Umzug wegen Hartz IV: Über ihre Verhältnisse
Als sie von den Plänen für die Sanierung hört, ahnt sie, was ihr blüht. Da ist sie schon arbeitslos. Um die steigende Miete zahlen zu können, versetzt sie einen Ring. Ein Armband. Doch das wird nicht reichen. Die Geschichte eines Zwangsumzugs.
Mit der Kündigung in der Manteltasche fährt Karen Bürger* ins KaDeWe. 100 Gramm Krabbensalat und eine Scheibe von der Gänseleberpastete. Fingerdick. Zu Hause schneidet sie Brot, zündet eine Kerze an, deckt den Tisch. Ein Teller, Messer, Serviette. Jetzt nur nicht verwahrlosen. Als sie sitzt, ist auch die Angst da. Kriecht mit jedem Bissen in ihr hoch. Wie soll es weitergehen? Da weint sie, endlich, erst leise, dann laut, bis sie nichts mehr schmeckt, keinen Appetit mehr hat.
„Damals habe ich genau diesen Moment gefürchtet“, erzählt sie. Hinter ihr tragen zwei muskelbepackte Männer den schweren Esstisch aus der Wohnung. Das wäre dann das letzte große Teil, der Bauernschrank ist schon unten, das Klavier ist längst verkauft. Karen Bürger zieht um. Weil sie sich ihr Zuhause nicht mehr leisten kann. Erst wurde sie arbeitslos. Dann lebte sie von Erspartem. Dann bekam sie Hartz IV. Doch diese Wohnung hier ist größer, als ihr zusteht, kostet mehr Geld, als das Amt ihr zahlt. Karen Bürger lebte über ihre Verhältnisse. Eine Weile ging das gut. Dann ging es noch. „Jetzt geht es nicht mehr“, sagt sie.
Karen Bürger, klein, kräftige Wangenknochen, kurzes dunkles Haar, zog 1996 mit ihrem Mann in das Haus ein, das sie jetzt verlassen muss. Damals war die Fassade grau und unverputzt, „wie in der DDR“, sagt sie, doch dies war Westdeutschland: Kreuzberg an der Grenze zu Schöneberg, eine ruhige Straße abseits des Trubels. Von Anfang an hatten sie sich heimisch gefühlt. Karen Bürger und ihr Mann kloppten die Kacheln eigenhändig aus dem Badezimmer, in dem es noch Ofenheizung gab, machten alles neu. Dass dies eine Mietwohnung war, störte sie nicht. Sie wollten lange bleiben.
Ihr Mann verließ sie. Seitdem zahlt sie für zwei
Kinder bekamen sie keine. Sie konnte nicht. Darum reichten die 82 Quadratmeter gut. „Wir hatten uns damit abgefunden, dass wir zu zweit bleiben würden, mein Mann und ich“, sagt sie. Ihren Mann, so nennt sie ihn, doch verheiratet waren sie nie. Als sie sechs Jahre hier wohnten, ging er. Hatte eine Jugendliebe wiedergetroffen. Einige Monate danach erfuhr sie, dass er doch noch Vater werden würde. Seither lebt Karen Bürger allein.
In Deutschland beziehen 4,3 Millionen Menschen Hartz IV, offiziell Arbeitslosengeld II genannt. In Berlin sind es 305 000, mehr als 16 Prozent der Bevölkerung. 70 000 von ihnen, heißt es beim Berliner Mieterverein, leben in einer Wohnung, die außerhalb des vom Gesetz als angemessen definierten Kostenrahmens liegt. Seit 2011 mussten deshalb mehr als 2000 Haushalte umziehen. In den meisten Fällen ordnete das Jobcenter den Umzug an, nachdem die Miete gestiegen war.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich das Haus, in dem Karen Bürger zurückblieb, sehr verändert. Erst wurde es leuchtend gelb gestrichen, dann baute man das Dach aus, man riss Wände ein, legte Sisal ins Treppenhaus. Über die neuen großen Briefkästen freute Karen Bürger sich noch, auch wenn das „Brigitte“-Abo da schon gekündigt war. Als sie von den Plänen für die energetische Sanierung hörte, ahnte sie, was ihr blühte. Da war sie schon arbeitslos. Man kann sagen, ihr Leben entwickelte sich konträr zu dem des Hauses: Je glanzvoller das Gebäude wurde, desto glanzloser wurde das Dasein hinter der Tür im zweiten Stock links.
