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Seit dem 1. April 1975 arbeitet Marina König als Erzieherin in derselben Kita in Kreuzberg.
© Kitty Kleist-Heinrich

Kita in Berlin-Kreuzberg: Mein Leben als Erzieherin

232.000 Windeln hat sie gewechselt: Seit 43 Jahren arbeitet Marina König in derselben Kita in Kreuzberg. Doch um sie herum hat sich alles verändert. Ein Protokoll.

Von Maris Hubschmid

Manchmal kommen Eltern mit Handy am Ohr in die Kita und machen nur so eine Handbewegung Richtung Kind, dass es mitkommen soll. Wenn ich sowas sehe, sage ich extra laut Hallo oder Tschüss. Ich habe auch schonmal einer telefonierenden Mutter ein Blatt Papier unter die Nase gehalten und gesagt: „Dein Kind hat heute seinen ersten Kringel gemalt. Freu dich.“

In 43 Jahren habe ich für jedes Kind jedes Jahr ein Fotoalbum gebastelt, als Erinnerung. Ich gucke mir die selber so gern an, und dann staune ich. Früher sind wir hier auf kleinen Plastikeimern an Bändern balanciert, die liegen immer noch im Schuppen, aber die nutzt keiner mehr, weil die Kinder gar nicht wissen, was man damit macht. Ich muss lachen, wenn ich die Karohemden aus den Siebzigern sehe und unsere Haarschnitte aus den Achtzigern. Ich habe noch fast jeden Namen parat. Auf den Sommeraufnahmen aus den Neunzigern sind die Kinder nackig, jetzt sollen immer alle eine Unterhose anhaben, egal wie heiß es ist. Bevor ich Bilder machen kann, muss ich mir von jeder Familie eine schriftliche Genehmigung geben lassen. Mit dem Handy darf ich gar nicht fotografieren.

Mein erster Arbeitstag war der 1. April 1975. Eine Kinderpflegerin hat mir gezeigt, wie man eine Stoffwindel anlegt. Erst müssen die Pofalten richtig trocken sein, das Ganze ist ordentlich festzuziehen, aber nicht zu fest – gerade so, dass ein Finger am Bund dazwischen passt. Seit diesem Tag habe ich 232.000 Windeln gewechselt. Mindestens. 24 am Tag, bei durchschnittlich acht zu betreuenden Kindern, fünf Tage die Woche, 46 Wochen im Jahr. Den Urlaub rausgerechnet.

Ende der Siebziger war Kreuzberg ein Arbeiterviertel

Marina König, leuchtend rote, schulterlange Haare, großes freundliches Gesicht, will lieber schlicht „Marina“ genannt werden oder „Ina“. Weil diese, ihre Welt, eine Welt der Vornamen ist. Seit 43 Jahren ist sie Erzieherin in derselben Kreuzberger Kindertagesstätte, Solmsstraße 1. Ist selber in Kreuzberg aufgewachsen, Franz-Künstler-Straße, in der Alexandrinenstraße zur Schule gegangen.

Weit ist sie nicht gekommen – so könnte man es sehen. Aber während sie in dem flachen Zweckbau an exakt derselben Stelle die immer gleichen Handgriffe tat, hat der Kiez um sie herum sich verändert. Die Stadt hat sich verändert. Die Eltern. Die Kinder. Wenn diese Veränderungen beginnen, spürt Marina das vor allen anderen.

Wenn Marina spricht, dann schier grenzenlos geduldig. Da ist ein Schaukeln in ihrer Stimme, dass es scheint, als wöge sie einen damit wie auf dem Schoß. Marina sagt: „Ich gebe seit 43 Jahren mein Bestes.“ Die Sache ist: Die Eltern auch. Ihre Kinder sind das Wertvollste. Daran hat sich nichts geändert. Bloß die Auffassungen darüber, was das Beste für ein Kind ist, lagen noch nie so weit auseinander wie heute.

Ende der Siebzigerjahre ist Kreuzberg ein Arbeiterviertel. Die Bevölkerung setzt sich vornehmlich aus drei Gruppen zusammen: Berliner, häufig mit Wurzeln in Schlesien und Pommern, Gastarbeiter, überwiegend Türken, Jugoslawen, Griechen und Italiener. Schließlich junge Leute mit antiautoritärem Lebensgefühl – Studenten, Künstler, Abenteurer. Ein Recht auf Elternzeit oder gar Elterngeld gibt es nicht.

