Tödliche Flucht: Bewährung für den Verfolger
Ein halbes Jahr nach dem Tod des 23-jährigen Giuseppe Marcone kam U-Bahnschläger Ali T. milde davon und frei. Das Gericht sprach im Urteil von einer "Verkettung unglücklichster Umstände"
„Nur Bewährung?“ zischte eine Zuschauerin leise. Es gab viele fragende Blicke, als der Richter die Urteile gegen die beiden U-Bahnschläger verkündete, die für den Tod des 23-jährigen Giuseppe Marcone verantwortlich sind. Für Ali T., den 21-jährigen Haupttäter, gab es am Donnerstag zwar einen Schuldspruch wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Die Strafe aber fiel milde aus: zwei Jahre Haft auf Bewährung. Zudem soll er 600 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Der 23-jährige Mitangeklagte erhielt wegen Körperverletzung vier Monate Haft auf Bewährung. Eine Hetzjagd, von der die Anklage ausging, sah das Gericht nicht.
„Es hat sich am 17. September auf dem Kaiserdamm eine Tragödie zugetragen. Da ist ein 23-jähriger Mensch völlig sinnlos gestorben“, begann Richter Ralph Ehestädt mit der Begründung des Urteils. Die Strafkammer war weit unter dem Antrag des Anklägers geblieben, der viereinhalb Jahre Haft Ali T. gefordert hatte. Das Gericht hatte sich wohl bereits darauf eingerichtet, dass die Entscheidung für Kontroversen sorgen könnte. Maßstab für eine Bestrafung sei die Schuld des Einzelnen, erinnerte Ehestädt. Es dürfe keine unangemessene Strafe verhängt werden, nur um abzuschrecken.
Ali T. hatte sich am Tatabend gestellt und saß seitdem in Untersuchungshaft. Im Prozess legte er ein Geständnis ab. T. und Baris B., zwei Freunde aus Neukölln, die bislang ohne Beruf und ohne Job eher ziellos durchs Leben gingen, suchten nach durchzechter Nacht Streit. Sie forderten auf dem U-Bahnhof Kaiserdamm Zigaretten von Giuseppe Marcone und dessen Freund Raoul S., sie pöbelten und wurden immer aggressiver. „Wir benahmen uns wie alkoholisierte Idioten“, sagte B. schlug zu, dann auch T., die Attackierten wehrten sich. Sie wollten dann nur weg von den beiden Schlägern.
Die Schuld des Verfolgers lag aus Sicht der Richter im "unteren Bereich".
Was danach geschah, war aus Sicht des Staatsanwalts eine Hatz. Ali T. habe sich an die Fersen von Giuseppe Marcone geheftet. Er habe das Opfer „vor das Auto gejagt“. Das Gericht ging in diesem Punkt jedoch in Richtung der Verteidiger, die der Version einer panischen Flucht in Todesangst widersprachen. Im Urteil war von einer Kurzschlussreaktion des Opfers die Rede. „Es war eine Flucht Hals über Kopf“, sagte der Richter. Es sei zu einer „Verkettung unglücklichster Umstände“ gekommen. „Wenn er etwas langsamer gelaufen wäre oder diagonal, wäre es nicht passiert.“ Giuseppe Marcone habe nicht auf die Straße geachtet, „weil er wusste, dass er verfolgt wird.“
Die Schuld des Verfolgers lag aus Sicht der Richter im „unteren Bereich“. Sie bewerteten den Fall als minderschwer. Die „Verteidigung der Rechtsordnung“ gebiete es auch nicht, dass Ali T. die Strafe verbüßt. Viele Passagen aus Urteilen des Bundesgerichtshofes verlas Ehestädt. Sie drehten sich auch um die Frage, ob diese Verfolgung überhaupt eine Körperverletzung mit Todesfolge sei, wie sie die höchsten Richter in Fällen erwiesener Hetzjagd annahmen. „Eigentlich müsste man eine psychische Verletzung mit Todesfolge einfügen“, stellte der Richter in den Raum. Mit dem Urteil legte das Gericht die Rechtsprechung weiter aus.
Reglos, gefasst und konzentriert saß Giuseppe Marcones Mutter im Gerichtssaal. Das Urteil wollte sie nicht kommentieren. Die Familie hatte stets betont, dass es ihr nicht um hohe Strafen gehe. „Wir wollen, dass die Öffentlichkeit noch mehr für Zivilcourage sensibilisiert wird, dass sich etwas in den Köpfen der Menschen ändert“, sagte die Mutter einmal. Sie hatte in bewegenden Worten ihren Sohn beschrieben. Giuseppe, der so viele Freunde hatte und so viele Pläne. Er wurde Koch, um Vater und Mutter im Lokal zu helfen. „Morgens saß er in der Schule, abends stand er am Herd, an den Wochenenden arbeitete er durch.“ Er wollte demnächst zur Bundeswehr.
Der Richter sprach der Familie „allerhöchsten Respekt“ aus. „Es geht ihnen nicht um Rache, sondern um Schaffung von Zivilcourage“. Am Ende des Prozesses ging Giuseppe Marcones Mutter auf Raoul S. zu und umarmte ihn. Er hatte nicht beobachtet, wie sein Freund auf dem Kaiserdamm in das Auto lief. Er hatte versucht, ihn wiederzubeleben. Er sah Giuseppe Marcone sterben. Täter Ali T. kam nach einem halben Jahr Haft frei.
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