408 Mal bewirbt sie sich – vergeblich
Karen Bürger hat Bürokauffrau gelernt. Ihre letzte Anstellung hatte sie in der Verwaltung eines größeren Berliner Unternehmens. Ihr finanzieller Niedergang begann, als eine neue Geschäftsführung entschied, ihren Arbeitsbereich „auszulagern“: Bürger wurde gekündigt, betriebsbedingt. 2011, da war sie 51. „Ich hatte gedacht, dass sie mich anderswo einsetzen würden“, sagt sie. Aber der neue Chef bat sie nur noch, alles abzuwickeln – für einen „sauberen Abgang“. An den Wortlaut erinnert sie sich genau.
In einem dunkelgrünen Leitz-Ordner hat sie die Kopien aller Bewerbungen abgeheftet, die sie seit jenem Tag geschrieben hat. 408 Anschreiben – Belege für ihre Bemühungen, vergebliche. Als sie anfängt, ihre Wohnung aufzulösen, schmeißt sie den Ordner in den Müll.
Statistisch gesehen sinkt die Wahrscheinlichkeit, einen Job zu finden, mit der Vollendung des 50. Lebensjahres deutlich. Deshalb gesteht der Gesetzgeber Menschen, die über 50 sind, länger Arbeitslosengeld I zu. Doch nach 15 Monaten stellt die Arbeitsagentur auch bei Karen Bürger die Zahlungen ein. Nun muss sie ihr „Vermögen verwerten“.
„Geerbt habe ich nicht“, sagt Karen Bürger. Holt ein Foto ihrer schönen, jungen Mutter hervor. Die starb, als sie elf war. Ihr Vater, 84, lebt mit seiner langjährigen Partnerin in Tschechien. „Hat selber nichts.“ Gespart hat sie auch nicht, seit ihr Mann weg ist. „Von da an zahlte ich die Miete, die wir teilen wollten, ja für zwei.“
Karen Bürger macht Kassensturz. Sie kündigt die Hausratversicherung, meldet den alten roten Fiat ab, der auf dem Gebrauchtwagenmarkt noch 450 Euro bringt. Der Bausparvertrag trägt sie über fünf Monate, das Sparbuch über drei. Zuletzt löst sie auch ihre Lebensversicherung auf. Noch immer hofft sie auf einen Job.
Zum Friseur geht sie nicht mehr
Am Ende billigt das Amt ihr Gesamtwohnkosten in Höhe von 407 Euro im Monat für Miete und Heizung zu. Die tatsächliche Miete beträgt 540 Euro. Sechs Monate, sagt der Mann vom Jobcenter, übernehme das Amt auch die Differenz. Damit sie in Ruhe eine neue Wohnung suchen kann. Ihre Freundin sagt: „Ich helfe dir.“ Sie sagt: „Ich finde eine andere Lösung.“ Ein halbes Jahr Aufschub. Ein halbes Jahr hoffen. Ein halbes Jahr – ist schnell vorbei.
Der Mietzuschuss wird ihr am Valentinstag gestrichen. In Ausnahmefällen dürfen Leistungsempfänger in ihrer zu teuren Wohnung bleiben, wenn das Amt einsieht, dass die geringe Ersparnis die Umzugskosten nicht rechtfertigt. „Wir haben hier so viel reingesteckt“, sagt Karen Bürger. „Das ist mein Leben.“ Auf dem Tisch, an dem sie einst Krabben aß, liegen jetzt Broschüren mit Informationen für Bedürftige. Einen Begriff hat sie rosa markiert: „Besondere Härte.“ Wo die gegeben ist, kann das Jobcenter einen Umzug als unzumutbar einstufen. Dass bei ihr keine besondere Härte vorliegt, weil sie weder schwanger, krank, alt noch behindert ist, das hat sie – rational – begriffen. Emotional, sagt sie, „spüre ich die besondere Härte jeden Tag“.
