SPD stimmt für Groko: Das große Aufatmen - und bloß kein Jubel
Zwei Drittel für die Groko, ein Drittel dagegen. Wo Sieger sind, gibt es auch Besiegte? Diese Regel will die SPD außer Kraft setzen. Sie träumt schon von einer neuen Ära. Eine Reportage.
Bloß kein Triumph jetzt! Viel Grund zum Jubeln haben sie im Willy-Brandt-Haus im vergangenen Jahr nicht gehabt. Aber die Mitarbeiter der SPD-Parteizentrale haben Erklärungen der Parteispitze zu schwachen Wahlergebnissen, von denen es viele gab, doch immer brav beklatscht nach der Devise: Wir lassen uns nicht unterkriegen.
Und jetzt, wo es um die Entscheidung geht, von der die Zukunft der SPD, die Zukunft der Republik und womöglich auch die der Europäischen Union abhängt? Auf den Galerien rings um das überfüllte Atrium des Willy-Brandt-Hauses stehen mehr als hundert freiwillige Helfer, die die ganze Nacht die Briefwahl ausgezählt haben, und applaudieren brav, als Schatzmeister Dietmar Nietan geschäftsmäßig einem nach dem anderen dankt: ihnen, dann den Mitarbeitern der Post und denen der Sicherheitsdienste, schließlich denen der Polizei.
Doch als er um kurz nach halb zehn die Nachricht verkündet, von der alles abhängt, rührt sich keine Hand: „Mit Ja haben gestimmt 239.604 Mitglieder der SPD, mit Nein haben gestimmt 123.329 Mitglieder der SPD. Das entspricht einer Zustimmung von 66,02 Prozent der abgegebenen Stimmen.“
Ob die Partei wieder zusammenfinden kann, ist offen
Es bleibt völlig still im Willy-Brandt- Haus, man hört nur das Klicken der Kameras. Niemand freut sich laut darüber, niemand klatscht dafür, dass sich die SPD-Mitglieder so klar entschieden haben – mit Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen für die große Koalition.
Der ausbleibende Jubel ist ein Zeichen: Die SPD hat die Regierungsfrage geklärt, aber ob sich die Partei mit ihrer Rolle in der großen Koalition anfreunden kann und wie sie nach Wochen teils erbitterter Debatten wieder zusammenfinden kann, das ist weiter offen.
Auch deshalb gestattet sich der kommissarische Parteichef Olaf Scholz vorne auf der Bühne nicht einmal ein Lächeln, schaut noch ernster als gewöhnlich, obwohl ihm ein riesiger Stein vom Herzen fallen muss. „Das waren wichtige, spannende Debatten. In der Diskussion sind wir weiter zusammengewachsen“, sagt er mit sonorer Stimme – und es klingt ein bisschen wie eine Beschwörung.
Zusammenwachsen, das wäre schon viel in einer Partei, die seit der Bundestagswahl fast alles verloren hatte: die klare Linie, den Zusammenhalt, die Verlässlichkeit von Beschlüssen – und mit Martin Schulz einen Vorsitzenden, der vor einem Jahr noch mit einhundert Prozent der Stimmen gewählt worden war.
Der Weg der Erneuerung
In der langen Nacht beim Sortieren und Auszählen der 360.000 Stimmen hatten die Helfer mit den Vertretern der Parteispitze darüber geredet, was sie tun würden am nächsten Morgen. Die Hälfte der 120 Auszähler im Hans-Jochen-Vogel-Saal im fünften Stück war für die Groko, die andere Hälfte strikt dagegen. „Wir waren uns einig bei den Gesprächen – egal, wie es ausgeht: Gibt es ein Nein, jubelt hier keiner von den Groko-Gegnern. Gibt es ein Ja, jubelt auch von den anderen niemand“, erklärt Nietan am Morgen nach der Pressekonferenz. „Wir wollten deutlich machen, hier triumphiert heute keine Seite, sondern das ist der Anfang, sich jetzt auf den gemeinsamen Weg der Erneuerung zu machen.“
Die Regel, dass es auch Besiegte gibt, wo Sieger sind, will die SPD aus therapeutischen Gründen außer Kraft setzen. Dabei hat sich die Parteispitze um Scholz und die designierte Parteichefin Andrea Nahles gegen massiven Widerstand durchgesetzt – ein Ergebnis, auf das noch Mitte Januar kaum jemand gewettet hätte. Denn die Zweifel an der Redlichkeit der eigenen Führung hatten sich tief in die Reihen der SPD hineingefressen, viele Genossen fühlten sich getäuscht und drohten mit Rebellion.