Auch heute liegt das monatliche Einkommen der Kreuzberger mit 1225 Euro im Schnitt am unteren Ende in Berlin. Doch in die einst besetzten, inzwischen teuer sanierten Häuser ziehen gut situierte Paare aus aller Welt, der Akademikeranteil steigt. Kreuzberger mit Migrationshintergrund verfügen mit 800 Euro pro Kopf nur über gut halb so viel Geld im Monat wie Kreuzberger ohne Migrationshintergrund (1500 Euro). Damals wie heute ist Kreuzberg mit 13.790 Einwohnern je Quadratkilometer der am dichtesten besiedelte Ortsteil Berlins.

Ihre Hochzeit 1975. Damals kam die Kindergartengruppe traditionell mit zum Standesamt.
Ihre Hochzeit 1975. Damals kam die Kindergartengruppe traditionell mit zum Standesamt.
© privat

Alkoholiker vergaßen, ihre Kinder abzuholen

Anfangs waren die Eltern hier Handwerker, Verkäuferinnen, Fließbandarbeiter. Harte Jobs, für die es wenig Geld gab. Wo jetzt der Raum der Sonnenblumengruppe ist, standen zwei große weiße Badewannen. Jeden Morgen haben wir jedes Kind gebadet, aus heutiger Sicht ein Wahnsinn, aber die Eltern waren dankbar dafür. Ich erinnere mich, manche hatten noch nicht einmal Warmwasser. Nach dem Waschen bekamen die Kleinen Einheitskleidung an, die der Kita gehörte. Braune oder rote Cordhosen und weiße Hemdchen.

Damals war die Hälfte der Kinder gerade mal acht Wochen alt, wenn sie zu uns kam. Die Mütter mussten arbeiten gehen, um die Miete zahlen zu können. Sie waren heilfroh, dass es uns gab, haben oft um Rat gefragt, wie sie ihr Kind beruhigen können, wie heiß die Milch sein sollte, sowas. Sie haben uns als Experten gesehen und geschätzt. Das hat sich allmählich gewandelt.

Wir hatten auch Alkoholikereltern, die in den Eckkneipen gesessen und vergessen haben, ihre Kinder abzuholen. Oder sie waren so betrunken, dass wir ihnen die Kinder lieber nicht mitgegeben haben. Da mussten wir manchmal die Kinder in eine Notunterkunft für die Nacht bringen.

In den Achtzigern standen häufiger Eltern vor mir, um sich zu verabschieden. Sagten, sie hätten gespart, damit sie wegziehen und ihre Kinder in einem „besseren Umfeld“ einschulen können.

Nach der Wiedervereinigung hatten wir eine enorm gemischte Klientel. Für viele hat alles neu begonnen. Einige Eltern waren ein bisschen hippiemäßig, zogen ihren Kindern nur gebrauchte Klamotten an oder ließen sie gleich nackt herumlaufen. Viele machten sich selbstständig. Manche notgedrungen, weil ihre Firmen im Osten dicht gemacht hatten. Anderen ging es um die Selbstverwirklichung, das war so ein neues Wort. Väter gründeten ihren eigenen Malerbetrieb oder so.

Heute sind die Eltern Kunden, die Erwartungen haben

Danach hat sich das wieder total gedreht. Bei den Elternabenden saßen auf einmal Psychologen, Wissenschaftler, eine Mutter arbeitete im Ministerium. In einer Gruppe waren allein drei Väter Regisseure. Das war um die Jahrtausendwende. Diese Eltern haben vielmehr hinterfragt. Bis vor knapp zehn Jahren war die Atmosphäre sehr familiär. Ich wurde zu Familien nach Hause eingeladen, und hatte am Wochenende neben meinen eigenen Söhnen häufig Kita-Kinder bei mir.

