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Mahnmal für Giuseppe Marcone.
© Kai-Uwe Heinrich

Jugendgewalt in Berlin: Neues Buch erinnert an den Fall Giuseppe Marcone

Gewalttätige Jugendliche hetzten Giuseppe Marcone im September 2011 vor ein Auto und in den Tod. Ein neues Buch zeichnet das vielschichtige Bild des jungen Mannes.

Am Anfang war die Frage einer Fremden. Roswitha Quadflieg, Autorin, eben nach Berlin-Mitte zugezogen und begeistert von der Stadt, las in der Zeitung vom ersten Todestag Giuseppe Marcones. Der junge Mann war Opfer einer Hetzjagd geworden. Am frühen Morgen des 17. September 2011 erfasste ihn ein Auto, als er aus dem U-Bahnhof Kaiserdamm vor zwei anderen jungen Männern floh, um eine Schlägerei zu vermeiden. „Was ist denn hier eigentlich los?“, fragte sich Roswitha Quadflieg, warum verprügeln sich junge Männer, denen es doch gut geht? Aus der Frage ist ein eindrückliches Buch über einen besonders tragischen Fall von Jugendgewalt geworden, ein Buch, das einem Tränen in die Augen treiben kann.

Die beiden jungen Männer, die unten im U-Bahnhof Kaiserdamm Streit mit Giuseppe Marcone und seinem Begleiter Raul gesucht hatten, waren längst verurteilt, als Roswitha Quadflieg ihre Frage an den Anfang einer Recherche stellte. Das Urteil von Ende März 2012 war der moralische Tiefpunkt im Fall Giuseppe Marcone: Der Hauptangeklagte Ali T. wurde wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, der Mitangeklagte Baris B. zu einer Bewährungsstrafe von vier Monaten. Juristen erklärten das unverständliche Urteil mit der noch immer zynisch wirkenden Überzeugung des Richters von der „Mitverantwortung“ Giuseppe Marcones an seinem Tod: Wäre er nicht auf den Kaiserdamm gelaufen, als gerade ein Auto kam...

"Lassen Sie mich damit in Ruhe"

Wie wenig dieses Urteil dem Fall gerecht wurde, erfuhr Roswitha Quadflieg ganz am Ende ihrer Recherchen. Im Urteil hatte Quadflieg gelesen, der Richter habe die Prognose gestellt, die beiden Angeklagten würden sich die Bewährungsstrafen „zur Wannung dienen lassen“ und „keine Straftaten mehr begehen“.

Von der Staatsanwaltschaft hörte Quadflieg, dass schon während der Bewährung gegen beide neue Verfahren eingeleitet wurden. Naiv findet sie heute, im Gespräch, ihren Versuch, mit den beiden Tätern ins Gespräch zu kommen, weil der Tod Giuseppes in deren Köpfen oder Herzen etwas bewegt haben könnte.

Sie schrieb zwei Briefe. Nur Ali T. reagierte – mit einer Nachricht auf dem Anrufbeantworter von Roswitha Quadflieg: Den Brief finde er „gar nicht schön. Ich meine, äh, was denken Sie sich dabei, dass ich nach drei Jahren einfach hier mit Ihnen so’n Ding abziehe oder wie? Man will die Sache vergessen. Lassen Sie mich damit in Ruhe. Es ist einfach am besten. Schönen Tag noch. Ciao!“

Berührt. Roswitha Quadflieg fragte sich: „Was ist hier eigentlich los?“
Berührt. Roswitha Quadflieg fragte sich: „Was ist hier eigentlich los?“
© Alice Epp

Was in anderen zerstört wird, wenn einer in den Tod gehetzt wird, hat Roswitha Quadflieg in vielen Gesprächen erfahren und daraus ein Portrait Giuseppe Marcones gemacht, das so gar nicht auf „Opfer einer Straftat“ hinausläuft. Dass er ein lebenslustiger, freundlicher, friedliebender junger Mann gewesen sei, war gleich nach der Tat im September 2011 zu lesen.

