Ermittler vermuten neue Anschlagsserie: Linke demonstrieren gegen rechten Terror in Neukölln
Eine neue Anschlagsserie ereilt Berlin-Neukölln. Zusammenhänge mit früheren Anschlägen soll es nicht geben. Nun regt sich Protest.
Vor der „Damaskus“-Bäckerei auf der Sonnenallee wird am Freitagnachmittag Baklava verteilt, der Besitzer steht zwischen den Demonstranten. Der lange Demonstrationszug linker Gruppen macht hier einen Zwischenstopp. Der Laden war vergangene Woche Ziel von rechtsextremistischen Schmierereien geworden. Rund 1000 Menschen sind jetzt gekommen, vielleicht mehr.
Die Redner erklären sich solidarisch mit den Besitzern der Bäckerei, protestieren gegen Rassismus und rechtsextremistische Gewalt. Auch Familien mit Kindern stehen auf der Straße. Aus den Fenstern der umliegenden Häuser jubeln die Menschen, die Balkone sind am Freitagabend voll. Immer wieder wird Kritik an den mangelnden Ermittlungserfolgen der Berliner Polizei laut.
Nach dem Brandanschlag auf einen polnischen Transporter und Nazi-Schmiererei an einer syrischen Bäckerei geht die Berliner Polizei vorerst nicht von einem Zusammenhang mit der 2016 begonnenen rechtsextremistischen Anschlagsserie in Neukölln aus.
Einen entsprechenden Bericht des RBB bestätigte die Polizei am Freitag. Die Soko „Fokus“ habe wegen der „Vorgehensweise beziehungsweise der Tatausführung“ bei der Bäckerei keinen klaren Hinweise darauf, dass die Taten in Verbindung zueinander stehen.
Die „Fokus“-Ermittler untersuchen seit Mai 2019 die Serie von Anschlägen, es geht um mehr als 70 Straftaten, darunter mehr als 20 Brandanschläge. Zwar ermittelt der Staatsschutz, weil ein SS-Symbol in Rot an die Bäckerei geschmiert worden war, vor der der abgebrannte Transporter stand.
Allerdings könnten unpolitische Tatmotive derzeit nicht ausgeschlossen werden, hieß es. Auch die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) geht von deutlichen Unterschieden zur bisherigen Anschlagsserie aus, da die Angriffe sich dabei gegen Einzelpersonen gerichtet hätten, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren.
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Die Staatsanwaltschaft hat gegen die beiden in der jahrelangen Anschlagsserie verdächtigen Neonazis Sebastian T. und Tilo P. Anklage erhoben, vorerst nur wegen Schmierereien zur Glorifizierung von NS-Größen.
Im Unterschied dazu richteten sich die jüngsten Anschläge gegen Geschäfte und Gruppen. Im Dezember wurden Nazi-Symbole ebenfalls in roter Farbe an Häuser und Geschäfte geschmiert, im Februar brannte ein Auto, Anfang Juni traf es Lokale in der Wildenbruchstraße.
Neukölln ist nicht der einzige Hotspot rechter und rassistisch motivierter Gewalt in Berlin. Darauf verweist die am Freitag erschienene Broschüre „Berliner Zustände 2019 – Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“. Seit 2006 wird die Broschüre herausgegeben vom Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (apabiz) und der MBR.
Teil der Broschüre ist die Jahresstatistik von „ReachOut“, der Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. 390 Angriffe zählte das Projekt 2019, die höchste Anzahl seit dessen Gründung vor knapp 20 Jahren und eine Steigerung im Vergleich zu 2018 um 26 Prozent. Laut „ReachOut“ waren 55 Prozent der Fälle rassistisch motiviert, mindestens 509 Menschen wurden verletzt und bedroht, darunter 32 Kinder und 31 Jugendliche.
MBR-Chefin Bianca Klose sagte, es bleibe „das Gebot der Stunde, diejenigen zu stärken, aber auch zu schützen, die im Alltag für Menschenrechte und Demokratie einstehen“.