„Wir tun so, als seien wir einsprachig“: Petition fordert mehr Sprachvielfalt auf Berlins Hauptstadtportal
„Berlin.de“ sollte auf Sprachen verfügbar sein, die in Berlin gesprochen werden, fordert die Petition. Welche Sprachen das sind, wird jedoch gar nicht erfasst.
„Ich schäme mich dafür, dass es mir jetzt erst aufgefallen ist“, sagt Ralf Krämer. Er ist freier Autor aus Berlin, am Telefon wirkt er eloquent und engagiert. Krämer ist Initiator der Petition „Berlin fehlen die Worte“ auf der Petitionsplattform „We act“. Darin fordert Krämer zusammen mit knapp 500 anderen eine größere Sprachauswahl auf dem Hauptstadtportal „Berlin.de“.
Aktuell lässt sich die Website auf Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch ausspielen. Damit spiegelt die Sprachauswahl nicht die tatsächlich in Berlin gesprochenen Sprachen wider, bemängelt Krämer und wünscht sich, dass das Angebot auf Türkisch, Polnisch, Arabisch, Russisch und Vietnamesisch ausgedehnt wird.
Doch da folgt das nächste Problem: welche Sprachen tatsächlich in Berlin beherrscht und gesprochen werden, wird vom Landesamt für Statistik Berlin Brandenburg nicht erfasst.
Gestartet hat er die Petition, weil er „indirekt betroffen“ war, wie er sagt – durch fremdsprachige Freunde und Mitbewohner. „Da habe ich gemerkt, dass die Angebote durch die Behörden nicht hinreichend sind.“ Auch, wenn deutsch die Amtssprache ist, müsse man praktisch vorgehen und die Realität anerkennen, dass in Berlin viele Sprachen gesprochen werden, sagt Krämer.
Besonders in drängenden Situationen, wie einer Pandemie. „Ich bin gerne beruflich und privat in allen Bezirken unterwegs, von Zehlendorf bis Marzahn und von Wedding bis Kreuzberg. Da merkt man, dass die Alltagssprache nicht immer Deutsch ist“, erzählt Krämer.
„Berlin.de geht am Zielpublikum vorbei“
Berlin.de ist derzeit noch ein Angebot des Senats und der BerlinOnline Stadtportal GmbH & Co. KG, die zu knapp 75 Prozent dem Berliner Verlag gehört – seit einem Jahr in der in der Hand des umstrittenen Verlegerpaars Silke und Holger Friedrich. Ab 2022 will das Land das Portal allein betreiben.
Es dient als Kommunikationskanal zwischen dem Senat und der Bevölkerung in Berlin, über die Seite kann man seinen Termin beim Bürgeramt buchen, eine KfZ-Zulassung beantragen und dort bekommen Berlinerinnen und Berliner Informationen zu aktuellen Regeln und Eindämmungsmaßnahmen in der Corona-Pandemie.
Letztere stellt der Senat auch etwa auf Arabisch, Polnisch, Russisch und Türkisch zur Verfügung – doch man müsse diese Information erst auf der Website finden und dafür die angebotenen Sprachen beherrschen, kritisiert Krämer.
Das Stadtportal sollte sich laut Krämer aber nicht nur als Krisenkommunikationskanal verstehen, sondern der allgemeinen Kommunikation zwischen Land und Bevölkerung dienen.
Um seinen Punkt deutlich zu machen, zieht er Parallelen zum Marketing-Bereich. „Große Firmen geben viel Geld aus, um zu verstehen wie sie ihre eigene Zielgruppe am besten erreichen.“ Berlin.de verfehle dies und gehe zum Teil am Zielpublikum vorbei, bemängelt Krämer.
„Moderne Gesellschaften sind immer mehrsprachig“
Auch Heike Wiese, Linguistin an der Humboldt-Universität (HU), sieht beim Angebot des Hauptstadtportals ein Defizit: „Welche Sprachen das Hauptstadtportal anbietet, zeigt wie wichtig dem Senat der Souverän, also die Bevölkerung, ist“, sagt die Wissenschaftlerin.
Sie hat den Lehrstuhl für Deutsch in multilingualen Kontexten am Institut für deutsche Sprache und Linguistik der HU inne und ist Mitautorin des Debattenbuchs „Deutschpflicht auf dem Schulhof? Warum wir Mehrsprachigkeit brauchen“. Ein größeres Sprachangebot auf Berlin.de wäre laut Wiese „ein wichtiges Signal in einer modernen Gesellschaft, die immer mehrsprachig ist“.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können. ]
Deutschland im Besonderen war schon immer mehrsprachig, wie Wiese sagt. „Aber wir tun seit dem 17. / 18. Jahrhundert so, als seien wir einsprachig. Das nennt man ‚monolingualen Habitus‘.“ Der sogenannte monolinguale Habitus entstand in Europa während der Nationalstaatenbildung und ist in Deutschland seitdem besonders ausgeprägt, da man sich auf eine gemeinsame Sprache als Legitimation für den Nationalstaat berief. Dabei ignorierte man jedoch, dass in der Zeit der Kleinstaaterei viele Sprachen von sorbisch bis jiddisch gesprochen wurden.