Der Mensch und sein Gehäuse: Sie zu trennen bedeutet Schmerz. Der Ort, an dem man sich zu Hause fühlt, ist mehr als ein Dach über dem Kopf. Er ist mit dem Wesen, das darin lebt, verbunden. Wer diesen Rückzugsort verliert, wird unsicher, verletzlich. Junge Menschen glauben noch, dass mit Veränderungen Verbesserungen einhergehen. Karen Bürger glaubt das nicht mehr.
Den Schmuck trägt sie zum Pfandleiher
Hartz IV bedeutet Abstieg. 391 Euro im Monat, abzüglich der 133, die sie jetzt für die Miete abzweigt, bleiben 258 für Essen, Strom und alles andere. Zum Friseur geht sie nicht mehr, sie schneidet selbst. Mineralwasser gibt es nur noch, wenn Besuch kommt. Den Stammtisch ihrer einstigen Sportgruppe sagt Karen Bürger immer häufiger ab. Es tue ihr weh, wie die anderen sie angucken, sagt sie. „Da fühle ich mich wie die arme Verwandte.“
Ab und an steckt eine Cousine in Bayern, wo Karen Bürger aufgewachsen ist, ihr einen Fünfziger in den Umschlag. Manchmal kauft sie sich davon etwas außer der Reihe, manchmal braucht sie das Geld für die Miete. Und manchmal reicht es nicht einmal dann. „Du musst etwas Strukturelles ändern“, sagt ihre Freundin. „Du verstehst mich nicht“, sagt Karen. Die Cousine dagegen macht ihr Mut. „Jemand wie du, der bleibt doch nicht arbeitslos“, sagt sie. Ob sie ihre Schulzeugnisse mitschicke, wenn sie sich bewerbe? Karen Bürger war einmal Klassenbeste.
Nun macht sie Bekanntschaft mit dem Pfandleiher. Sie versetzt einen Ring und ein Silberbesteck ihrer Großmutter. Das Goldarmband, das sie zur Konfirmation bekommen hat, holt sie nicht mehr ab.
Welchen Wert hat ein geliebtes Zuhause im Vergleich zu anderen Annehmlichkeiten des Lebens? Einem Kinobesuch, einem neuen Paar Schuhe? „Einen hohen, wenn man die Alternativen kennt“, sagt Karen Bürger. Es sei ja nicht so, dass sie sich nicht für den Wohnungsmarkt interessiere. „Überall, wo es ein bisschen nett ist, kostet es die Hälfte mehr als hier.“
Im selben Kiez eine neue Bleibe zu finden, das sei heutzutage das große Problem, heißt es beim Mieterverein Berlin. Laut Sozialgesetzbuch muss es einem Hartz-IV-Bezieher möglich sein, eine „einfache Wohnung im unteren Preissegment“ anzumieten. In Kreuzberg ist die Mehrheit der Straßen als einfache Wohngegend eingestuft. Doch die Entscheidung, was an Mietkosten angemessen ist, wird anhand der Bestandsmieten festgelegt, nicht nach den Preisen bei Neuabschlüssen.
Dinge, die Karen Bürger früher selbstverständlich waren, betrachtet sie jetzt voller Zärtlichkeit. Das fein geschwungene Balkongeländer, die Lichtreflexe, die am Morgen in ihre Küche fallen. Dann wieder streift sie mit suchendem Blick durch die Räume und überlegt, was sie noch veräußern könnte. Zehn in Leinen gebundene Bücher. Das gute Geschirr ihrer Mutter. Nur die Suppenterrine behält sie.
