Sprachen von Berlin: Die Eleganz des Mischmasch
Berlin spricht viele Sprachen. Aber nicht alle genießen ein gleich hohes Ansehen. Amerikanisches Englisch hat das beste Image.
Ein kleiner schwarzer Pfeil weist nach links. Darunter der Hinweis: „Please take the next entrance“, nächster Eingang bitte. Schon am Schild wird deutlich, in welcher der vielen Berliner Sprachregionen man sich in der Habelschwerdter Allee in Dahlem befindet: Bei internationalen Tagungen an der Freien Universität (FU) ist Englisch natürlich Pflicht. Und wer nach Berlins Mehrsprachigkeit fragt, wie es Soziolinguisten bei einer Konferenz an der FU neulich taten, der landet ebenso schnell beim Englischen. Überall ist diese Lingua Franca sichtbar: an den Universitäten, auf den Bahnhöfen, in Museen, Bars und Cafés.
Doch was spricht man in der Hauptstadt sonst noch? Für Berlin gibt es bislang wenige Studien. Bekannt ist, dass die Hauptstadt multisprachlich ist. Aber wie sieht der Sprachgebrauch im Alltag aus, auf den Schulhöfen, in den Wohnzimmern? Schon lange interessieren sich Wissenschaftler für die Beziehung zwischen Stadträumen und Sprachen. Die amerikanische Sprachforscherin Barbara Johnstone beschreibt Großstädte als ambivalente Orte: Es gibt Kontakt und Interaktion – „hier knallen Sprachen aufeinander“ –, aber auch Exklusion und Segregation. Man lebt in unterschiedlichen Sprachwelten und bleibt sich fremd.
Die Arbeit der Soziolinguisten wird dadurch erschwert, dass Berlin keine Sprachstatistiken führt. „Es gibt zwar Daten wie die sogenannte ‚Ausländerstatistik’“, erklärt Theresa Heyd, die als Anglistin an der FU forscht, und gemeinsam mit Britta Schneider und Ferdinand von Mengden eingeladen hatte. „Aber daraus darf man nur sehr vorsichtig Schlüsse ziehen.“ Ein dänischer oder japanischer Pass sagt noch nichts über die Sprachpraxis des jeweiligen Berliners aus. Bekannt sind immerhin die Big Five, die fünf größten Sprachen Berlins. Deutsch führt die Liste an, gefolgt von Türkisch, Arabisch, Russisch und Englisch. Höchstes Ansehen genießen Standarddeutsch und Englisch. Das sind die Sprachen, die in Schule und Kindergarten vermittelt werden.
Andere Sprachkompetenzen lässt das Berliner Bildungssystem links liegen. Sie werden nicht einmal erfasst. „Es gibt kein politisches Interesse daran, welche weiteren Sprachkenntnisse in den Familien sonst noch schlummern“, sagt Patrick Stevenson, Germanistikprofessor an der University of Southampton.
Dabei lassen sich bei näherem Hinsehen durchaus verborgene Schätze heben. Duygu Yassi, FU-Nachwuchswissenschaftlerin, hat für ihre Bachelorarbeit die Unterhaltungen ihrer Freundinnen aufgenommen. Ihr war aufgefallen, dass die Clique ständig zwischen Deutsch und Türkisch hin- und herwechselt. Die jungen Frauen selbst nennen ihre Sprachpraxis „Mischmasch-Sprache“. Der Wechsel hat aber nichts mit fehlendem Wortschatz zu tun, die Freundinnen sprechen beide Sprachen fließend. Warum dann überhaupt das ständige Switchen? In ihrer Analyse konnte Yassi zeigen, dass die vermeintliche Mischmasch-Sprache genauen Regeln folgt. Je nachdem, ob die Sprecherin berichtet oder kommentiert, widerspricht oder zustimmt, wird Deutsch oder Türkisch benutzt – als bewusstes rhetorisches Stilmittel.
Die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprecherinnen sind durch die Zweisprachigkeit reicher, der Umgang mit beiden Sprachen souverän und spielerisch. Trotzdem werden die jungen Berlinerinnen für ihre Sprachkenntnisse vermutlich kaum gesellschaftliche Anerkennung ernten. Denn das gesellschaftliche Prestige des Türkischen ist immer noch niedrig. Es ist die Sprache, die man aus dem Wedding und aus Kreuzberg kennt und bestenfalls mit Dönerbuden, Gemüsehändlern und türkischen Supermärkten assoziiert.
