Häusliche Gewalt in der Coronakrise in Berlin: „Manchmal kommen Anruferinnen gar nicht durch“
Doris Felbinger vom Berliner Verein BIG über die Zunahme häuslicher Gewalt und Lücken im Hilfsangebot – auch bei der Prävention.
Frau Felbinger, jede vierte Frau in Deutschland erleidet mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt durch einen (Ex-)Partner. Vieles deutet darauf hin, dass der Lockdown in der Coronakrise zu einer Verschärfung der Gewalt geführt hat. Ihr Verein, der BIG e.V, betreibt auch eine zentrale Beratungshotline. Wie sind Sie jetzt ausgelastet?
Die BIG Hotline ist ein Gemeinschaftswerk. Wir betreiben sie in Kooperation mit fünf Fachberatungs- und Interventionsstellen, die zu ihren Öffnungszeiten jeweils einen Wochentag die Beratung an der Hotline übernehmen. BIG e.V. selbst deckt die anderen Zeiten ab, also 8 bis 9 Uhr und 18 bis 23 Uhr, sowie am Wochenende und an den Feiertagen.
Zu manchen Zeiten kommen Anruferinnen gar nicht durch, weil die Hotline bei BIG mit immer nur einer Beraterin und in den Beratungsstellen mit in der Regel zwei Beraterinnen besetzt ist. Und es gibt ja auch oft länger dauernde Anrufe, in diesem Jahr waren etwa 40 Prozent der Gespräche bisher länger als eine Stunde. In Fällen akuter häuslicher Gewalt raten wir daher immer dazu die Polizei zu rufen.
Sind es jetzt tatsächlich mehr Anruferinnen als vor der Corona-Pandemie?
Wir hatten ja die eigentümliche Situation, dass es zunächst im März einen deutlichen Rückgang der Anrufe um etwa 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gab. Die Frauen waren plötzlich mehr oder weniger rund um die Uhr mit einem möglicherweise gewalttätigen Partner in der Isolation, ein anderer Alltag mit den Kindern musste organisiert werden, da blieb oft weder Zeit noch Raum für Anrufe bei einer Hotline. Dann stieg die Anruferzahl im April plötzlich um 20 Prozent an. Im Mai waren es noch rund sechs Prozent mehr als im Vorjahr. Es gibt also eine leichte Steigerung an Bedarf. Ich denke, das wird noch eine Weile anhalten.
Woran, glauben Sie, liegt das?
Einerseits gibt es aktuell eine breitere Öffentlichkeit und größere Sensibilisierung und Aufmerksamkeit für das Thema, etwa über die Hilfetelefonnummern auf Plakaten in Supermärkten. Das Umfeld, die Nachbarn sind eventuell auch wachsamer, fragen nach, bieten Unterstützung an. Für Unterstützerinnen ist die Hotline auch da.
Das heißt, es kommt mehr aus dem Dunkelfeld ans Licht?
Ja, auch das. Aber für viele Frauen ist es eine unfassbar belastende Situation gewesen, in der Zeit, als sie keinen Weg nach draußen hatten. Wir begrüßen natürlich, dass das Thema in all seiner Dringlichkeit jetzt mehr öffentlich diskutiert wird. Die Corona-Situation hat ein Brennglas darauf gelegt.
Was ist das Erste, was sie tun, wenn eine Frau sagt, sie ist akut von Gewalt betroffen?
Die Beraterin versucht die Situation zu klären: Ist sie allein? Wo ist der Partner? Kann sie gut sprechen? Besteht Gefahr, ist er bewaffnet? Sind Kinder da? Will sie weg, kann sie weg? Manche Frauen möchten nur reden. Es geht nicht immer um körperliche Gewalt. Manche sind unsicher, ob sie überhaupt ein „Recht auf Hilfe“ haben. Wir suchen mit der Frau individuell den Weg, den sie gehen will.
Sie wollen die Frauen bei den ersten Schritten aus der Gewalt begleiten?
Dazu muss man wissen, dass es statistisch gesehen sieben Anläufe braucht, bis eine Frau eine gewaltvolle Beziehung verlässt. Wir informieren über die Möglichkeiten, die die Betroffene im Hilfesystem hat. Falls sie einen Frauenhausplatz braucht und wir können ihr keinen vermitteln, weil die Häuser voll sind, sondieren wir Alternativen.
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Zum Beispiel ob sie bei einer Freundin oder Verwandten unterkommen könnte. Manchmal müssen wir auch an Frauenhäuser in anderen Bundesländern vermitteln. Es ist einerseits ein sachliches Klären aber auch ein Auffangen der emotional sehr aufgeladenen Situation, in der die Frau steckt.