Am schwarzen Brett wird eine Putzfrau gesucht
Wenn es gar zu knapp wird, leiht sich Karen Bürger Geld bei ihrer Cousine. Wenn die Wurfsendungen kommen, kreist sie die Angebote der Discounter ein. Eines Tages bringt sie von dort außer Dosentomaten auch einen Papierschnipsel vom schwarzen Brett mit heim. Drei Tage dauert es, ehe sie die Nummer wählt. „Sie sind die Putzfrau?“, fragt der Mann, der ihr zwei Häuserblocks weiter die Tür öffnet. „Ich möchte mich als Ihre Haushälterin bewerben“, sagt sie.
Immer freitags wischt sie von da an seine Hochglanzküche, schrubbt seine Toilettenschüssel. Pult die Haare wechselnder Freundinnen aus dem Abflusssieb. Die Wohnung sei kühl, sagt sie, der Mann auch. Aber er zahle pünktlich. „Und er geht aus dem Haus, wenn ich komme.“ Darüber ist sie froh.
Mit Schwarzarbeit könnte es gehen, merkt Karen Bürger. Doch mit Schwarzarbeit darf das Jobcenter nicht kalkulieren. In der Regel wird die Aufstockung der Miete aus dem Unterhalt nur für begrenzte Zeit toleriert. Das Amt müsste sich sonst vorwerfen lassen, seine Fürsorgepflicht zu vernachlässigen: Es gab Fälle, da magerten Mieter sichtbar ab, um ihre Wohnung zu halten.
Bei Karen Bürger wird die Entscheidung der Behörde leichtgemacht. Zwei Monate lang gibt es ein Gerüst und Dreck, danach gelbe Hartschaumplatten und die Mieterhöhung. Laut Gesetz darf der Vermieter elf Prozent der Kosten für eine Modernisierung auf die Mieter umlegen. Karen Bürger soll 1,70 Euro mehr pro Quadratmeter zahlen, 137,70 Euro mehr im Monat. Am Tag, an dem sie die Ankündigung im Kasten hat, betrinkt sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit. Und wirft vier Eier an die eigene Fassade.
Von Kreuzberg nach Marzahn
Zehn Wochen später findet der Umzug statt. Es ist Anfang November, einer der ersten regnerisch-kalten Tage des Jahres. Die letzten schönen Tage hat Karen Bürger damit zugebracht, ihr Leben in Zeitungspapier zu wickeln. Die Terrine ihrer Mutter, die Rahmen mit Bildern aus besseren Zeiten. Behüten, was bleibt.
Das Ecksofa und den Schreibtisch hat sie weggeben müssen. Eine Kommode und acht Kartons hat sie bei ihrer Freundin untergestellt. „Vorübergehend.“ Da hat die Freundin stumm genickt.
Vorübergehend also zieht Karen Bürger jetzt nach Marzahn. Ein Plattenbau, 49 Quadratmeter für je 6,20 Euro kalt. Den Nachbarn gegenüber hat sie von Lichtenberg gesprochen. „Es sind nur wenige Kilometer Unterschied“, sagt sie.
Als alles leer geräumt ist, geht sie ein letztes Mal durch die Zimmer. Betrachtet die Abdrücke, die verraten, wo ihre Möbel gestanden haben. Die nackten Nägel in der Wand. Dann schließt sie ab.
Zurück bleibt die Fußmatte, die Karen Bürger bei einer Weihnachtstombola in der Firma gewonnen hat. Der letzten, an der sie teilnahm. Sie trägt die Aufschrift „Home, Sweet Home.“
Ihre nächste Wohnung, sagt Karen Bürger, als der Umzugswagen anrollt, wolle sie wieder hier im Kiez nehmen. „Aber dann mit Südbalkon.“
*Name geändert
Dieser Text ist auf der Dritten Seite des Tagesspiegels erschienen.