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Was geht in Kinder vor, die sexuelle Gewalt erlebt haben? Wie geht man am besten mit ihnen um? Das erfordert Spezialkenntnisse.
© Jussi Nukari/Lehtikuva/dpa

Gewalt gegen Kinder in der Corona-Krise: „Verletzungen wie bei Autounfällen“

Vieles deutet daraufhin, dass im Corona-Stress die Gewalt gegen Kinder steigt. Die Grünen fordern den Staat auf, seiner Fürsorgepflicht nachzukommen.

Die massiven Indizien für eine Zunahme von Gewalt gegen Kindern in der Corona-Krise alarmieren die Politik in Berlin und im Bund. „Die Zunahme der Anrufe bei der Kinderschutzhotline weist darauf hin, dass sich Befürchtungen bestätigen, wonach im Zuge der Ausgehbeschränkungen und Quarantänemaßnahmen mit einer Zunahme an Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu rechnen ist“, sagte eine Sprecherin des Bundesfamilienministeriums am Freitag. Zuvor war bekannt geworden, dass die Zahl der Anrufe bei der bundesweiten Kinderschutzhotline stark zunimmt. Familienministerin Franziska Giffey (SPD) hat mehrfach erklärt, beim Thema häuslicher Gewalt gegen Kinder sei in Zeiten von Corona das Hellfeld verengt, das Dunkelfeld weite sich aus.

Grünen-Parteichefin Annalena Baerbock warf der Politik Versagen vor: „Der Staat hat eine Fürsorgepflicht für die Schwächsten der Gesellschaft. Daher kann es so nicht weitergehen." Die Situation von Familien gehöre „endlich in den Mittelpunkt der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Folgen", forderte sie. Seit Wochen gebe es einschlägige Warnungen. Sie befüchte, „dass das Ausmaß des häuslichen Dramas für einige Kinder erst so richtig sichtbar wird, wenn die Schulen und Kitas wieder aufmachen", erklärte Baerbock.

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Die Jugendämter sowie die Kinder- und Jugendhilfe müssten mit Tests und Schutzkleidung umfassend ausgestattet werden, um wieder in den direkten Kontakt mit Familien treten zu können. Gleichzeitig müsse alles dafür getan werden, damit Kinder in absehbarer Zukunft wieder vermehrt in die Kitabetreuung und in die Schulen zurückkehren können.

Die Kinderschutz-Hotline - hier in Mecklenburg-Vorpommern - erhält in Zeiten der Corona-Pandemie mehr Anfragen.
Die Kinderschutz-Hotline - hier in Mecklenburg-Vorpommern - erhält in Zeiten der Corona-Pandemie mehr Anfragen.
© Jens Büttner/dpa

„Verletzungen, die sonst nur bei Zusammenstößen mit Autos auftreten“

Die vom Familienministerium initiierten Kinderschutzhotline nannte erstmals Zahlen zur Entwicklung in der Coronakrise. Medizinisches Personal habe das Hilfsangebot in den ersten beiden Mai-Wochen in mehr als 50 Verdachtsfällen genutzt und damit fast so häufig wie im April, sagte Teamleiter Oliver Berthold der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.

„Wir werden teilweise wegen Verletzungen kontaktiert, die sonst nur bei Zusammenstößen mit Autos auftreten. Da geht es um Knochenbrüche oder Schütteltraumata", sagte der Kinderarzt. Betroffen seien besonders Kleinstkinder, die noch nicht selbst laufen können. Der Verdacht liege nahe, dass den Kindern massive Gewalt zugefügt wurde.

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Auch in Berlin berichten nach Angaben der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie die Hotline Kinderschutz und die Krisendienste der Jugendämter, dass die Zahl der Anrufe und Beratungen zunehmen, vor allem von Eltern, die sich nach der lange Ausnahmezeit überfordert fühlten. Einen Anstieg bei den Inobhutnahmen sei bisher dagegen noch nicht verzeichnet worden.

Senatorin Sandra Scheeres (SPD) hatte bereits zu Beginn der Pandemie darauf hingewiesen, dass der Kinderschutz in dieser Ausnahmesituation besonders in den Blick genommen werden müsse und alle Beratungs- und Unterstützungsangebote weiterlaufen. Vor Ostern swar deshalb eine berlinweite Kampagne angelaufen. Im Straßenraum, etwa in BVG-Wartehäuschen, in den sozialen Medien und in Radiospots wurde auf die Hotline Kinderschutz und andere Beratungsstellen hingewiesen.  Die Kampagne habe sicherlich zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für das Thema beigetragen und dazu, dass die Zahl der Anrufe bei der Hotline Kinderschutz gestiegen sind, teilte die Senatsverwaltung mit.

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Auch andere Berliner Politikerinnen und Politiker mit Verantwortung im Jugendschutz warnen vor dem Ausmaß der Gewalt. Seit Beginn der Kontaktbeschränkungen und seit der Schließung von Schulen und Kitas gebe der Kinderschutz in Neukölln „Anlass zur Sorge", sagte Gesundheitsstadtrat Falco Liecke (CDU). Einrichtungen die sonst Fälle von Gewalt meldeten, seien „ausnahmslos verstummt“. Ähnliche Entwicklungen befürchtet auch der Bezirk Mitte. „Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass in der Isolation die Zahl der Übergriffe zugenommen haben könnte“, sagte Jugendstadträtin Ramona Reiser (Linke).

In Brandenburg hingegen gibt es offenbar nicht mehr Gewalt gegen Kinder als in „normalen“ Zeiten. „Wir können derzeit keine erhöhten Fallzahlen feststellen“, sagte die Sprecherin des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport, Ulrike Grönefeld, am Freitag dem Tagesspiegel. „Unsere Jugendämter sind sensibilisiert, die Familien und Kinder präventiv zu schützen.“

Kein spürbarer Anstieg zu verzeichnen - Dunkelziffer vermutlich hoch

Auch die Polizei in Brandenburg sieht bislang keinen spürbaren Anstieg der Gewalt gegen Kinder, auch nicht bei sexuellen Straftaten. Allerdings müsse das nicht heißen, dass nicht mehr passiere, heißt es aus Polizeikreisen. Bis ein Kind mit einer schweren Verletzung bei der Polizei oder beim Rettungsdienst lande, habe es ja oft schon eine lange Leidenszeit hinter sich.

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Bei unterschiedlichen Beratungshotlines in Brandenburg herrscht der Eindruck vor, dass eher die psychische Gewalt gegen Kinder in Corona-Zeiten zunimmt. So berichteten die jungen Anrufer zum einen über einen hohen Leistungsdruck, den die Eltern zuhause bezüglich der schulischen Aufgaben aufbauten und zum anderen von zu wenig Unterstützung. „Viele Kinder erleben auch, dass ihre Eltern nicht mit der Situation klar kommen und selbst große Ängste haben“, sagt die Mitarbeiterin einer telefonischen Beratungsstelle: „Das kann schon sehr verstörend sein.“

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