genossen machen, ein Autogramm schreiben. Dann steigt er mit seinem Pressesprecher ins Auto einer Genossin, die sie nach Darmstadt bringen will. Die Frau brettert mit 160 über die Autobahn. Kühnert scrollt durch Facebook, beantwortet ein paar Whatsapp-Nachrichten. Doch weit kommt er nicht. Es sei doch eigentlich unausweichlich, sagt die Genossin, dass bei einem Nein zur Groko schnell Neuwahlen folgen würden. Kühnerts Argument, dass der Ball ja dann im Feld der Kanzlerin liege und sie auch eine Minderheitsregierung bilden könne, überzeugt die Genossin nicht.

Es ist ja auch der wunde Punkt in Kühnerts Argumentation. Gebetsmühlenartig wiederholt er den Satz: „Es gibt keinen Automatismus für Neuwahlen.“ Er will damit die Genossen beruhigen, die eigentlich gegen die große Koalition sind, aber Angst davor haben, dass die SPD bei Neuwahlen ins Bodenlose stürzt. Gleichzeitig versucht er so, den Eindruck zu vermitteln, dass es nicht allein an der SPD läge, wenn es zu Neuwahlen käme. Fakt ist aber: Kühnert und die Jusos hätten einen großen Anteil daran.

Kühnert hat sich in den vergangenen Wochen angewöhnt, seine Reden ruhig zu halten, nicht zu laut und nicht zu schnell zu werden – er will ja nicht krawallig wirken, sondern verantwortungsbewusst. Mit seiner Botschaft mutet er den Genossen schon genug zu.

Bis zum 2. März können sie für oder gegen die Groko abstimmen. Doch in der Partei herrscht Chaos. Martin Schulz ist als Parteichef abgetreten, Fraktionschefin Andrea Nahles will sich im April zu seiner Nachfolgerin wählen lassen, bis dahin soll Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz die Geschäfte führen.

Angst, dass die Partei implodiert

In nicht-öffentlichen Regionalkonferenzen versuchen die beiden derzeit, die Mitglieder von der Groko zu überzeugen. Selbst Ex-Parteichef Gerhard Schröder hat sich eingeschaltet und eindringlich für ein Bündnis mit der Union geworben. Die Furcht vor dem Unmut der SPD-Mitglieder ist groß. Gleichzeitig herrscht an der Basis Angst davor, dass die Partei bei einem Nein zur Groko implodiert.

„Werden wir uns selbst zerlegen“, fragt ein Genosse in Oberursel, „weil jedes Mittel zur Disziplinierung fehlt, wenn wir nicht in die Regierung gehen?“ Ein anderer will wissen, wie man denn bei der Landtagswahl um Stimmen werben wolle, wenn man jetzt nicht bereit sei, Verantwortung zu übernehmen. Und dann tritt ein Mann mit weißen Haaren und buntgemustertem Pulli ans Mikro, der Kühnert so stark kritisiert, dass eine der grauhaarigen Frauen in der vorletzten Reihe „Ja, Ja“ schreit.

„Wir haben zu mehr als zwei Dritteln unser Wahlprogramm umgesetzt“, sagt er. „Wie wollen wir denn da erklären, dass wir dem Vertrag nicht zustimmen und uns dann weiteren Wahlen stellen?“ Wer den freiwilligen Abschied predige, der müsse sich „fragen, ob er Chancen sieht, wieder in die erste Liga zurückzukommen.“ Dort würden schließlich die Entscheidungen getroffen. „Ich beneide dich um deine Jugend“, sagt er zu Kühnert. „Aber zum Engagement in der SPD gehören historische Perspektive und ein langer Atem.“ Sein Aufruf, mit Ja zu stimmen, erntet am Ende Applaus.

Kühnert bleibt ruhig, auch wenn er kritisiert wird. Er ist überzeugt, dass er das Richtige tut. Nur: Woher nimmt er diese Gewissheit? Es gibt Genossen, die ihm unterstellen, dass er als 28-Jähriger gar nicht wissen könne, was er da tue.

Kühnert ist im Berliner Ortsteil Lichtenrade aufgewachsen, bezeichnet sich selbst als „Stadtrandmensch“. In einer ruhigen Seitenstraße steht das weiße Einfamilienhaus seiner Eltern, gegenüber flache Neubaublöcke. Von hier aus kann man zu Fuß zum alten Ortskern laufen. Wie auf dem Dorf sieht es aus mit dem Weiher, der Kirche und den Fachwerkhäusern.

Der Fußball als Vorbild

Kühnerts Eltern sind keine SPD-Mitglieder, die Mutter arbeitet im Jobcenter, der Vater im Bezirksamt. Sie haben ihm ein positives Bild vermittelt von staatlichen Institutionen, sagt Kühnert. Als Kühnert 14 ist, wird er Schülervertreter, mit 15 dann Juso, nachdem er ein Praktikum in einem SPD-Kreisbüro gemacht hat. Er ist damals beeindruckt davon, wie traditionsreich die Partei ist, dass hier das einfache Mitglied den ranghohen Genossen duzen darf, Politik findet er spannend. Doch es gibt noch etwas anderes, das Kühnert zu einem politischen Menschen gemacht hat.