Alle haben in den Abgrund geschaut
Scholz und Nahles saßen am Sonntagmorgen seit halb neun im Zimmer des Parteivorsitzenden im fünften Stock zusammen und warteten, bis der Schatzmeister das notariell beglaubigte Ergebnis (Urkunden-Nummer 217/2018S) vorlegte. Der Rest der SPD-Führung versammelte sich zu dieser Zeit in einem Hotel am Spreeufer in Friedrichshain, wo die Spitzen von Partei und Fraktion in Klausur über die Erneuerung der SPD beraten wollten. Auch dort blieb die Stimmung verhalten, als das Votum durchsickert. „Kein Beifall, aber Freude über Klarheit und Wahlbeteiligung“, berichtet ein Teilnehmer.
Die hohe Wahlbeteiligung, die jene des Mitgliedervotums über die große Koalition von vor vier Jahren übertrifft, lobte nach der Bekanntgabe im Willy-Brandt-Haus auch Parteivize Ralf Stegner: „Dass sich so viele beteiligt haben, ist ein Zeichen starker innerparteilicher Demokratie.“
Doch nicht alle, die jetzt mit Ja gestimmt haben, glauben daran, dass die SPD in der großen Koalition wieder stark werden und mehr Wähler gewinnen kann – im Moment liegt sie in Umfragen nur bei 17 oder 16 Prozent. Manche haben wohl gegen innere Überzeugung nur aus Angst vor Neuwahlen zugestimmt. „Alle haben nun einmal in den Abgrund geschaut“, sagt ein Kenner der Partei.
Zu dem schlechten Bild, das die SPD abgab, hatte ihre Führung unter Martin Schulz mit ihrem Zickzack-Kurs nach der Bundestagswahl viel beigetragen. Noch am Wahlabend schloss Schulz im Willy-Brandt-Haus eine große Koalition aus – und anders als an diesem Sonntag jubelte sein Publikum damals frenetisch.
Das Gesagte war nicht das Gemeinte
Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierung bekräftigte der Parteivorstand die Absage an ein neues Bündnis mit der Union – noch bevor Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Parteien zu Gesprächen über eine Regierungsbildung aufforderte. Als dann auch die SPD-Bundestagsfraktion gegen die Totalverweigerung rebellierte, rückte Schulz von seinem Kurs wieder ab, verschwieg seiner Parteibasis aber lange, dass er längst aktiv auf eine Regierungsbildung mit SPD-Beteiligung hinarbeitete. Nicht nur die Glaubwürdigkeit, auch die Handlungsfähigkeit der ältesten deutschen Partei litt: Das Gesagte war nicht mehr das Gemeinte, das Beschlossene nicht mehr das Gültige.
Martin Schulz war im vergangen Jahr als Verkörperung der Glaubwürdigkeit in der Politik angetreten. Zum Schluss stolperte er darüber, dass er selbst unglaubwürdig wurde. Der Parteichef hatte definitiv ausgeschlossen, dass er in ein Kabinett Merkel eintreten würde. Als er dann zwar Andrea Nahles als Nachfolgerin für sein Parteiamt empfahl, aber sich selbst das Außenministerium sichern wollte, rebellierten große Landesverbände. Schulz zog die Konsequenz und verzichtete auf den Posten des Chefdiplomaten. Der Schritt erleichterte es Nahles und Scholz, auf sieben Regionalkonferenzen und vielen anderen Veranstaltungen für den Inhalt des Koalitionsvertrages zu werben.