Sie hat kistenweise Briefe von Kindern, die ihr nach der Kindergartenzeit geschrieben haben.
Sie hat kistenweise Briefe von Kindern, die ihr nach der Kindergartenzeit geschrieben haben.
© privat

Von den jetzigen Eltern im Viertel arbeiten viele freiberuflich oder in Teilzeit. Dass jemand zur Frühschicht muss, ist die Ausnahme. Statt von sechs bis 18 Uhr öffnen wir jetzt um sieben und schließen um 17 Uhr. Früher hatten ja auch alle den gleichen Betreuungsanspruch, nun wird der nach der Arbeitssituation der Eltern festgelegt. Die meisten haben Verträge über fünf bis sieben Stunden und holen ihre Kinder trotzdem später ab.

Heute geben die Eltern ihre Kinder in die Kita, weil sie es wollen. Ich fühle mich eher als Dienstleisterin. Die Eltern sind die Kunden, die Erwartungen haben. Neulich hat mir eine Mutter erklärt, ihr Sohn solle nicht mit den anderen im Garten planschen, überhaupt besser gar nicht rausgehen, weil er schmutzig sei danach und sich oft erkälte. Ich sage gerne: Wer als Kind herummantscht, ist später ein besserer Liebhaber. Aber mit solchen Bemerkungen muss man jetzt vorsichtig sein. Die Mutter findet es auch nicht gut, dass ihr Sohn sich hier mittags ausruht, weil er dann abends nicht erschöpft genug ist. Auf dem Elternabend hat ein Vater vorgeschlagen, dass ich mit den Kindern mehr Zählen und das Alphabet übe, damit sie in der Schule einen Vorteil gegenüber den anderen haben.

Auch die Eltern haben Druck, das sehen wir. Viele sind zerrissen. Einige möchten am liebsten, dass wir ihnen täglich ausführlich berichten, was das Kind gegessen und erlebt hat. Aber kaum einer nimmt sich die Zeit, den Speiseplan zu lesen, oder registriert die Einladung zum Sommerfest am Schwarzen Brett.

Werden 1975 in Westdeutschland 15 von 100 bestehenden Ehen geschieden, sind es 1990 schon doppelt so viele – seit 2004 bundesweit fast jede zweite.

Ans Töpfchen gebunden, bis sie hineingemacht hatten

Seit 15 Jahren haben wir viel mehr Scheidungskinder. Manchmal schreien sich Väter und Mütter hier über die kleinen Garderoben hinweg an, und ich stehe mit einem Kind dazwischen. Für uns bedeutet jede Trennung mehr Ansprechpartner. Man kann nicht sicher sein, dass eine Info, die wir dem Vater geben, auch die Mutter erreicht.

„Die Schlafzeiten sind unbedingt einzuhalten. Das Kind hat ruhig im Bett zu liegen“, hieß es einst in den Statuten staatlicher Einrichtungen. Heute gibt es in den meisten Kitas Ruhephasen, die individuell gestaltet werden können. „Kinder sollen erfahren, dass das Ausruhen etwas Schönes ist, kein Zwang, aber eine Möglichkeit, geschützt neue Kraft zu tanken“, heißt die Devise nach der Berliner Kleinkindpädagogin Susanne Mierau.

Gab es 1975 nur vereinzelt Einrichtungen in freier Trägerschaft, werden heute lediglich 276 von 2500 Berliner Kitas von der Stadt verwaltet. Verbände wie die Arbeiterwohlfahrt und der Paritätische Wohlfahrtsverband, Vereine wie Fröbel, Unternehmen wie Klax oder die Montessori-Stiftung sowie eine zunehmende Anzahl an Elterninitiativen werben mit individuellen Konzepten und eigenen pädagogischen Schwerpunkten.

Körperliche Züchtigungen sind in Schule und Kindergarten seit den Siebzigerjahren untersagt. Seit 2000 sind in Deutschland jegliche Körperstrafen in der Erziehung grundsätzlich verboten. In der Kita in der Solmsstraße werden die Kinder halbjährlich nach der Leuwener Engagiertheitsskala beobachtet. Die Bögen fragen nicht danach, was ein Kind tut oder kann, sondern wie wohl es sich dabei fühlt.