Ganz anders dagegen der Ruf des anglophonen Berlins. Englisch steht für die moderne, digitale, partyfreudige Metropole, die sich seit der Wende entwickelt hat. Englisch ist längst nicht nur globales Verständigungsmittel, sondern Lifestyle. Es ist die Sprache von Kultur und Konsum – und der gemeinsame Code des akademischen Klientels. In den Innenstadtbezirken ist es omnipräsent. Trotzdem lässt sich das Englische im Stadtraum nicht so klar lokalisieren wie etwa das Türkische; es hat sich eher wie ein Schleier über bestimmte Areale und Branchen gelegt.
„Dennoch ist Englisch nicht gleich Englisch“, erklärt Theresa Heyd. Wer das aus dem Amerikanischen entlehnte Berlin-Mitte-Englisch spricht, wird nicht als Migrant wahrgenommen, sondern gilt als „Expat“, als hochqualifizierte ausländische Fachkraft. Ganz anders beurteilt werden die Sprachkenntnisse der wachsenden afrikanischen Community in Berlin. „Ein Einwanderer aus Nigeria spricht auch Englisch, aber kann mit seiner Sprache dennoch nicht punkten“, meint Heyd.
Das liegt nicht nur an den strukturellen Unterschieden der verschiedenen Dialektformen. Alle Sprachen einer Stadt haben einen Marktwert. Er richtet sich danach, wo auf der sozio-ökonomischen Leiter die jeweiligen Sprecher stehen. Wer zur kaufkräftigen, einflussreichen Elite gehört, dessen Sprache besitzt automatisch einen symbolisch höheren Stellenwert. Das spiegelt sich auch im öffentlichen Raum. Prestigereiche Sprachen werden häufiger sichtbar, andere Sprachen dagegen bleiben oft nahezu unsichtbar. Das erklärt vielleicht auch, warum es zehntausende Berliner mit russischem und polnischem Migrationshintergrund gibt, aber nur sehr wenige russische oder polnische Beschilderungen.
Die Sichtbarkeit einer Sprache hat viele Facetten. Eine Stadt besteht aus Sound- und Textlandschaften, aus Dialogen auf der Straße, aus Musik, die aus Lautsprechern dringt, aus Werbetafeln, Aufklebern, Plakaten. Selbst T-Shirts und Taschen sprechen zu den Bewohnern. Manchmal entstehen dabei interessante Mikrotrends. So lässt sich aktuell eine Aufwertung des Arabischen in einigen Berliner Kiezen entdecken. Vor allem Falafelbuden nutzen arabische Schriftzeichen als Markierung für Urbanität und kulinarische Authentizität. Die Kundschaft goutiert das neu entstandene sprachliche Selbstbewusstsein.
„Wir müssen dazu kommen, die Mehrsprachigkeit der Berliner nicht mehr als Problem zu sehen“, betont Patrick Stevenson. Der Reichtum der Sprachen sei vielmehr eine Ressource, eine Chance für die Stadt und deren Wirtschaft. Der britische Wissenschaftler hat ausgiebig in Berlin geforscht. Für sein neustes Buch „Language and Migration in a Multilingual Metropolis: Berlin Lives“, das in Kürze erscheint, hat er ausführliche Interviews mit Menschen geführt, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland eingewandert sind. „Ich wollte Diversität als Normalität erzählen.“ Die Befragten stammen aus Vietnam, Polen, der Türkei und Russland und wohnen heute alle in dem gleichen Mietshaus in Neukölln.
Als sie vor Stevenson ihre Lebens- und Migrationsgeschichten ausbreiteten, waren das immer auch Geschichten über Sprachen. Über Isolation und Missverständnisse, aber auch über Erfolge und Glück. Bei allen hatte das Leben dank ihrer Muttersprache oder dank der neuerworbenen Deutschkenntnisse entscheidende Wendungen genommen. So wie bei Ludmilla aus Russland: Sie arbeitete in einer Bar, als sie eines Tages zufällig eine Unterhaltung zweier russischsprachiger Gäste mithörte, dass die Bar möglicherweise zum Verkauf stehe. Sofort erkannte die Neuberlinerin ihre Chance und sprach die Besitzer an. Heute ist sie die Chefin.