Er war neun Jahre alt, als sein Großvater ihn zu einem Fußballspiel von Tennis Borussia mitnahm, dem Berliner Traditionsverein. Mit 15 findet er beim Aufräumen einen Schal wieder, den er von diesem ersten Besuch mitgenommen hat. Er beschließt, wieder hinzugehen. Was sich ihm einprägt, ist, wie sehr sich der Verein mit seiner Geschichte auseinandersetzt, seiner einstigen jüdischen Mitglieder gedenkt. Kühnert fährt zu Auswärtsspielen im Osten der Republik. „Die Spieler mit türkischem Migrationshintergrund wurden als Kanaken beleidigt.“ Die Farben des Vereins werden für Sprechgesänge wie „Lila-Weiß ist schwul“ genutzt. Die Fans versuchen, aus den Anfeindungen eine Stärke zu machen, stoßen Debatten an über Homophobie im Fußball. „Wir haben uns einen Raum geschaffen, der einmal die Woche 90 Minuten lang so funktioniert, wie wir uns Gesellschaft vorgestellt haben“, sagt Kühnert. Da ist es egal, dass der Verein in der 5. Liga spielt.

Kühnert, der mittlerweile in der Bezirksverordnetenversammlung in Tempelhof-Schöneberg sitzt und für eine Genossin im Berliner Abgeordnetenhaus arbeitet, glaubt fest daran, dass es die SPD braucht. Nur die SPD als Volkspartei könne für die nötige Solidarität in der Gesellschaft sorgen. „Viele SPD-Mitglieder empfinden die andauernde Zusammenarbeit mit dem eigentlichen politischen Gegner CDU als Demütigung.“ Wenn er sich anschaue, wie antriebslos die SPD-Mitglieder zuletzt an den Info-Ständen Wahlkampf machten, habe er Angst, „dass das Feuer irgendwann ausgeht.“ Wenn man nach seinem Antrieb sucht, die Groko so vehement zu bekämpfen, liegt hier wohl die Antwort.

Eine Wette auf die Zukunft

Nach dem Auftritt in Darmstadt will Kühnert mit den örtlichen Jusos noch ein Bier trinken gehen, auch wenn er am nächsten Tag um vier Uhr morgens aufstehen muss. Er schultert seinen blauen Rucksack und schnappt sich seinen Koffer. Als er den Saal verlassen will, rennt ein Kamerateam neben ihm her. „Du hast aber auch kein Privatleben mehr oder?“, fragt eine Juso und lacht. „Nur nachts“, antwortet Kühnert.

Die Jusos irritiert die Aufregung um Kühnert. „Ist das eigentlich cool oder nervig, plötzlich so im Fokus zu stehen?“, will einer beim Rauchen vor der Kneipe dann noch wissen. „Weder noch“, sagt Kühnert ernst. „Es ist einfach so.“

Aufregung um Kühnert gab es auch am Mittwoch. Zuerst hatte nämlich die „Bild“-Zeitung groß unter der Überschrift „Neue Schmutzkampagne bei der SPD“ darüber berichtet, dass ein angeblicher Russen-Troll Kühnert via Mail Vorschläge unterbreitet haben soll, den SPD-Mitgliederentscheid mit Hilfe von Bots zu beeinflussen. Dann stellte sich heraus, dass offenbar das Satire-Magazin „Titanic“ dahinter steckte und der „Bild“ die entsprechenden Informationen zugespielt hatte. Kühnert war amüsiert, kommentierte via Twitter: „Einfach genießen“ - und erntete mehr als 5000 Likes.

Es gibt Leute, die Kühnert unterstellen, er mache den ganzen Wirbel gegen eine große Koalition nur, um selbst groß rauszukommen. Dass es ihm am Ende nur um ihn selber ginge. „Ich bin nicht von Ehrgeiz zerfressen“, sagt Kühnert am späten Abend, als er, angekommen in Darmstadt im Hotel, noch einen Tee trinkt. Wann immer er in seinen 13 Jahren bei den Jusos oder in der SPD Verantwortung übernommen habe, habe er das eigentlich nie geplant oder strategisch angelegt. „So doof es klingt: Es ist meist einfach so passiert.“

Hat er Sorge, dass um seine Person auch ein Hype entstehen könnte, wie damals um Martin Schulz? Kühnert überlegt. „Die Gefahr besteht natürlich“, sagt er. Die ganze Aufmerksamkeit fühle sich zum Teil schon absurd an, sei aber in Ordnung. Wie kürzlich, als er durch Recklinghausen gelaufen sei – da habe einer im fahrenden Auto die Scheibe runtergekurbelt und ihn angefeuert: „Kühnert, Kühnert!“ Manchmal wird es ihm auch unheimlich. „Vorhin kam aber einer nach der Veranstaltung, der hat gesagt, er sei den Tränen nahe gewesen. Das ist erstmal eine schräge Situation.“ Eine Aufregung, die „religiöse Züge annimmt“, wolle er überhaupt nicht hervorrufen.

Wenn die SPD-Mitglieder am Ende knapp für die große Koalition stimmen, könnte der Wirbel um Kühnert schnell wieder vorbei sein. Bei einem Nein ginge er erst richtig los. Dann trüge er Verantwortung für das, was danach käme. Auch, wenn er überzeugt ist, dass ein Nein das Beste für die SPD ist, muss er zugeben: „Dass ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob es stimmt.“ Das könne die andere Seite ebenfalls nicht. Es sei eben eine Wette auf die Zukunft.

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