175 Jahre Kindergarten in Deutschland: Wo Kinder die Welt entdecken
Er dachte die Pädagogik vom Kinde her: Vor 175 Jahren gründete Friedrich Fröbel in Thüringen den ersten Kindergarten. Die Kontroverse um die richtige Betreuung von Kindern außerhalb der Familie hält bis heute an.
Das Kitapersonal kämpft dieser Tage für adäquate Entlohnung und mithin für eine höhere Wertschätzung seiner Arbeit. Auch sonst ist die Situation der frühkindlichen Bildung in der Bundesrepublik mitnichten optimal. Zu große Gruppen, die von zu wenigen gut ausgebildeten Kräften betreut werden, die mangelhafte Versorgung mit wohnungsnahen Kitaplätzen – überall gebe es Nachholbedarf, sagt die Berliner Pädagogik-Professorin Iris Nentwig-Gesemann von der Alice-Salomon-Hochschule.
Wie wichtig ist es, Kinder außerhalb der Familie professionell zu betreuen? Und welche Ausbildung brauchen ihre Erzieher? Diese Kontroverse ist fast so alt wie der Berufsstand selbst. Vor 175 Jahren, am 28. Juni 1840, rief Friedrich Fröbel im beschaulichen Bad Blankenburg in Thüringen den ersten Kindergarten ins Leben – und empfahl eine „Pädagogik vom Kinde her“. Sie sollte weniger auf Autorität als vielmehr auf systematische Hilfe zur Entfaltung setzen.
Eine Alternative zu den Verwahranstalten für Arbeiterkinder
Fröbel hat die Kinderbetreuung nicht erfunden. Im Zuge von Landflucht und Industrialisierung entstanden in vielen deutschen Städten erste Betreuungseinrichtungen – als Verwahranstalten für die Kinder der Arbeiterschaft. Auch wenn sie mitunter einem karitativen Motiv folgten: „Ein wesentliches Anliegen war es, dem Arbeiterkind einen Untertanenhabitus zu implementieren und es auf sein klassenspezifisches Los einzustellen“, sagt Wolfgang Tietze, Pädagogikprofessor an der Freien Universität. Bildung wurde in diesen Verwahranstalten kaum vermittelt.
Das Fröbel’sche Projekt betonte dagegen das Spiel als die dem Kind natürliche Weise der Welterfahrung. Es verfolgte eine Anthropologie, die es als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft dachte. Reformpädagogische Ansätze, die die Würde des Kindes und sein Recht auf freie Entfaltung betonten, gab es schon deutlich früher – von Comenius bis Pestalozzi. Auch in seiner Zeit steht Fröbel nicht allein da. Sein Denken entsteht in einem aufklärerischen Diskursraum, der „eine Explosion der pädagogischen Theorie produzierte“, erklärt der Jenaer Erziehungswissenschaftler Michael Winkler. Im Anschluss an Rousseau und andere debattierte man in den Salons über den Menschen und die Bedingungen optimaler Entwicklung. „Das wirklich Neue an Fröbel aber war der Professionalisierungsansatz, es wurden Kernkriterien formuliert, die einen Erzieher ausmachen“, sagt Nentwig-Gesemann. „Mütterlichkeit wurde nicht mehr als Beruf verstanden.“
Zeitweise wurden die Fröbel-Häuser in Preußen verboten
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich heftige Kontroversen – zwischen konfessionellen Kleinkinderschulen, die Erziehung jenseits der Familie weiterhin nur als Notbehelf verstanden, und dem Fröbel’schen Kindergarten. Zeitweise wurde der gar von der Preußischen Regierung wegen Verdachts auf atheistische und sozialistische Tendenzen verboten, aber durch die Fürsprache prominenter, vorwiegend weiblicher Fröbel-Anhänger wieder zugelassen.
Der Konflikt wirkt bis in die Gegenwart, hallt nach in den politischen Debatten ums Betreuungsgeld, welches Frauen, die Mütter werden, dazu animiert, sich auf eben jene Rolle zu beschränken. Die sogenannte Herdprämie scheint dabei einem tradierten Reflex gegen außerfamiliäre Erziehung geschuldet. „Das Konzept Familie als besonders schützenswerter Ort hat vor allem in Deutschland eine starke Tradition“, sagt Nentwig-Gesemann.