Mit den älteren Kolleginnen hatte sie es schwer. Sie fanden Marina "zu weich", "keine Hilfe".
Mit den älteren Kolleginnen hatte sie es schwer. Sie fanden Marina "zu weich", "keine Hilfe".
© privat

Früher hat mir hier vieles nicht gefallen, aber ich habe mich nur selten getraut, etwas zu sagen. Die alten Kolleginnen machten alles Zackzack, füttern, wickeln, dann das Kind in den Laufstall, damit es aus den Füßen war. Die Gruppenleiterin band den Kindern das Lätzchen um, legte den unteren Teil auf den Tisch und stellte den Teller darauf, sodass die Kinder sich kaum bewegen konnten, ohne alles runterzuziehen. So sollten sie lernen, konzentriert zu essen und nicht zu hampeln. Mancherorts wurden Kinder solange ans Töpfchen gebunden, bis sie hineingemacht hatten. In unserem Haus habe ich das aber nicht erlebt.

In den Neunzigern wurden die Kinder nervöser

Die Verhaltensunterschiede der Eltern werden immer größer, sagt Marina König. Die Verhaltensunterschiede der Kinder auch.
Die Verhaltensunterschiede der Eltern werden immer größer, sagt Marina König. Die Verhaltensunterschiede der Kinder auch.
© Kitty Kleist-Heinrich

Wer nicht hörte, wurde in die Ecke gesetzt oder bekam sein Kuscheltier weggenommen. Wenn ich ein Kind auf dem Arm hatte, hieß es oft: „du verwöhnst es zu sehr“, oder „du bist keine Hilfe!“. Als Eltern anfingen, die Mitarbeiter für ihren Ton und ihr Handeln zu kritisieren, war das für mich eine Genugtuung, eine Befreiung. Den meisten Kolleginnen gefiel es aber überhaupt nicht, dass sie plötzlich über alles abstimmen lassen sollten.

Als 1999 die Idee von sanfter Eingewöhnung aufkam, haben manche mit den Augen gerollt, die eher so vom Typ „einfach schreien lassen“ waren. Doch man konnte sehen, dass es den Kindern gut getan hat, dass sie vertrauensvoller waren.

In den Neunzigern fing es aber auch an, dass die Kinder nervöser wurden. Viele konnten sich nicht mehr länger auf ein Bild oder ein Buch konzentrieren. Ich glaube, das war das Fernsehen. Manche Kinder saßen morgens schon zwei Stunden davor. Wenn wir Ausflüge gemacht haben, ins Museum oder in den Park, haben wir gemerkt, dass die Kinder im Straßenverkehr weniger sicher sind. Das kam, weil die plötzlich alle mit dem Auto gebracht wurden. Die Eltern haben sich nicht mehr getraut, die Kinder allein loszuschicken.

Insgesamt kommen mir die Kinder heute weniger robust vor. Sie rasten schneller aus, schubsen, schmeißen sich auf den Boden. Überschreiten Grenzen bewusster, provozieren gezielter. Bei einigen Kindern merken wir genau, dass die ihren älteren Geschwistern dabei zugucken, wie sie Videospiele spielen. Die Jungs haben immer mit Wasserpistolen gespielt, aber jetzt wirkt es viel brutaler.

Schwierige Kinder gab es in allen Generationen, und ich habe immer versucht, diejenigen besonders liebzuhaben, die von niemandem sonst das Lieblingskind waren. Den Begriff I-Kind, Integrationskind, kennen wir erst seit zehn Jahren, für verhaltensauffällige, entwicklungsverzögerte Kinder. Ich hatte noch nie so viele Kinder mit erhöhtem Förderbedarf wie heute. Andererseits habe ich einige ausgesprochen schüchterne. Wir haben viel mehr Schulrücksteller, weil Kinder den Anforderungen noch nicht gewachsen sind.

In Berlin fehlen 11.500 Vollzeit-Erzieher

Die Verhaltensunterschiede der Kinder werden immer größer. Die Verhaltensunterschiede der Eltern auch. Ganz wunderbar finde ich, wie sich die Rolle der Väter entwickelt hat. Die bringen und holen ihre Kinder jetzt ja genauso und kümmern sich, während ihre Frauen in den Beruf einsteigen. Vor ein paar Wochen haben hier Papas die Fenster geputzt und Trödel gemacht, um Geld für eine neue Nestschaukel zu sammeln. Ich wünschte, früher wären die Väter auch so engagiert gewesen.