Buch ist voller Überraschungen

Quadflieg hat von seiner Mutter und seinen Brüdern, von seinem besten Freund Raul, von früheren Lehrerinnen so viele Einzelheiten und Momente und Erinnerungen gehört und aufgeschrieben, dass Giuseppe Marcone vom tragischen Opfer von Jugendgewalt zu einem Berliner Jungen auf dem Weg ins Leben wird. Einer, der Familie hatte und Freunde mit den verschiedensten Migrationshintergründen, der im Restaurant seines Vaters als Koch mithalf, fasziniert war von Israel und dem Judentum, der deshalb die israelische Kampfsportart Krav Maga trainierte und im Oktober 2011in den Dienst der Gebirgsjäger der Bundeswehr treten wollte.

Im Kapitel „Selbstverteidigung“ zitiert Roswitha Quadflieg aus einem Gespräch mit Giuseppes älterem Bruder Velin: „Ich habe ihn oft gefragt, warum schwärmst du von Israel, von einer doch ziemlich aggressiven Armee, du siehst doch, was bei den Palästinensern läuft, wie sie leiden.

Was würdest du denn tun, wenn du dort Dienst an der Waffe leisten müsstest? Und er hat mir geantwortet, wenn es hart auf hart kommt, kann ich daneben schießen. Die Aufgabe einer Armee bestand für ihn nicht darin, anzugreifen, sondern Gesellschaften zu sichern...“ So ist dieses Buch: voller Überraschungen und Einsichten in eine Szene, die Idealisten für das wunderbare multikulturelle junge Berlin halten könnten.

Aber dazu gehören eben auch die Ali T.’s und Baris B.’s, die schon vor dem Zusammentreffen mit Giuseppe und Raul im U-Bahnhof Kaiserdamm Stress gemacht hatten. Der Ausgangspunkt des Streits war die Frage eines der Täter nach Zigaretten, worauf Giuseppe und Raul sagten, sie hätten nur noch zwei, die sie selbst rauchen wollten.

Mehr an die Gewalttaten erinnern

„Die Tat? Unfassbar“, sagt eine ehemalige Lehrerin, „so was werde ich nie verstehen. Aber sicher waren Giuseppe und Raul auch nicht um eine Antwort verlegen, als es hart auf hart kam.“ In solchen Sätzen liegt die große Stärke dieses Buches, das Giuseppe Marcone nicht glorifiziert oder überhöht – und ihn umso lebendiger und vielschichtiger erscheinen lässt.

Ihn, wie seine Familie und seine Freunde. „Was ich über die Täter denke? Das ist Berlin!“, sagt sein Freund Max S. „Jede Diskussion darüber ist zwecklos. Giuseppe hat es genau richtig gemacht: Abhauen. Es gibt immer Leute, die Stress wollen. Die aus Schwäche versuchen, sich mit Gewalt Respekt zu verschaffen.“

Roswitha Quadflieg glaubt, dass Giuseppe sich auf eine Schlägerei nicht einließ, weil es seine „Lebensphilosophie“ war, nicht zu schlagen. Und sie glaubt, dass es der Stadt Berlin gut täte, wenn man eine Möglichkeit fände, im öffentlichen Raum an die Opfer von Gewalttaten zu erinnern – dort, wo etwas geschehen ist.

Am Ende ihres Buches hat sie in einem Kalender der Gewalt Straftaten Jugendlicher und junger Erwachsener im öffentlichen Raum in den drei Jahren nach Giuseppe Marcones Tod aufgelistet: Er füllt fast zehn Seiten. Quadflieg nennt Fälle wie den von Giuseppe Marcone „gesellschaftlich verheerend“. Auch deshalb gibt sie die Hälfte des Honorars für ihr Buch an die Giuseppe-Marcone-Stiftung, die auf die Gewaltproblematik aufmerksam macht.

Roswitha Quadflieg will ihr Buch „Das kurze Leben des Giuseppe M. Ein Opfer von Jugendgewalt“ (erschienen im Transit-Verlag, 128 Seiten, 16,80 €) am 15. März um 20 Uhr in der Tucholsky-Buchhandlung vorstellen.

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