Im Nationalsozialismus gab es einen regelrechten Mutterkult, gleichwohl wurden die Kindergärten ab 1937/38 stark ausgebaut. Die deutsche Regierung setzte auf Kriegswirtschaft und benötigte zunehmend auch Frauen als Arbeitskräfte. Dass Fröbels Ideen zur individuellen Entfaltung bei den Nazis keinen Anklang fanden, ist nicht weiter verwunderlich. Der NS-Kindergarten diente vielmehr als durchideologisierte Brutstätte für künftige Mütter und Soldaten.
Die DDR setzte auf Fröbel, im Westen blieben Kindergärten ein Notbehelf
In der Nachkriegszeit erlebte Fröbel dann ein Revival – ironischerweise auf der totalitären Seite des Eisernen Vorhangs. Die DDR-Pädagogik berief sich auf den Begründer des Kindergartens und pries dessen Didaktik. Sie sollte dem Kleinkind zur Entfaltung seiner sozialistischen Persönlichkeit verhelfen.
In der Bundesrepublik blieb das ideologische Korsett der traditionellen Familie bis in die 60er Jahre weitgehend zugeschnürt. Der Kindergarten wurde vornehmlich als „Schonraum“ erachtet, als Notbehelf für Eltern, die ihren Erziehungsaufgaben nicht nachkommen konnten. „In Westdeutschland bleibt die frühkindliche Pädagogik konzeptionell blind“, sagt Winkler. Anstöße kamen allein aus der linksalternativen Kinderladenbewegung, die über Elterninitiativen gegen den kirchlich-autoritären Muff der staatlichen Kindergärten rebellierte und vor allem aufs freie Spiel vertraute.
Nach dem Pisa-Schock sollen Kitas zu Bildungsstätten werden
Zwar hatte der Sputnikschock von 1957, nach dem der Ostblock dem Westen technologisch ebenbürtig, wenn nicht überlegen schien, bereits Debatten über einen Ausbau des Kindergartens zur vorschulischen Bildungsstätte ausgelöst. Ein wirkliches Umdenken hat es in Deutschland aber erst lange nach der Wiedervereinigung gegeben – vor allem durch den Pisa-Schock von 2001. Das schlechte Abschneiden bundesdeutscher Schüler wurde zu großen Teilen auf eine mangelhafte frühkindliche Bildung zurückgeführt. In allen Bundesländern folgten hierauf politische Reformen der Kleinkindpädagogik.
"Eltern haben Angst, ihre Kinder könnten auf der Strecke bleiben"
Heute steht das Bildungsmoment im gesellschaftlichen Diskurs ganz oben, nimmt aber, wie Nentwig-Gesemann, Winkler und Tietze einhellig betonen, oft völlig überreizte Züge an. Früh-Chinesisch und Wirtschaftskunde im Kinderladen: Im neoliberalen Zeitalter mutiert der Bildungsgedanke zuweilen zum Förderwahn. „Es gibt eine deutliche Tendenz in der Gesellschaft“, sagt Nentwig-Gesemann. „Viele Eltern haben Angst, dass ihre Kinder auf der Strecke bleiben, wenn sie nicht schon ganz früh im Hinblick auf eine wettbewerbsfähige Bildungsbiografie gefördert werden.“ Aber Eltern haben die Wahl, ihnen steht ein pluralistisches Angebot auch reformpädagogischer Ansätze zur Verfügung.
Kinder müssen lernen, ihre eigenen Interessen zu vertreten
„Wir wissen heute, dass Kinder nicht mit schulischem, fächerorientiertem Lernen vorankommen“, sagt Tietze. Sie bräuchten vielmehr Entdeckungsräume, vielfache Anregungen. Und sie müssten lernen, eigene Interessen zu entwickeln. „Der Kindergarten heute wird als Bildungseinrichtung verstanden, nur funktioniert Bildung bei Kleinkindern eben anders als bei Älteren.“ Michael Winkler meint sogar, es verbiete sich, im Hinblick auf Kleinkinder überhaupt von Bildung zu sprechen: „Das folgt einer Idee vom Humankapital, von der Optimierung des Einzelnen und einer rentablen Investition in Köpfe. Mit gesunder Pädagogik hat das nicht das Mindeste zu tun.“
Eine fächerbezogene Beschulung der Allerkleinsten wäre auch nicht im Sinne Fröbels gewesen. Der setzte vielmehr auf ganzheitliche Erfahrung, auf eine spielerische Aneignung der Prinzipien der Welt, die das Kind dann mit den ihm bereitgestellten Materialien nachbauen sollte. 175 Jahre nach der ersten Kindergartengründung ist sein Denken so aktuell wie nie.
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