Wenn ich zurückblicke, denke ich, dass die Kinder früher auch schneller Freundschaften geschlossen haben. Als sie noch draußen alleine unterwegs waren. Wir sehen heute, dass Kinder eher von ihren Eltern verkuppelt werden, mit Kindern, deren Eltern sind wie sie.

1975 besuchen in Kreuzberg 2581 Kinder unter sechs Jahren eine Kindertagesstätte – jedes vierte Kind. Zehn Jahre später sind es bereits mehr als die Hälfte. Inzwischen werden acht von zehn Kindern tagsüber fremdbetreut. Kreuzberg hat damit den höchsten Versorgungsgrad in Berlin.

1981 gibt es in Berlin 56.000 Kitaplätze. 2017 besuchen allein 52.000 Kinder im Alter von null bis drei eine Tageseinrichtung. Insgesamt zählt Berlin aktuell 174.000 Kitaplätze. Dennoch stehen in fast allen Bezirken Kinder auf der Warteliste

Laut Statistik fehlen in der Stadt nicht nur 3000 Plätze, sondern auch 11.500 Vollzeit-Erzieher. Rund 10.000 genehmigte Plätze können nicht besetzt werden, weil es nicht ausreichend Betreuer gibt. Stadtweit sind in Berlin 33.000 Personen in Kindertageseinrichtungen beschäftigt – aber nur 43,7 Prozent in Vollzeit. 71,9 Prozent der Betreuungspersonen verfügen über einen fachpädagogischen Ausbildungsabschluss. Im Durchschnitt verdient ein Vollzeiterzieher in Berlin 1600 Euro netto, 500 Euro weniger als in Brandenburg. Seit dem 1. August 2013 haben alle Eltern ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ihres Kindes Anrecht auf einen Kitaplatz, seit dem 1. August 2018 ist der für alle Familien kostenlos .

1990 streikten sie vor dem Tor der Kita zehneinhalb Wochen für mehr Gehalt. Vergeblich. Es waren zu viele Erzieherinnen aus dem Osten auf dem Markt.
1990 streikten sie vor dem Tor der Kita zehneinhalb Wochen für mehr Gehalt. Vergeblich. Es waren zu viele Erzieherinnen aus dem Osten auf dem Markt.
© privat

Unter den Bewerbern sind fast nie Fachkräfte

Als die Awo diese Einrichtung 2006 von der Stadt übernommen hat, haben wir hier 90 Kinder betreut. Heute sind es im selben Gebäude 131. Der Senat hat diese Kapazitäten anhand der Quadtratmeterzahl errechnet. Statt in Gitterbetten schlafen die Kinder jetzt auf kleinen Matratzen. Das spart Platz. Außerhalb der Sprechzeiten lassen wir keine fremden Besucher zum Büro unserer Leiterin durch. Die käme sonst zu nichts. Hier kommen Briefe von drei Monate alten Babys an, die anpreisen, wie gut ihre Mami backt oder der Papi tischlert. Das E-Mailfach der Kita kommt an Grenzen, weil Menschen reihenweise Babyfotos anhängen, in der Hoffnung, dass man ihre Mails dann nicht so schnell löscht.

Wenn ich Spätdienst habe und mit den Kindern im Garten bin, stehen manchmal plötzlich Eltern vor mir, die dicke Bewerbungsmappen abgeben wollen. Hätten wir doch nur annähernd so viele Bewerber auf die Erzieherstellen. Das Traurige ist, dass wir die ganze Misere schon lange haben kommen sehen. 1990 haben wir hier zehneinhalb Wochen gestreikt, wir haben jeden Tag vor dem Tor gestanden, für mehr Gehalt. Aber es war der falsche Zeitpunkt. Nach der Wende waren auf einmal viel zu viele Erzieherinnen auf dem Markt. Also war da immer eine, die für weniger Geld zu arbeiten bereit war. Damals hat die Stadt aufgehört auszubilden.