Mehrsprachigkeit anerkennen, hat für Wiese etwas mit Wertschätzung zu tun. „Für Alteingesessene, also Menschen, die in der dritten Generation in Deutschland leben, wäre eine Übersetzung des Hauptstadtportals zwar existenziell nicht so wichtig – aber ein wichtiges Signal der Wertschätzung zusätzlicher Sprachen, die in der Familie neben dem Deutschen noch gepflegt werden.“
Für Neuzugezogene hingegen sei die Bereitstellung von Informationen in Sprachen, die sie bereits fließend beherrschen, besonders während der Pandemie viel wichtiger.
Keine statistische Erfassung der gesprochenen Sprachen in Berlin
Doch welche Sprachen beherrschen die Menschen in Berlin bereits fließend? Statistisch fundiert kann das niemand sagen. „Angaben zu Sprachen, die in Berlin gesprochen und verstanden werden sind nicht Bestandteil der amtlichen Statistik“, teilt das Landesamt für Statistik Berlin Brandenburg auf Anfrage mit. Und weiter: „Die Entscheidung, welche Daten in der amtlichen Statistik erhoben werden, trifft der Gesetzgeber.“
Lediglich im Mikrozensus, einer einprozentigen Bevölkerungsstichprobe, wird die Frage gestellt, welche Sprache im Privathaushalt „vorwiegend“ gesprochen wird. Die Auswertung des Statistischen Landesamts ergibt, dass nach Deutsch Türkisch, Englisch, Russisch, Arabisch und Polnisch am meisten in Privathaushalten gesprochen werden. Doch dies sagt nichts über die vollumfänglichen Sprachkenntnisse der Bevölkerung aus.
[Behalten Sie den Überblick über die Corona-Entwicklung in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]
„Besonders für die Wissenschaft wäre es wichtig zu erfassen, welche Kompetenzen und welcher Reichtum in der Bevölkerung schlummern, die sonst negiert werden“, sagt Linguistin Heike Wiese. Aktuell arbeite sie in der Wissenschaft mit Zahlen, die sie über die Statistiken zu „Migrationshintergrund“ bekommt.
„Das ist aber ein stark ausgrenzendes Konzept. Es sagt nur sehr wenig über die Sprachkenntnisse aus, aber sehr viel darüber, wen wir ohne Wenn und Aber als ‚deutsch‘ akzeptieren und wen nicht.“
Amtliche Spracherfassung aus datenschutzrechtlichen Gründen schwierig
Die Integrationsbeauftragte des Landes Berlin, Katarina Niewiedzial, findet einen „Ausbau des Sprachangebots auf berlin.de. sinnvoll und notwendig.“ Priorität sollten etwa Sprachen wie Polnisch, Türkisch, Russisch, Arabisch oder auch Vietnamesisch haben. Dabei orientiert sich Niewiedzial an den statistischen Daten zum „Migrationshintergrund“ in Berlin. Eine amtliche Sprachstatistik würde sie sich wünschen: „Ich begrüße alle Bestrebungen, die die Sprachvielfalt in unserer Stadt dokumentieren.“
Auch Bettina Jarasch, integrationspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion und Spitzenkandidatin für die kommende Abgeordnetenhauswahl, unterstützt „das Ziel eines erweiterten, sprachlichen Angebots von Berlin.de ausdrücklich“. Ihre Amtskollegin von der SPD-Fraktion, Nicola Böcker-Giannini, hingegen befürchtet, einem Ausbau des Hauptstadtportals stünden finanzielle Hürden im Weg: „Aus integrationspolitischer Sicht gilt natürlich: je mehr Informationen, desto besser. Aber das Vorhaben muss auch machbar bleiben.“
Die Ausweitung der amtlichen Statistik ist aus Sicht von Bettina Jarasch aus datenschutzrechtlichen Gründen schwierig, zudem nicht sinnvoll: „Viele Menschen in Berlin sprechen muttersprachlich zwei Sprachen, andere sprechen Dialekte von Sprachen wie z.B. in der kurdischen Sprache oder dem Persischen, beide kennen einige Sprachdialekte. Die Erfassung würde hier nicht weiterführen“, teilt Jarasch mit.
Die Regierungskoalition habe über eine amtliche Spracherfassung bisher nicht diskutiert, wie Nicola Böcker-Giannini sagt. Im Koalitionsvertrag des Senats ist sie nicht vorgesehen.