Sprachvielfalt: Nehmt den Deutschen das Deutsche!
Das Wiener "Wespennest" widmet sich den hybriden Möglichkeiten von Literatur in einer globalisierten Welt. Die Zeitschriftenkolumne.
Am Ende packt ihn eine Art verzweifelter Ironie. Es komme darauf an, schreibt Marko Dinic nach einer charmanten Einführung in sein Sprachnomadentum, „die deutsche Sprache den Deutschen wegzunehmen und sie von den Deutschen zu befreien.“ Fußnote: „Genauso wie den Österreichern und den Schweizern und allen anderen Leitmenschen, die glauben, die deutsche Sprache für sich gepachtet zu haben.“
Auch wenn es ein Rätsel ist, wie das praktisch aussehen soll, lässt es sich als Zornesausbruch eines jungen Wiener Schriftstellers, dem die Galle hochkommt, wenn man ihn bei einer seiner Lesungen wieder einmal allzu gönnerisch für sein gutes Deutsch lobt, durchaus nachvollziehen. Es wäre der radikalste Akt einer „Desintegration“, wie sie sich der Berliner Dichter Max Czollek als Ausweis postmigrantischen Selbstbewusstseins jüngst in einem ganzen Buch erhoffte.
Für den unwahrscheinlichen Fall der Fälle müssten sich die Deutschen darauf einstellen, nicht mehr in sämtlichen Schattierungen von A-Wörtern zu fluchen, sondern sich womöglich wie die Serben auf F-Wörter zu verlegen: Dinic, der die ersten sieben Jahre seines Lebens in Belgrad verbrachte, buchstabiert die Mentalitätsunterschiede zwischen dem Analen und dem Genitalen lustvoll aus.
Frauentausch und Sprachentausch
Wo wir nun aber schon beim Unmöglichen sind: Könnte man da nicht auch gleich den Serben das Serbische wegzunehmen und sie mit dem Japanischen beglücken, das allem Anschein nach höflichkeitsfördernde Eigenschaften besitzt? Und sollte man den Japanern zur Abwechslung nicht einmal ein rustikales Arabisch verordnen? Ja wäre es im Gefolge der RTL-Soap „Frauentausch“ nicht überhaupt lehrreich, einen globalen Ringtausch der Sprachen zu organisieren?
Unter den fast enzyklopädischen Aspekten, die das Wiener „Wespennest“ (Nr. 179, 12 €, www.wespennest.at) in seinem Schwerpunkt „Viele Sprachen – eine Sprache?“ auf rund hundert Seiten berührt, würde allerdings schon die Diversität jeder einzelnen Sprache ausreichen, um einen leichten Schwindel zu erzeugen.
Von Wendelin Schmidt-Dengler, dem verstorbenen Doyen der jüngeren österreichischen Literaturwissenschaft, stammt die viel zitierte Beobachtung: „Die Literatur aus Österreich ist gewiss zum überwiegenden Teil in deutscher Sprache abgefasst, aber sie gehorcht auf Grund der historischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ganz anderen Gesetzen, auch im Bereich der reinen Form und des Inhalts.“
Christine Ivanovic liest das als Aufforderung, die babylonisch-kakanischen, postjugoslawisch durchwirkten Kräfte wahrzunehmen, die auf die Literatur der Alpenrepublik einwirken. Auch die dialektale Lautmusik, die die Salzburger Kunstmundartdichterin Katharina J. Ferner untersucht, könnte man hinzunehmen.
Noch produktiver aber wäre es wohl, Schmidt-Dengler so verstehen, dass sogar in der grammatisch und syntaktisch unauffälligen Standardsprache das vermeintlich Selbe jederzeit etwas Anderes sein kann. Gilles Deleuze und Félix Guattari sind dem, auf Kafka bezogen, am Beispiel des minoritären Pragerdeutsch nachgegangen, und der algerische Jude Jacques Derrida hat es in Bezug auf das koloniale Mehrheitsfranzösisch in seiner These von der „Einsprachigkeit des Anderen“ untersucht. Bettine Menke spielt in ihrem Essay zur Übersetzungstheorie darauf an.
Mehrsprachigkeit und literarisches Schreiben
Sowohl Kafka als auch Derrida wären nicht die Meister ihrer Sprachen geworden, wenn sie sich schreibend nicht zum Tschechischen beziehungsweise dem Hebräischen und Arabischen hätten verhalten müssen. Terézia Mora und Ilija Trojanow führen ein anregendes Gespräch „über Mehrsprachigkeit im Dienst des literarischen Schreibens“, in diesem Fall den Einfluss des Ungarischen und des Bulgarischen. Uljana Wolf berichtet von den hybriden Sprachverschlingungen der koreanisch-amerikanischen Dichterin Don Mee Choi, und was es heißt, diese im Deutschen nachzubilden.
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Der vergnüglichste und umfangreichste, von Terézia Mora erstmals ins Deutsche übersetzte Text ist allerdings Dezsö Kosztolányis offener Brief an den französischen Sprachwissenschaftler Antoine Meillet, einen reichlich bornierten Verächter des Deutschen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde er als Professor für indogermanische Sprachen ans Collège de France berufen und huldigte einem französischen Snobismus, der sich mit seiner komparatistischen Mission schlecht vertrug.
Die Polemik des eleganten Kosztolány, 1930 in Ungarns seinerzeit wichtigster Literaturzeitschrift „Nyugat“ (Westen) erschienen, hat nichts von ihrer frechen Aktualität verloren hat – außer dass es um den Reichtum der europäischen Zwergsprachen mittlerweile sehr viel schlechter bestellt ist. Wo Kosztolányi die Zahl der baltischen Liwischsprecher noch mit 1255 beziffert, tendiert sie heute gegen Null: Der letzte Muttersprachler starb, wie der Sprachwissenschaftler Harald Haarmann in seinem Papier über „Das Sprachenmosaik Europas“ berichtet, im Jahr 2009.
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