Unter den Bewerbern sind fast nie Fachkräfte. Den Leuten, die das Jobcenter schickt, fehlt oft die Motivation. Man muss das ja auch wollen: mit Kindern arbeiten. Viele brechen nach einem halben Jahr ab. Wir sind in einer andauernden Kennlernphase. Um Lücken zu stopfen, werden Mitarbeiter von Zeitarbeitsfirmen eingesetzt, die dürfen nichtmal mit den Kindern ins Bad.

Früher haben sie mit den Kindern Reisen gemacht, zum Beispiel nach Rügen. Das ist mit dem Personal heute nicht mehr zu stemmen.
Früher haben sie mit den Kindern Reisen gemacht, zum Beispiel nach Rügen. Das ist mit dem Personal heute nicht mehr zu stemmen.
© privat

In den City-Kitas verdienen Erzieher mehr, in Brandenburg auch. Da überrascht es nicht, wenn jemand dahingeht. Viele Kollegen wollen sich das nicht mehr Vollzeit antun. Bis auf zwei haben alle ihre Stunden reduziert. Früher haben wir Reisen mit den Kindern gemacht, auf einen Bauernhof oder nach Rügen. Das geht schon lange nicht mehr.

Jedes zweite Kind hat Migrationshintergrund

Die meisten ahnen gar nicht, wie viel Schreibarbeit wir jetzt haben. Anfangs musste ich bloß eine Anwesenheitsliste führen, jetzt bereiten wir Entwicklungsgespräche und Elternabende schriftlich vor und nach, führen Sprachlerntagebücher und dokumentieren das Sozialverhalten. Zweimal im Jahr ist eine Situationsanalyse gewünscht: Was was funktioniert gut, was fehlt? Ich verstehe die Idee, aber das alles ist Zeit, die uns mit den Kindern fehlt. Ich wollte auch nie einen Bürojob machen.

1975 haben in Kreuzberg 805 von 2581 Kitakindern einen Migrationshintergrund – gut ein Drittel. In den Achtzigern lassen sich so viele türkische Gastarbeiter in Kreuzberg nieder, dass der Senat einen Zuzugstopp für Ausländer in Kreuzberg verhängt.

Heute machen Migranten knapp ein Drittel der Anwohner in Kreuzberg aus. In den Kindertagesstätten hat die Hälfte der Kinder eine andere Muttersprache als Deutsch. Im Flur über der kleinen roten Bank in Marinas Kita hängt ein Zettel mit dem Foto eines Schafs: Liebe Eltern, wir wünschen allen Familien ein gesegnetes Opferfest.

Wir hatten immer türkische und lange auch viele jugoslawische Kinder. In den Achtzigern wurde das Viertel dann wirklich von Ausländern überflutet. Wir haben das damals nicht weiter berücksichtigt, es gab keine erklärten Integrationsansätze, überhaupt, das Wort kannte man kaum. Die Familien mussten sich anpassen. Es gab sogar die Regel, dass in der Kita nur Deutsch gesprochen wird. Ich weiß nicht, ob es daran lag, aber die Kinder haben damals schneller Deutsch gelernt. Sie waren allerdings auch jünger, als sie zu uns kamen. Jetzt gehen die meisten deutschen Mütter nach einem Jahr Elternzeit wieder arbeiten, ausländische Familien geben ihre Kinder oft erst mit drei zu uns.

Mit den arabischen Familien haben wir es oft schwer

Neuerdings haben wir auch viele Flüchtlingskinder, die fast gar kein Wort Deutsch können. Die verweilen natürlich länger in der Kita als andere. In der Schule wären sie heillos verloren. Aber so blockieren sie Plätze, die bei den Jüngeren fehlen.

Die meisten der türkischen Eltern heute finde ich klasse. Die sind enorm bemüht und liebevoll und bringen sich vorbildlich ein. Mit den arabischen Familien haben wir es leider oft schwer. Einige kommen grundsätzlich nicht zu Elternabenden und bringen ihre Kinder irgendwann am Vormittag vorbei – obwohl wir immer darum bitten, dass alle bis halb zehn da sind. Da fangen wir mit unserem Morgenkreis an. Wir haben schon oft darüber diskutiert, wie man das sanktionieren kann, aber wir wollen ja nicht die Kinder bestrafen. Die können nichts dafür.