Wenn eine Frau nach 23 Uhr anruft, ist die Hotline nicht besetzt, was dann?
Wir haben eine Ansage freigeschaltet, dass die Hotline für die spezifische Beratung zum Berliner Frauenhilfesystem und die Vermittlung in Frauenhäuser am nächsten Morgen um 8 Uhr wieder erreichbar ist und dass man für eine allgemeine Beratung zur häuslichen Gewalt das bundesweite Hilfetelefon anrufen kann, nur das informiert leider nicht über Hilfemöglichkeiten speziell in Berlin. Wenn es akut ist, sollten diese Frauen die Polizei rufen.
Was würden Sie den Frauen dagegen lieber anbieten?
Es braucht eine 24-Stunden-Hotline, verknüpft mit ausreichenden Unterbringungsmöglichkeiten für Frauen und ihre Kinder in Berlin, auf die vermittelt werden kann. Derzeit gibt es zumindest genug Schutzplätze, weil der Senat in der Coronakrise glücklicherweise schnell reagiert hat und bekanntlich zwei Stadthotels, in die die Frauen auch nachts einchecken können, angemietet wurden. Durch die Abstandsgebote sind die Plätze in den Frauenhäusern noch knapper als sonst.
Berliner Hotels können ja nach dem Lockdown langsam wieder hochfahren und Gäste empfangen. Wissen Sie, wie lange die beiden Hotels noch für Frauen Anlaufpunkt sind?
Nein, wir wissen es nicht. Auch das ist für uns schwierig. Und wir fragen uns auch: Wann öffnet endlich das angekündigte siebte Frauenhaus? Ursprünglich hieß es mal, dass im Januar 2020 die ersten Plätze belegt werden sollten.
Was bräuchten Sie, um eine 24-Stunden-Hotline mit einer angebundenen Nachtunterbringung anbieten zu können?
Eine bessere personelle Ausstattung, damit die Frauen ausreichend betreut sind. Am besten sollten die Frauen nachts abgeholt werden können. Auch auf die Kinder müsste noch mehr Augenmerk gelegt werden. Wir haben mal ausgerechnet, dass es jährlich eine gute Million Euro bräuchte. Aber das ist eine ganz grobe Kalkulation. Denn natürlich wäre das eine Drei-Schicht-Besetzung, man braucht ausreichend Back-ups. Es wäre psychosoziale Beratung und aber auch eine Erzieherin für die Kinder nötig.
War dieser Bedarf jemals gedeckt?
In der Zeit, als wir die Anlaufstelle und die Rund-um-Uhr besetzte Hotline hatten, war die Zahl der Frauenhausplätze zur Weitervermittlung nicht ausreichend. Also nein. Es ist aber auch klar, dass wir die Angebote nicht ins Endlose aufblasen können, dafür würden gute Präventionsangebote helfen, damit es gar nicht erst so weit kommt. Es braucht unbedingt mehr Täterarbeit, schulische Prävention und Fortbildung von Fachpersonen wie z.B. für Richterinnen und Richter.
Hat der Senat bei der Täterprävention schon viel gemacht?
Es gibt bei weitem nicht ausreichend Täterarbeit in Berlin. Es hat hier leider fachlich niemand so richtig den Hut auf, keine Senatsverwaltung fühlt sich offenbar zuständig. Es gibt nur einen einzigen Verein, der das derzeit bearbeitet.
Unter dem Dach des BIG gibt es nicht nur die Hotline, sondern auch Angebote für Gewaltprävention in Schulen. Da hatte Ihnen der Senat kürzlich 20.000 Euro gekürzt. Was würden Sie gerne anbieten, wenn Sie könnten?
Das Einüben von gewaltfreier Kommunikation ist schon im Kitaalter so wichtig, weil man weiß: Wer in der Kindheit solche Verhaltensmuster erleben musste, trägt ein größeres Risiko, das Verhalten selbst in seine späteren Partnerschaften mit einzubringen.
Wir hatten auch mal ein dreijähriges, stiftungsfinanziertes Projekt Teen Dating Violence. Zurzeit sind wir aber aufgrund unserer begrenzten Kapazitäten nur in den Grundschulen in den Klassen 4 bis 6. Mehr geht nicht. Eigentlich müsste man aufeinander aufbauend von der Kita bis ins höhere Alter Gewaltprävention anbieten.
Doris Felbinger ist Geschäftsführerin beim BIG („Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen“) e. V. Der Verein wurde 1993 gegründet, um häuslicher Gewalt in Kooperation mit allen gesellschaftlichen Kräften entgegenzuwirken.
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