"Aus der SPD stirbt man raus"
Hat die SPD-Führung, die nun so vorsichtig agiert, mit der klaren Entscheidung ihre fast verloren gegangene Steuerungsfähigkeit wieder zurückgewonnen? Zumindest der neue Ton von Schatzmeister Nietan lässt aufhorchen, der alles andere als ein autoritärer Politiker ist. „Jetzt ist Schluss“, sagt Nietan nach der Pressekonferenz zur Frage, ob die SPD nach der Entscheidung über den Koalitionsvertrag die Mitglieder auch über die künftige Vorsitzende abstimmen lassen werde. „Humbug“ nennt er die von vielen in der SPD aufgegriffene Forderung, ein Parteitagsbeschluss reiche nicht aus zur Besetzung der Chefposition: „Jetzt arbeiten wir nicht mehr an solchen Spielchen, sondern wir erneuern die Partei. Dazu gehört auch, dass man sich an die Regeln hält.“
Der prominenteste Groko-Gegner in der SPD, Juso-Chef Kevin Kühnert, hat sich an die meisten Regeln gehalten, aber während der Chaos-Phase an der Spitze der SPD auch viel Freiraum genossen für seinen Kampf gegen die Neuauflage des Bündnisses mit der Union. Nun steht er im Durchgang vor dem Willy-Brandt-Haus und kündigt an, sein Verband werde die neue Regierung sehr kritisch begleiten. Man lasse sich weder kaufen noch mit neuen Ämtern ruhigstellen: „Wenn Kritik nötig ist, dann wird sie von uns kommen.“
Zudem seien die Jusos die Garanten dafür, dass die Partei es ernst meint mit dem Prozess der programmatischen Erneuerung, verspricht er: „Wir werden dieser Partei auch so lange aufs Dach steigen, bis wir das Gefühl haben, das passiert jetzt in einem ausreichenden Rahmen.“ Immerhin bleibt Kühnert auch in der Stunde der Niederlage loyal zu seiner Partei, appelliert an die neu eingetretenen Groko-Gegner, dabeizubleiben und mitzukämpfen: „Aus der SPD tritt man nicht aus, aus der SPD stirbt man raus. Jede Enttäuschung ist jetzt verständlich. Und trotzdem ist die Idee dieser Partei wichtiger als unsere Gefühlslage.“
"An die Arbeit jetzt"
Auch für Kühnert gibt es Wichtigeres als Emotionen. So kommt es am Sonntag zu der seltsamen Situation, dass nicht die oft leidenschaftliche oder auch sentimentale Sozialdemokratie sich nach der Basis-Entscheidung Gefühle gestattet, sondern die Union. Das Aufatmen bei CDU und CSU ist noch durch die Presseerklärungen hindurch zu spüren. „Endlich!“, schreibt CDU-Vize Thomas Strobl. Peter Altmaier twittert gleich drei aufmunternde Symbole – Daumen hoch, Victory-Finger, Grinsegesicht. „An die Arbeit jetzt!“, tippt der designierte Wirtschaftsminister ins Smartphone. „Wir sind sehr, sehr froh“, seufzt CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer auf.
Ob Angela Merkel nach dem Frühstück gleich noch einen Schnaps weggekippt hat, ist nicht überliefert, aber verwunderlich wär’s nicht. Amtlich haben ja alle in der Union genauso auf Optimismus gemacht wie die SPD. Aber je näher der Tag der sozialdemokratischen Wahrheit rückte, desto mehr war auch in CDU und CSU die Nervosität spürbar. Hatten nicht SPD-Gewährsleute erzählt, ihre Partei stehe – mit zwei Ausnahmen: dem nicht ganz so bedeutsamen Landesverband Berlin und dem leider sehr wichtigen NRW?
Fraktionschef Volker Kauder warnte offen vor einer Minderheitsregierung, die sich jede Mehrheit teuer erkaufen müsse. In Planungsstäben blätterten sie abgelegene Grundgesetz-Bestimmungen nach wie den Artikel 81, der sich mit dem exotischen Spezialfall einer blockierten Minderheitsregierung im „Gesetzgebungsnotstand“ befasst. Wer zwischendurch ein bisschen Zeit hatte, dachte auch schon mal über eine Wahlkampfkampagne nach. Das können sie jetzt alles ganz schnell wieder vergessen. „Ich gratuliere der SPD zu diesem klaren Ergebnis“, richtet Angela Merkel als CDU-Chefin dem alten und neuen Partner aus.
Auch Christian Lindner atmet auf
Für sie ist die Klarheit, sind die 66 Prozent Ja-Stimmen mindestens so wichtig wie für die Sozialdemokraten. Die SPD ist seit dem Wahlabend eine Partei in Aufruhr. Ein knapperes Votum hätte einen sehr instabilen Koalitionspartner bedeutet. Jetzt besteht die Hoffnung, dass sich das Chaos beruhigt und auch nicht jeder SPD-Minister gleich vom ersten Tag an in sich den Zwang verspürt, Regierung und Opposition zugleich zu sein. Für Merkel war das Kabinett immer eine Art sachorientierter Ruhepol im parteipolitischen Schlachtengetöse zwischen Koalitionsrunden, Fraktionsgemurre und den allfälligen Ausfällen der CSU. Wenn es nach ihr geht, bleibt das so.
Noch einer hat übrigens aufgeatmet. Das darf nur keiner merken. Christian Lindner als Fachmann fürs Nichtregieren diagnostiziert deshalb nur, es wäre „ein Rätsel gewesen, wenn die SPD sich einem Koalitionsvertrag mit 70 Prozent eigenem Inhalt verweigert hätte“, und kündigt ansonsten „smarte“ Oppositionsarbeit an. Was das sein soll, weiß kein Mensch; klingt aber jedenfalls cool. Lindner kann heilfroh sein. Wie die FDP nach dem Jamaika-Aus aus Neuwahlen herausgekommen wäre, weiß nämlich auch keiner. Jetzt hat er drei Jahre Zeit, die Sache vielleicht vergessen zu machen.