Außerdem haben wir Familien aus Japan, den Niederlanden, Indien, Amerika, Frankreich, Äthiopien, Serbien, dem Irak, dem Iran und Syrien. Bis vor zwei Jahren hieß unsere Kita Sonnenschein II. Jetzt Lingulino. Auch viele Kollegen kommen aus anderen Ländern. Bruder Jakob wecken wir immer in fünf oder sechs Sprachen. Für viele ist die deutsche die schwierigste Strophe.

Früher gab es ein Gericht für alle. Jetzt macht Marina lactose- oder glutenfreies Essen in der Mikrowelle warm, das Eltern vorbereitet haben.
Früher gab es ein Gericht für alle. Jetzt macht Marina lactose- oder glutenfreies Essen in der Mikrowelle warm, das Eltern vorbereitet haben.
© privat

1992 veröffentlicht die Deutsche Gesellschaft für Ernährung erstmals eine Ernährungspyramide, die kohlenhydrathaltige Lebensmittel wie Reis und Nudeln gefolgt von Obst und Gemüse als wichtigste Nahrungsquellen kennzeichnet. 2008 beschließt der Berliner Senat eine Vereinbarung über die Qualitätsentwicklung in Berliner Tagesstätten, die festlegt, dass das Mittagessen „physiologisch ausgewogen, abwechslungsreich und schmackhaft“ sein soll. Seit 2012 beschäftigt sich ein eigenständiger Verein mit der Verbesserung der Kitakost. Die Richtlinien sehen vor, dass pro Woche maximal zweimal Fleisch, wöchentlich ein Fischgericht, ansonsten vegetarische Mahlzeiten sowie täglich frisches Obst und Gemüse angeboten werden. Das Frühstück wird nach wie vor von den Eltern mitgegeben.

In den Brotdosen sind Tiefkühlpizza und Chips

Früher gab es hier ein Essen für alle, Brei, Nudeln mit Gulasch, dieser Art. Schweinefleisch verarbeiten wir seit Mitte der Neunzigerjahre nicht mehr. Mittlerweile mache ich in der Mikrowelle lactose- oder glutenfreies Essen warm, das die Eltern vorbereitet haben. So viele Kinder haben Allergien. Ich würde es nicht mehr wagen, Nüsse zu verteilen. Wir haben einen eigenen Koch, der das Mittagessen frisch zubereitet. Das ist ein großes Privileg. Einige Eltern bemängeln trotzdem, dass nicht ausschließlich Bio eingekauft wird. Aber das könnten andere Familien nicht finanzieren.

Wenn ich in die Brotdosen gucke, sind da manchmal Tiefkühlpizza und Chips drin. Der Unterschied ist: Früher wussten es die Eltern nicht besser. Heute wissen sie es besser und handeln trotzdem nicht danach. In meiner Gruppe gibt es grundsätzlich keine Kekse, keine Gummibärchen. Ich versuche, den Kindern sprachlich Wertschätzung zu vermitteln: Ich sage: „Das hast du toll gemacht. Zur Belohnung bekommst du ein Stück rote Paprika.“

Kommende Woche wird Marina 63. Sie hat selber zwei Söhne geboren und großgezogen, Lars und Sebastian, nach zwei Beziehungen ihren Mädchennamen wieder angenommen und ist Großmutter geworden. Die Kinder, mit denen ihr Berufsleben begann, haben längst selber Kinder, von denen einige ihrerseits schon wieder erwachsen sind. Manche dieser Kinder leben heute in München, London, Melbourne. Wenn sie in der alten Heimat sind, gucken sie ab und zu vorbei. Wo Marina verlässlich am alten Platz steht und wickelt. Für eine Wohnung in der Gegend reicht ihr Gehalt heute nicht mehr. Sie ist nach Neukölln gezogen, vor Jahren schon.

Eines aber hat sich nie geändert:

Wenn ein Kind fällt, mich erwartungsvoll anguckt und zu weinen droht, breite ich die Arme aus und sage: „Komm her, ich heb dich auf.“ Diesen Satz habe ich mir schon vor dreißig Jahren ausgedacht. Er funktioniert fast immer. Das Kind rappelt sich auf und läuft auf mich zu, um sich trösten zu lassen.

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